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Zehn Jahre nach Olympia

Was macht der inhaftierte Oscar Pistorius?
2012 wurde der südafrikanische Spitzensportler Oscar Pistorius bei Olympia gefeiert. 2013 erschoss er seine Freundin. Er wurde wegen Totschlags verurteilt. Jetzt hofft Pistorius auf Bewährung.
Von Kristin Palitza, dpa Pretoria
Von Kristin Palitza, dpa

Pretoria

Wäre die Lebensgeschichte von Oscar Pistorius ein Filmdrama, würden es viele wohl als unglaubhaft abtun. Ein internationaler Spitzensportler auf dem Zenit seiner Karriere stürzt tief ab: Nach einer fatalen Nacht wird aus der gefeierten Ikone ein verschmähter Totschläger. Pistorius und seine damalige Freundin Reeva Steenkamp wurden in südafrikanischen Medien als Traumpaar bejubelt: Der erfolgreiche, ehrgeizige und markante Sportstar mit dem bildhübschen Model mit Jurastudium am Arm. Sie waren Teil der Elite des Landes, feierten wilde Partys. Doch was der Öffentlichkeit wie ein Märchen schien, wurde in den eigenen vier Wänden zum Alptraum.

In der Nacht des Valentinstags 2013 tötete Pistorius die damals 29-jährige Steenkamp in seiner Villa in der Hauptstadt Pretoria. Wenige Stunden später wird er verhaftet. Ein über viele Monate andauernder Prozess beginnt, der überall auf der Welt für Aufmerksamkeit sorgt. Die Welt lernt einen traumatisierten Pistorius in Tränen kennen, so sehr in Schock, dass er sich im Gerichtssaal übergibt. Doch je mehr das Gericht die Abläufe der tödlichen Nacht aufdröselt, desto größer das Entsetzen der Öffentlichkeit.

Steenkamp war mit vier Schüssen durch die geschlossene Tür einer kleinen Toilette erschossen worden. Pistorius sagte aus, er habe mehrfach gefeuert, weil er hinter der Tür einen Einbrecher befürchtet habe. Doch die Beweislage sprach gegen ihn. Nach einem Gerichtsfahren durch mehrere Instanzen wurde er wegen „Mordes“, was im deutschen Rechtssystem dem Totschlag entspricht, zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt. Für viele Südafrikaner wurde Pistorius zur Hassfigur.

Vor der Tat, die alles änderte, hatte Pistorius buchstäblich ein goldenes Leben. Bei den Paralympischen Spielen hatte er auf eigens angefertigten Karbon-Prothesen sechs Goldmedaillen gewonnen. Pistorius waren als Kind wegen eines Gen-Defekts beide Beine unterhalb der Knie amputiert worden. Die L-förmigen Spezial-Prothesen, mit denen er seinen Mitstreitern davonsprintete, verpassten ihm den Spitznamen Blade Runner.

Es war die Geschichte eines Mannes, der trotz widriger Umstände mit Ambition und harter Arbeit Großes vollbrachte. Im Jahr 2012 erreichte er dann sein ehrgeiziges Ziel: Als erster beidseitig beinamputierter Sportler nahm Pistorius an den Olympischen Spielen teil.

Am 4. August 2012 erreichte Pistorius über das 400-Meter-Einzel das Halbfinale. Er belegte bei den Spielen außerdem mit seinen Teamkameraden in der 4-x-400-Meter-Staffel der Männer Rang sieben. Stolz lief Pistorius mit der südafrikanischen Flagge um die Schultern durch das Londoner Stadion. In Südafrika feierte man ihn als Helden.

Nun sitzt der heute 35-Jährige schon seit neun Jahren hinter Gittern. Ein Jahr nach seiner Verurteilung plädierte ein von der Verteidigung beauftragter psychologischer Gutachter für mildernde Umstände. Pistorius sei depressiv, paranoid und leide an einem post-traumatischen Stresssyndrom. Der gefallene Star präsentierte sich als gläubiger Christ, der Reue zeige und eine Chance zur Resozialisierung verdient habe. Doch das Gericht blieb ungerührt.

Bald darauf verschwand Pistorius nahezu komplett aus dem Rampenlicht. Seine Familie sowie die Eltern der ermordeten Steenkamp, Barry und June, halten sich von der Öffentlichkeit fern. Interviews geben sie so gut wie nie. Vor vier Jahren erzählte Vater Henke Pistorius der britischen Zeitung „The Times“, sein Sohn habe im Atteridgeville-Gefängnis außerhalb Pretorias, in dem er seine Zeit absitzt, einen neuen Sinn im Leben gefunden. Er leite eine Gebetsgruppe und Bibelstudien für Häftlinge. Der ehemalige Sportler habe einen „positiven spirituellen Einfluss auf seine Mitinsassen“, gebe ihnen Hoffnung und nehme oft eine Vermittlerrolle an, wurde Henke Pistorius zitiert. Auch einen eigenen Gemüsegarten hat Oscar Pistorius demnach im Gefängnis anlegen dürfen.

Heute ist Pistorius' größte Hoffnung eine baldige Entlassung auf Bewährung. Ursprünglich war dies erst ab März 2023 vorgesehen. Doch im Juni leitete das südafrikanische Justizministerium einen Opfer-Täter-Dialog mit den Steenkamps ein, eine der Auflagen für ein Bewährungsersuchen. Die Steenkamps hätten sich nur widerwillig zu dem Treffen bereiterklärt, sagte die Sprecherin der Steenkamp-Familie, Anwältin Tania Koen, der Deutschen Presse-Agentur.

Dem lokalen Fernsehsender eNCA sagte Koen Ende 2021, die Eltern des Opfers „fühlten den Schmerz noch immer täglich“. Die Steenkamps bräuchten Zeit, um sich emotional auf das eigentlich unerwünschte Treffen vorzubereiten. Pistorius' Vater sagte derweil, die Familie des Ex-Sportstars fühle mit den Steenkamps.

Vergangenes Jahr schrieb Pistorius einen Brief an die Steenkamps, den diese in einem seltenen Exklusiv-Interview während der britischen TV-Show „Good Morning Britain“ als „erschütternd“ bezeichneten.

June und Barry Steenkamp haben über die Jahre immer wieder betont, dass sie den Tatverlauf, den Pistorius während des Gerichtsverfahrens schilderte, nicht glauben. Er habe keine Reue gezeigt, seine Version der Geschehnisse dreimal unter Eid geändert, beklagte June Steenkamp in dem Interview. Zwar habe sie Pistorius aufgrund ihres christlichen Glaubens vergeben, sagte June Steenkamp, doch wirklich verzeihen kann sie ihm wohl nicht. Eine Entschuldigung reiche nicht aus, fügte die Mutter hinzu. Sie wolle die Wahrheit wissen.

Am 22. Juni war es soweit: Pistorius traf erstmals seit seiner Verurteilung auf Barry Steenkamp. Dafür wurde er kurz in ein Gefängnis in Port Elizabeth in der Ostkap-Provinz verlegt, wo die Steenkamps wohnen. Doch was hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, blieb geheim. Kommt die volle Wahrheit jemals ans Licht?

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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