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„Warte, Warte, noch ein Weilchen ...“

Ein schauriges Jubiläum: Deutschlands berühmtester Serienkiller wurde vor 100 Jahren überführt
Fritz Haarmann – er ist der berühmteste deutsche Serienkiller. Vor hundert Jahren wurde er überführt. Aber er war nicht der Einzige: Im gleichen Zeitraum wurden die Taten Carl Großmanns und Karl Denkes bekannt. Zugleich erlebte der deutsche Staat 1923 eine existenzbedrohende Krise: Hitlerputsch, Hamburger Aufstand der Kommunisten und Hyperinflation. War das Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen Staatsversagen und dem Auftreten von Massenmördern?
von Christian Saehrendt
von Christian Saehrendt

Als die Taten Großmanns (über zwanzig Morde an Prostituierten und allein reisenden Frauen in Berlin-Friedrichshain), Denkes (etwa dreißig Morde an Landstreichern und Wanderarbeitern in Schlesien) und Haarmanns (mindestens 24 Morde an Obdachlosen und männlichen Prostituierten in Hannover) bekannt wurden, befand sich die deutsche Gesellschaft in einer schweren Krise. Alle drei hatten dutzende junger Menschen getötet und z. T. verspeist. Haarmann allerdings wurde der „populärste“ dieser Täter – das Lied „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir“ ist heute noch bekannt. Dies lag daran, dass sein Prozess vor dem Schwurgericht Hannover, der vor 100 Jahren stattfand, zu einem makabren Unterhaltungsevent mit breiter Medienflankierung wurde. Das „Monster“ Haarmann wurde zum Vorläufer jenes morbiden Interesses an Serienkillern, das heute durch zahllose Filme, TV-Serien und Krimis bedient und „kultiviert“ wird. Die Stadt Hannover ging bislang zurückhaltend mit diesem schwierigen Erbe um – allein die Fußballfans von Hannover 96 schwenkten einige Jahre lang eine Haarmann-Flagge, um ihre Gegner zu schocken. Ansonsten fallen die Haarmann-Feierlichkeiten auch in diesem Jahr diskret aus – von einigen touristischen Angeboten abgesehen.

Im eng bebauten Altstadtviertel Calenberger Neustadt und rund um den Hauptbahnhof war Haarmann eine ambivalente „Graue Eminenz“. Der homosexuelle Kleinkriminelle hatte Unterschlagungen, Diebstähle, Einbrüche und Hehlereien auf dem Kerbholz, die zu zahlreichen Verurteilungen führten und ihn in den Spitzeldienst der Polizei lockten. Auch war er seit 1912 wegen sexueller Übergriffe auf Jungen aktenkundig. Die Wohnungen, vor allem in den Mansarden, waren oftmals nur holzkäfigartige Verschläge. Viele Häuser verfielen, und die Gegend war in der Nachkriegszeit mehr und mehr zu einem ‚Verbrecherviertel‘ geworden. Haarmann lebte vom Handel mit Altkleidern und Fleischkonserven. Ab 1918 wurden die Gartenanlagen um das Café Kröpke zum Hotspot männlicher Prostitution – ein Areal, in dem Haarmann ebenfalls häufig zirkulierte. Sein eigentliches Revier war aber die Wartehalle im Hauptbahnhof, in der er mit einem selbst ausgestellten, aber auf viele Menschen amtlich wirkenden Detektei-Ausweis patrouillierte. Die Wartehalle diente Obdachlosen, Arbeitslosen, unbegleiteten Kindern und Ausreißern als Zufluchtstätte. Haarmann machte sich die verzweifelte Situation von Jugendlichen und jungen Männern zunutze und bot ihnen gegen sexuelle Gefälligkeiten Unterschlupf an.

So schaffte es Haarmann, der von den Jungen „Onkel Fritze“ und von den Erwachsenen respektvoll „Kriminal-Haarmann“ genannt wurde, in seinem Viertel als eine Art „besserer Herr“ und „Wohltäter für Obdachlose“ zu erscheinen. Seine Wohnung wurde von Zeugen als geselliger Ort von Ess- und Trinkgelagen wahrgenommen. Zugleich aber diente sie als Tatort, an dem Haarmann seine Sexpartner tötete und anschließend zerstückelte. Seine Opfer waren zwischen zehn und zwanzig Jahre alt. Ihm kam dabei zugute, dass mittellos umherreisende Jugendliche erst mit großer Verspätung von ihren Angehörigen als vermisst gemeldet wurden.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Serienmördern und akuten politisch-ökonomischen Krisen?

