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Kolonialismus und seine Folgen: Fallstudie Namibia

Otis Steinbach
Koloniale Fremdherrschaft ist heute beinahe universell als große historische Ungerechtigkeit anerkannt und ähnlich einhellig lautet das Urteil in Bezug auf die Folgen, die der Kolonialismus in den unabhängigen, postkolonialen Staaten der Gegenwart entfaltet. Wirtschaftliche Schwäche und Abhängigkeit, ethnische Konflikte und Staatskrisen werden nicht selten auf das historische Erbe der Kolonialherrschaft zurückgeführt. Gerade bei diesem heiklen Thema ist es jedoch wichtig, Meinungen von Tatsachen zu unterscheiden. Welche Folgen also hat der Kolonialismus heute? Wie verhält sich das mit Namibia? Und was sagt die Wissenschaft dazu?

Soziologie des Kolonialismus

Schon von vornherein lässt sich konstatieren: Namibia war, ist und bleibt ein schillerndes Beispiel gelungener Dekolonisierung. Doch welche Rolle spielte der Kolonialismus in dieser Erfolgsgeschichte? Hat er sie behindert oder – im Gegenteil – gar begünstigt? Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Frage gar nicht so leicht zu beantworten, denn die empirische Sozialforschung findet hier nur schwer einen Zugang. Internationale Vergleiche helfen nicht weiter. Namibia und Niger beispielsweise unterscheiden sich in vielen Aspekten, nicht nur in ihrer (kolonialen) Vergangenheit. Und kontrafaktische Szenarios sind schwer überprüfbar. Es gibt kein „alternatives“ Namibia ohne Kolonialgeschichte, mit dem wir das real existierende Namibia vergleichen könnten. Oder doch?

Ein natürliches Experiment

Tatsächlich waren nicht alle Regionen Namibias gleichermaßen einer europäischen Kolonialmacht unterworfen. Die Deutschen zum Beispiel drangen niemals in das nördliche Ovamboland vor. Ihre Macht beschränkte sich auf den Bereich südlich der „Roten Linie“, einem Veterinärzaun, der ab 1907 ganz offiziell die Grenze des unter polizeilichen Schutz der deutschen Regierung zu stellenden Gebietes bezeichnete. Diese Polizeizone wurde auch von den Südafrikanern beibehalten. Gemäß ihrer Homeland-Politik dehnten sie ihren Einfluss indirekt auch auf die nördlichen Gebiete aus, überließen dort aber die Verwaltung weitestgehend traditionellen Stammesoberhäuptern. Süd- und Zentralnamibia dagegen wurde lange Zeit direkt von Kolonialmächten verwaltet, zuerst von Deutschland, danach von der Südafrikanischen Union.

Diese regionalen Unterschiede erlauben eine Art natürliches Experiment: Direkt und indirekt beherrschte Gebiete können so miteinander verglichen werden, um daraus Rückschlüsse auf das historische Erbe des Kolonialismus in Namibia zu ziehen. „Diskontinuitätsanalyse“ nennt sich dieser Ansatz in der Sozialwissenschaft.

So fand Marie Lechler, Doktorandin der Ökonomie, anhand von Umfragedaten des Afrobarometers heraus, „dass Menschen im ehemals indirekt regierten Teil weniger demokratisch eingestellt sind und dass die Wahlbeteiligung in diesem Teil des Landes geringer ausfällt als im ehemals direkt regierten Teil.“ Durch die unausgesetzte Legitimität der traditionellen Stammesoberhäupter, so vermutet Lechler in ihrer Studie, hätten sich die Menschen im Norden stärker an nichtdemokratische Regierungssysteme gewöhnt, im Gegensatz zu der Bevölkerung im Süden, wo die Institution der Stammesführerschaft seit geraumer Zeit nur noch von symbolischer Bedeutung ist.

Der Politikwissenschaftler Lachlan McNamee schließlich veröffentlichte 2019 eine Studie in der Zeitschrift World Development, in welcher er mithilfe derselben Methodik nachweisen konnte, dass Menschen aus dem Norden Namibias häufiger Kontakt zu ihren Stammesoberhäuptern pflegen und dass dort das Häuptlingstum noch eine bedeutendere Rolle bei der Landzuteilung spielt. Im Vergleich zu Namibiern südlich der Roten Linie identifizieren sich Menschen aus diesem Teil des Landes auch stärker mit ihrem Stamm als mit dem Nationalstaat, sie sind also tribalistischer eingestellt.

