Blauer Diamant

9. FolgeDie nächsten Tage wurden wieder eintöniger. Das Meer war ungewöhnlich ruhig und unser Schiff pflügte durch das fast wellenlose Wasser weiter gen Süden. Ich stand etwas später auf, ging zum Frühstück, machte eine Runde an Deck und noch eine zweite Runde, schaute vergeblich und wider besseren Wissen nach allein reisenden Damen, um ein wenig Unterhaltung zu haben, setzte mich in einen Liegestuhl, wartete auf das Mittagessen, machte danach wieder eine Runde über das Schiff und entspannte mich wieder im Liegestuhl. Hin und wieder kam ich mit anderen jungen Männern ins Gespräch, die sich ebenfalls über den Damenmangel beklagten. Eine weitere halbe Stunde stand ich am Bug des Schiffes und suchte den Horizont ab, aber außer Wasser war nichts zu sehen. Nur ein paar Fische sprangen plötzlich aus ihrem nassen Element, als wollten sie sich ansehen, was da ihr Revier durcheinanderwirbelte. Gott sei Dank gab es bald wieder etwas zu essen, das Abendessen war bereits gerichtet. Nach dem Abendessen setzte ich mich an die Bar zu Freddy und Werner. Babsi war müde und bereits in ihre Kabine gegangen. Heute sah ich ihren vierten Kabinengefährten zum ersten Mal ebenfalls in der Bar sitzen. Er hatte sich eine entfernte Ecke ausgesucht und starrte abwesend vor sich hin. Vielleicht konnten wir ihn aufmuntern. Also gingen wir zu ihm und setzten uns an seinen Tisch. Große Lust zu einer Unterhaltung schien er jedoch nicht zu haben. Entweder, die eintönige Reise hatte ihn etwas depressiv und maulfaul gemacht, oder er war von Hause aus kontaktarm. Wir entlockten dem Fremden nur, dass er Tischlermeister sei und sich in Deutsch-Südwestafrika selbständig machen wollte. Gute Handwerker waren sehr gefragt und so rechnete er sich in der Kolonie gute Chancen aus. Nach dieser Auskunft versank er wieder in Schweigen. Es schien, als würde er lieber hobeln und sägen als reden. Langsam ging auch uns auf dieser Reise der Gesprächsstoff aus. „Oh Gott, ist das langweilig“, meinte Freddy. Es wurde Zeit, dass wir unser Ziel erreichten und neue Abenteuer erleben konnten. Frische SeeluftDas Wetter war immer noch herrlich und die See entsprechend ruhig. Ich schlug meinen Freunden vor, noch an Deck zu gehen und die angenehme Nachtluft zu genießen, aber die beiden wollten nicht mit. Sie hielten nichts von reiner, frischer Seeluft. Die rauchgeschwängerte Luft in Charly’s Bar und insbesondere die große Auswahl an alkoholischen Getränken gefiel ihnen anscheinend besser. Also machte ich mich allein auf den Weg nach oben. Es war ein wunderbarer Abend für romantische Anwandlungen. Der Mond schien hell und die unendlich vielen Sterne funkelten klar am pechschwarzen Himmel. Auf dem Wasser glitzerte das sich in den Wellen brechende Mondlicht. Die Luft war um diese Zeit noch überraschend mild, die leichte Brise war angenehm. Da fiel mir ein, wir fuhren ja dem Sommer entgegen! An Deck gab es offenbar keine freien Liegestühle mehr. Hier draußen waren viel mehr Passagiere, als ich vermutet hatte. Sie lagen alle direkt an der Reling und ließen sich den leichten, angenehmen Wind um die Nase wehen. Im Bugbereich war alles bis auf den letzten Zentimeter besetzt und so versuchte ich mein Glück eben achtern. War auch interessanter als vorn, wo nur unendlich glitzerndes, dunkelblaues Wasser zu sehen war. Hier hinten konnte man die schnurgerade, weiße, vom Mondlicht beschienene Spur des von unseren Schiffsschrauben aufgewühlten Wassers bis zum Horizont zurückverfolgen. Ich nahm mir eine Decke vom Stapel, der an der Ecke zum Achterdeck lag und machte mich auf die Suche nach einem freien Liegestuhl. Und ich hatte Glück. Von drei Liegestühlen, die hier auf dem Achterdeck in einer etwas geschützten Ecke aufgestellt waren, war nur der mittlere besetzt oder besser gesagt, belegt. Und in diesem einen lag zu meiner Freude auch noch, bis an den Hals in eine Decke eingemummelt und das Gesicht in der Armbeuge vergraben, eine anscheinend junge Dame, soweit man das bei diesem fahlen Mondlicht an der Frisur erkennen konnte. Sie schien zu schlafen. Kein männlicher Begleiter weit und breit. Die schöne UnbekannteIch trat geräuschlos etwas näher und betrachtete verstohlen die unbekannte Schläferin. Just in diesem Moment veränderte sie offensichtlich im Schlaf ihre Position und gab dadurch das Gesicht frei. Ich schlenderte leise noch