Die Serienmorde von Haarmann und Konsorten wurden damals im Kontext beunruhigender Tendenzen wahrgenommen: einem (vorübergehenden) Anstieg der Mordrate in den Jahren 1921 bis 1924, einer Unterfinanzierung der Polizei, einer Zunahme der sichtbaren Prostitution und der armuts- und migrationsbedingten Fluktuation in den Großstädten. In der Figur des „Monsters“ Haarmann gipfelte das Krisen- und Katastrophenbewusstsein jener Jahre, der „Untergang des Abendlandes“ – so der Titel eines damaligen Bestsellers – schien jetzt in Sichtweite zu sein. Gesellschaft und Staat der Weimarer Republik befanden sich ohne Zweifel in der Krise, doch diese Krise war zum guten Teil eben nur „gefühlt“ und wurde propagandistisch von Extremisten bewirtschaftet.

Dies galt vor 100 Jahren genauso wie heute. Mangelnde Fahndungserfolge oder langjährige Untätigkeit der Ermittlungsbehörden konnten und können als Staatsversagen interpretiert und politisch ausgenutzt werden – in der Regel von rechtsextremen Kräften. So wurden und werden spektakuläre Verbrechen und steigende Kriminalitätsraten dem herrschenden politischen System angelastet. Nazis und Monarchisten verstanden es damals, die erste deutsche Republik mit Inflation, Verarmung, Verbrechen und Chaos zu assoziieren und führten später den abwertenden Begriff der „Systemzeit“ ein, die alles Schlechte der Moderne in sich vereint haben soll. Dieses Muster ist in gewisser Weise zeitlos, wie der Vergleich mit dem Untergang der Sowjetunion und dem zeitgenössischen Russland anzeigt. Auch das Russland der 1990er Jahre wurde von Serienmorden erschüttert. So tötete Alexander Spessiwzew mit Hilfe seiner Mutter in der sibirischen Stadt Novokusnezk zwischen 1991 und 1996 mindestens 19 Frauen. Der Polizist Michail Popkow ermordete zwischen 1992 und 2010 nachweislich 78 Menschen im Dienst. Andrei Tschikatilo fielen bis 1990 mindestens 53 Menschen zum Opfer: Ausreißerinnen, Obdachlose und Prostituierte. Damals war die postsowjetische Gesellschaft von diesen Untaten noch geschockt. Alkoholismus, Gangsterherrschaft und familiäre Gewalt schienen nach der Auflösung der UdSSR maßlos geworden zu sein, der neue demokratische Staat wirkte schwach, die Bevölkerung war schutzlos. Die Erinnerung an die Serienkiller wird bis heute in Russland mit dem Stigma der chaotischen Jelzin-Jahre verbunden. Mittlerweile hat sich die Haltung dazu verändert: Heute dürfen auch Serienmörder auf Rehabilitation hoffen, wenn sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen. So wurde der Wagner-Söldner Denis Gorin von Putin begnadigt. Er hatte mindestens vier Menschen ermordet und z. T. gegessen, neun weitere Opfer werden vermutet. Auch der kannibalistische Vierfach-Mörder Nikolai Ogolobyak kam nach seinem Fronteinsatz frei.

Sowohl in der Weimarer Republik als auch im Russland der Jelzin-Ära zeigte sich: Die Serienkiller kommen nicht mit dem gesellschaftlichen Zusammenbruch, sie sind schon vorher da. Die Mordserien beginnen oftmals weit vor dem politischen Systemwechsel, also noch in der jeweiligen stabilen „guten alten Zeit“ des Kaiserreichs und der Sowjetunion. Die Täter suchten ihre Opfer stets gezielt in der Unterschicht und im Prekariat: Mittellose junge Frauen, Prostituierte, Obdachlose. Alles Opfer, die – unabhängig vom jeweiligen politischen System – nicht im Fokus des öffentlichen und polizeilichen Interesses stehen und kaum Fahndungsdruck erzeugen. Die Brutalisierung und rasche Verarmung der Gesellschaft infolge des Ersten Weltkriegs oder des sowjetischen Zusammenbruchs sind allenfalls verstärkende Faktoren des Geschehens – die schwindende soziale Kontrolle erleichtert den Tätern die Fortsetzung ihrer Mordserien. Und schließlich: Die kriminelle Energie und Expertise der Serienkiller wird nach einem antidemokratischen Systemwechsel nicht etwa sanktioniert, sondern genutzt und gesellschaftlich honoriert: Ob heute an der Front in der Ukraine oder damals im Holocaust, wo in bisher beispielloser Weise „ganz normale Männer“ auf dem Dienstweg Serienkiller werden durften und der Massenmord zur Staatsräson wurde.

„100 Jahre Haarmann“ – Veranstaltungen in Hannover 2024

Theaterstück im Brauhaus Ernst August „Ich, Fritz Haarmann – das Original“ (ab 7. 2.)

Stadtführung „Und ab und zu war einer tot.“ (ab 17. 3.)

Segway-„Mördertour“ (ab 6. 5.)

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-22

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