Diese Ergebnisse bedeuten freilich nicht, dass der deutsche oder der südafrikanische Kolonialstaat demokratisch gewesen wäre. Sie legen allerdings einen – wenn auch indirekten und schwachen – Zusammenhang zwischen kolonialer Durchdringung und der Akzeptanz demokratischer Normen nahe. Die einfache Gleichung, wonach Kolonialismus zu gescheiterten Staaten, autoritären Regierungsformen und blutigen Stammeskonflikten führt, ist auf Namibia offenkundig nicht anwendbar.

Reichtum und Armut

Doch wie steht es um die wirtschaftlichen Verhältnisse? Hat der Kolonialismus die Weißen reich und die Schwarzen arm gemacht? Die Antwort ist ja – und nein.

Es ist allgemein bekannt, dass Namibia ein Land mit einer besonders ungleichen Vermögensverteilung ist. Besonders offensichtlich wird dies bei Betrachtung der Landfrage. Noch immer sind Großgrundbesitzer ganz überproportional weiß. Diese Ungleichheit geht fraglos auf die Kolonialzeit zurück, als Stammesland und -besitz der Eingeborenen im großen Stil aufgekauft oder enteignet wurde.

Das prominenteste Beispiel dürfte die einst wohlhabende Viehhaltergesellschaft der Herero sein, die durch die deutsche Kolonialherrschaft praktisch vollkommen vernichtet wurde. Während der südafrikanischen Besatzung setzte zwar ein allmählicher Repastoralisierungprozess ein, doch auch hier sahen sich die Herero bald mit repressiver staatlicher Kontrolle konfontiert. Der Anthropologe Diego Schwieger zeichnete 2020 die radikalen Eingriffe des Kolonialstaates in das Hirtenwesen der Herero nach. Seine Studie zeigt, dass diese Eingriffe sogar mit Problemen der Gegenwart in Verbindung zu bringen sind, wie zum Beispiel Versteppung und Bodenverschlechterung auf den verbliebenen kommunalen Weideflächen.

Doch die Privatisierung von Land, die mit der Kolonialherrschaft einherging, hatte auch segensreiche Effekte. Das sagt der Politikwissenschaftler Vladimir Chlouba, der sich ebenfalls die Unterschiede zwischen Nord-, Süd- und Zentralnamibia angeschaut hat. Grundbesitz nördlich der Roten Linie sei „weitgehend kommunal und daher nicht handelbar.“ Die Kommerzialisierung der Viehwirtschaft und des Nutzpflanzenanbaus erreiche hier nicht das Niveau des südlichen Namibias und dies schlage sich auch in Wohlstandsunterschieden nieder. Wo einst die Deutschen und Südafrikaner regierten, dort sind heute auch die Wohnbedingungen vorteilhafter: Die Menschen leben öfter in modernen Häusern mit Zugang zu Toiletten und Strom. Sie verfügen auch über ein größeres Haushaltsvermögen und leisten sich häufiger ein Auto, ein Mobiltelefon, einen Computer, einen Fernseher oder einen Kühlschrank. Diese Unterschiede bleiben selbst dann unverändert, wenn man afrikaans-, englisch- und deutschsprachige Haushalte aus der Analyse ausklammert, so Chlouba. Er resümiert, dass sich Haushalte mit privatem Grundbesitz eher von der Bedarfswirtschaft ab- und dem Markt zuwenden. „Wir stellen ferner fest, dass ein stärker kommerzialisierter landwirtschaftlicher Anbau zu einem höheren Lebensstandard der einzelnen Haushalte führt.“

Schlussbetrachtung

Worin also besteht das Erbe des Kolonialismus in Namibia? Es ist kompliziert. Einerseits wurden tradierte Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme der Eingeborenen durch den Kolonialstaat bekämpft, umgekrempelt und teilweise vernichtet, die Siedler dagegen in unfairer Weise begünstigt. So erklärt sich zumindest zum Teil die große Ungleichheit im Land. Auf der anderen Seite wäre ein demokratisches, einiges und modernes Namibia, so wie wir es heute kennen, ohne Kolonialismus nicht vorstellbar. Dieses differenzierte Urteil ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss und wird es auch nicht jeden zufriedenstellen; doch entspricht es dem Stand der jüngeren Sozialforschung.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2025-01-15

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