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Die Beinahe-Revolution: 70 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR

Wütende Proteste, rollende Panzer: Bis zu eine Million Menschen demonstrierten am 17. Juni 1953 in der DDR. Warum ist die kollektive Erinnerung daran bis heute so blass?
Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Berlin


Der 17. Juni 1953, das war nicht nur ein von Arbeitern angezettelter Generalstreik in Ost-Berlin. An 700 Orten der damals erst knapp vier Jahre alten DDR demonstrierten bis zu eine Million Menschen - gegen neue Arbeitsnormen, aber auch gegen die Sozialistische Einheitspartei SED, für freie Wahlen und mehr Wohlstand. Binnen Stunden wurde der Ausnahmezustand verhängt. Sowjetische Panzer und die Volkspolizei rückten aus. Am Ende waren 55 Menschen tot. Mehr als 10 000 wurden verhaftet, 1500 zu Gefängnis verurteilt.

Diese Fakten sind bekannt. Auch zum 70. Jahrestag wird die mutige Beinahe-Revolution wieder gewürdigt. „Der Volksaufstand vom 17. Juni ist ebenso wie die friedliche Revolution 1989 ein herausragendes Ereignis der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte“, sagte kürzlich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Gerade die Menschen in Ostdeutschland können mit Stolz und großem Selbstbewusstsein darauf zurückblicken.“ Und doch bleibt die kollektive Erinnerung daran bis heute seltsam blass.



Bekannt nur aus Erzählungen der Oma

Die Bundesrepublik erklärte den 17. Juni schon 1953 zum Gedenktag, erreichte aber wenig nachhaltiges Interesse - zu verlockend waren meist Badeseen oder Schwimmbäder an diesem freien Junitag. Die DDR wiederum sprach von einem vom Westen gesteuerten faschistischen Putsch - und schwieg dann jahrzehntelang darüber. „Auch durch Weglassen kann man Geschichte manipulieren“, sagt der frühere Bürgerrechtler Frank Ebert, heute Berlins Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. „In der DDR kannte ich den 17. Juni 1953 nur aus Erzählungen meiner Oma.“

Es sind die Zeitzeugen, die die Wucht dieser Massenproteste plastisch machen. Günter Toepfer etwa erinnert sich 70 Jahre später noch glasklar an die Kinderperspektive von damals. Gegen 9 Uhr an diesem Mittwochvormittag kam der Rektor seiner Schule in Jena in die Klasse und schickte die Schüler nach Hause. Toepfer, damals knapp zwölf Jahre alt, ahnte, dass etwas los war.

Das Stalin-Bild und die „tollwütige Frau“

Statt nach Hause lief der Junge in die Innenstadt und geriet mitten hinein in den Aufstand. 20 000 Menschen auf dem Holzmarkt, dazwischen sowjetische Panzer. Die Masse quetschte den Jungen gegen eine der Kriegsmaschinen. „Da fühlt man sich schon sehr schlecht, wenn man vor einem solchen Ungetüm steht“, erzählt der heute über 80-Jährige bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin.

Als beim Sturm auf die Zentralen der Freien Deutschen Jugend und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds kiloweise Akten und Propagandaschriften auf die Straße flogen, witterte der Knirps das Geschäft seines Lebens. Er sammelte fleißig, um das Altpapier zu verhökern. Später wurde ihm dann doch mulmig, die offiziösen Schriften zu verramschen. Stattdessen verbrannte er sie zu Hause im Badeofen.

Eine andere Szene von damals: Aus einem Fenster der Jenaer Gewerkschaftszentrale warf jemand ein Bild des sowjetischen Diktators Josef Stalin direkt vor die Füße des Schuljungen. „Hatte ich ein Glück, dass Stalin nicht mir über die Birne flog“, flachst Toepfer. Dann sah er eine Frau, die wie von Sinnen auf dem Stalin-Bild herumtrampelte. „Ich habe also noch nie eine so tollwütige Frau gesehen, auch später nicht.“



Order aus Moskau für einen „neuen Kurs“

Was brachte die Leute derart auf? Anlass der Proteste war die sogenannte Normerhöhung - für dasselbe Geld sollte zehn Prozent mehr gearbeitet werden. Aber das war nur das letzte Tröpfchen im sprichwörtlichen Fass. Die Einheitspartei SED hatte im Juli 1952, also ein knappes Jahr vor dem Aufstand, den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ beschlossen, so beschreiben es Jens Schöne und Falco Werkentin in einer Übersicht der Ereignisse. Das hieß unter anderem: nationale Streitkräfte, Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Ächtung von privaten Unternehmen und mehr Repressalien, auch gegen die Kirche.

Die Zahl der Häftlinge in den Gefängnissen wuchs laut Schöne und Werkentin binnen weniger Monate von 37 000 auf 67 000. Zudem flüchteten vom Sommer 1952 bis Sommer 1953 rund 300 000 Menschen über die Berliner Sektorengrenze in den Westen. Es fehlten dem jungen Arbeiter- und Bauernstaat bald Arbeiter und Bauern und folglich Lebensmittel und Konsumgüter. Mehr Arbeit, weniger Wohlstand - eine explosive Mischung. Auf Druck der Besatzungsmacht Sowjetunion beschloss die SED schließlich am 10. Juni 1953 einen «neuen Kurs» und gestand Fehler ein. Das machte die Sache aber nicht besser.



Die Menschen witterten Schwäche

„Es war eine Situation, wo man gespürt hat, die Funktionäre sind hilflos, die wissen nicht mehr, was sie machen sollen“, analysiert der Historiker Udo Grashoff. „Niemand konnte erklären, warum die SED eine so völlig komplette 180-Grad-Wende macht.“ Niemand habe gewusst, dass die Order aus Moskau kam. Die Menschen witterten Schwäche. Es fehlte nach Grashoffs Einschätzung nur ein kleiner Anstoß, um die Protestwelle in der ganzen DDR in Schwung zu bringen. Als der Westberliner Sender Rias über Streiks in Ost-Berlin berichtete, war es so weit.

Dass der Westen hinter dem Aufstand steckte, hält Grashoff aber für Unsinn. „Es gibt eher Hinweise dahin, dass der Westen völlig auf dem falschen Dampfer war“, meint der Historiker aus Halle. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer habe „ja noch Mitte des Tages gesagt, dass das wahrscheinlich eine von den Russen inszenierte Demonstration ist, und dass er sich da lieber nicht einmischen will“.

Eine echte Chance hatte der Aufstand nicht, so sieht es zumindest der Berliner Aufarbeitungsbeauftragte Ebert. „Die Sowjetunion wollte ja ihre Einflusssphäre schützen, ihre Truppen standen bereit. Und gegen Panzer kann man mit Steinen nichts ausrichten.“ Erst 1989 brachten Ebert und andere Oppositionelle den Staat ins Wanken, als Moskau und die SED die Truppen in der Kaserne ließen.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-22

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