näher an ihren Liegestuhl heran und dann durchlief mich ein freudiger Schauer. Welch ein Glücksfall. In der eingepackten Gestalt erkannte ich meine schöne Unbekannte von Hamburg. Ihr lästiger Anhang war erfreulicherweise nirgends zu sehen. Zwar wunderte ich mich, wieso sie hier allein war und warum sie sich nicht einen Liegestuhl auf dem Promenadendeck ausgesucht hatte, aber mir war die Wahl hier unten sehr recht. Leise und vorsichtig schob ich den freien Liegestuhl auf der dem Gesicht meiner Schönen zugewandten Seite etwas näher an den ihren heran und legte mich so geräuschlos wie möglich hinein, um sie nicht aufzuwecken. Ich war jetzt so nah, dass mich der verführerische Duft ihres sicherlich sehr teuren Parfüms bei jedem kleinen Luftzug streifte. Interessiert betrachtete ich das begehrenswerte Wesen unablässig von der Seite aus meinem Liegestuhl heraus. Meine Nachbarin war schätzungsweise in meinem Alter, vielleicht ein wenig älter, so genau war das bei dem schwachen Licht nicht zu erkennen. In der Dunkelheit erschien mir ihr blass wirkendes Gesicht makellos schön. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte die Details besser erkennen. Die dunklen Haare waren heute offenbar hochgesteckt und über ihren geschlossenen Augen wölbten sich die dunklen Augenbrauen. Unter der geraden Nase lockten volle Lippen. Wie bei Silvia, fiel mir spontan ein. Silvia! Schlagartig wurde mir bewusst, was mir die ganze Zeit fehlte. Silvia, meine Freundin aus Dresden. Ich hatte immer noch nicht an sie geschrieben. Wenn ich nachher in die Kabine komme, werde ich gleich anfangen, nahm ich mir vor. Jetzt war ich endlich in einer romantischen Gemütsverfassung und damit in der Stimmung, ihr zu schreiben, dass ich Sehnsucht nach ihr habe und sie mir fehlt. Ich drehte mich in eine bequeme Stellung und blickte auf dem Rücken liegend in den tiefschwarzen, mit unzähligen funkelnden Sternen übersäten Nacht¬himmel. Was könnte ich ihr noch schreiben? Ich wusste es immer noch nicht, nur, dass ich ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte und begann, sie zu vermissen. Aber das ganze zu Papier bringen war nicht leicht. Ich brauchte einen vernünftigen Anfang. Als erstes eine Entschuldigung? Nein. Vielleicht ,Ich liege an Deck und träume von dir‘. Auch nicht sehr originell. Das musste ich noch ausfeilen. Aber später. Die Sterne flimmerten über mir. Tiefschürfende Gedanken überkamen mich. Ich dachte darüber nach, ob wohl irgendwo da oben auch Lebewesen waren, die ebenso wie ich in den Nachthimmel starrten und darüber sinnierten, ob irgendwo im All weiteres Leben existierte? Und wenn ja, wie sah es dann aus? Gab es Marsmenschen? Waren sie grün? Wurden die auch von Liebesgefühlen geplagt? Man wollte ja auf dem Mars Kanäle entdeckt haben. Vielleicht machte dort oben jetzt zur gleichen Zeit ein Marsmensch eine Schiffsreise auf einem der Kanäle, lag ebenfalls in einem Liegestuhl, träumte von seinem daheim gebliebenen Marsfräulein und überlegte, ob es auf dem nächsten Planeten Erde eventuell auch Lebewesen gab und wie die wohl aussehen könnten und ob sie auch von der Liebe geplagt würden. Wenn es in dieser unvorstellbaren Weite mit Milliarden anderer Sonnen aber kein anderes Leben gab und nur die Erde allein belebt war? Beim Blick in den unendlich erscheinenden, nachtschwarzen Himmel war der Gedanke beängstigend. Sollten wir im Universum die einzigen Lebewesen sein? Dann war es, auf das Weltall bezogen, logischerweise völlig gleichgültig, ob es Menschen auf dem winzigen Staubkorn Erde gab oder nicht. Allerdings war mir das verständlicherweise nicht egal, ich war froh, dass ich da war. Vielleicht war es aber ein im ganzen Universum gültiges Naturgesetz, dass selbst unter ungünstigsten Bedingungen intelligente Makromoleküle gebildet werden müssen und dann wären wir ganz sicher nicht allein. Nur ich war es im Moment und ich litt noch dazu unter Liebesentzug. Die unbekannte Schöne hatte es mir schmerzlich bewusst gemacht. Das Alleinsein war schwer zu ertragen. Ich hätte doch bei Silvia bleiben sollen. Oder sie hätte mitkommen müssen. Jetzt hier mit ihr auf Deck im Liegestuhl, welch romantische Vorstellung. Ich werde nachher ganz bestimmt gleich an sie schreiben.

Blauer Diamant

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-19

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