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Als hätte Camus die Corona-Pandemie 2021/22 selbst erfahren

Diese Buchbesprechung betrifft keine Neuerscheinung sondern das klassische Werk des Nobelpreisträgers Albert Camus. Sein Roman „La Peste“, ursprünglich 1941 verfasst und 1947 erschienen, 1950 gefolgt von der deutschen Ausgabe, besticht durch estaunliche Aktualität und nüchterne Klarheit, als ob der Autor zu Beginn der 40-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts mitten in der Corona-Pandemie von 2020/2022 gestanden hätte. Aber auch ohne zeitgenössische Parallele dient das Werk als Textbuch für eine intensiv existenzialistische Auseinandersetzung mit den Zerreißproben der menschlichen Gesellschaft wie 1964 bei einem Wochenendseminar der christlichen Akademie in Gordons Bay, Kapstadt, behandelt.

Berührungsangst

Mitten in der Corona-Zeit im südlichen Afrika, 2020 – 2022, hatte die Universität von Kapstadt im Rahmen der jährlichen „Summer School“ das Werk „Die Pest“ von Albert Camus mit fünf Vorträgen von Prof. Hedley Twidle prominent auf das literarische Programm gesetzt. Und zum ersten Mal wurde die Summer School infolge der Covid-Beschränkungen und -Ängste nur über das Internet angeboten. Persönliche Präsenz auf dem Kampus war gesperrt. Die Beschränkungen wurden erst im Januar 2022 wieder aufgehoben, aber die Teilnehmer sind in diesem Jahr immer noch aus Berührungsangst nur spärlich erschienen. Ein reichliches Drittel des vielseitigen Programms an Vorlesungen über drei Wochen mussten die Veranstalter absagen, da selbst Anmeldungen für die simultan laufende Internet-Übertragung zu spärlich eingegangen waren.

Beulenpest

Prof. Twidle hat das Werk aus aktuellem Anlass der weltweiten Corona-Pandemie für gelinkte Interessenten per Internet behandelt. Camus´Roman beschreibt die mittlere algerische Großstadt Oran zur Zeit des französischen Kolonialregimes, in der eine furchtbare Seuche ausbricht. Zur Zeit der Niederschrift des Werks war Frankreich von den Truppen des deutschen NS-Regimes besetzt, es gibt jedoch keine Anspielung auf eine staatspolitische Regierungsebene. Camus behandelt fiktiv den Ausbruch der Beulenpest, die sich zunächst durch Ratten ankündigt, die mit eiternden Nasen in den Treppenhäusern der Wohnungen verrecken und entsorgt werden. Ein Hauswart verdächtigt erst Lausbuben der Nachbarschaft, dass sie ihm die toten Ratten auf die Treppe gelegt hätten. Da erfasst die Pest die Menschen und über der Stadt wird die totale Sperre (lockdown) verhängt. Die Stadt richtet Absonderungslager ein. Es gibt Quarantäne-Regeln und an bestimmten Stellen tragen die Leute Mund- und Nasenmasken. Zwei Ärzte ringen um ein effektives Serum.

Der Arzt, Dr. Bernard Rieux, Hauptfigur im Kampf gegen die Pest, und Erzähler der Handlung in der dritten Person, setzt sich bei den Patienten bis zur totalen Erschöpfung ein, wird von Camus jedoch nicht als Held gefeiert. Prof. Hedley bezeichnet den packend, meisterhaft verfassten Roman als die „Psychopathologie einer Bevölkerung, die von einer Seuche attackiert wird, deren Ansteckungsgefahr die Leute kaum begreifen. Die Pest ist schlichtweg der verschärfte Zustand der Sterblichkeit ... Ein medizinischer Thriller/Schauergeschichte.“ In der dritten Pestwoche gibt es schon 302 Tote. Die Befürchtung wird laut, dass es kaum genug Lebende geben würde, die Toten zu begraben.

Wie werden die Leute damit fertig?

Der Leser erfährt lebhaft, wie sich Personen verschiedener Berufe und unterschiedlichen Alters, deren Wege sich immer wieder kreuzen, auf die Pest einrichten und wie sich ihre Haltung und existenzielle Ausrichtung im schier unabänderlichen Verlauf teils bis in den depressiven Stoizismus ändern kann. Es treten auf Raymond Rambert, der Journalist, der durch die Sperre die verpestete Stadt nicht mehr verlassen kann, wo er recherchieren wollte, wie es um die Araber steht; Direktor Mercier vom „Entrattungsdienst“ ist überfordert; der Rathaus-Angestellte Joseph Grand und der Untersuchungsrichter Othon plagen sich mit persönlichen Sorgen. Dann der kleine Rentner, Weinhändler und Selbstmordkandidat Cottard, der sich sonderbarerweise „bedeutend wohler fühlt, seit wir die Pest bei uns haben“.

Camus lässt den Jesuitenpater Paneloux zeitlich getrennt zwei Predigten halten, die erste über den Pestheiligen St. Rochus. Er knüpft zunächst an die biblische Pest bei den Ägyptern an, als göttliche Strafe, bleibt aber nicht bei der Deutung. Prof. Hedley erklärt zum Auftritt Pater Panelouxs: „Die Religionsfrage sollte im Roman ernst aufgenommen werden, obwohl es sich im säkulare Verkündigung handelt.“ Camus befindet sich auf dem Weg zu einem nachchristlichen Menschen.

Ein Nachtportier sagt: „Sogar die, die sie (die Krankheit) gar nicht haben, tragen sie im Herzen.“ Der Hotelier von Oran beklagt die Pest als das Ende des Fremdenverkehrs. Für Dr. Rieux ist die Wahrheit, die Pest bekämpfen zu müssen, nicht bewundernswert, nur folgerichtig. Der chronologische Handlungsablauf beginnt im April eines Jahres und endet zehn Monate später ca im Januar im Jahr darauf, wenn die Pest abebbt, die Ratten zurückkehren und nicht mehr verrecken. Wie die Stadt Oran ist der Leser nach Abschluss der Pest-Lektüre auch ziemlich erschöpft – „in der neuen Normalität“, wie die ausklingende Corona-Phase im südlichen Afrika genannt wird.

Auslegung

Der Dozent Hedley hat in der fünfteiligen Vorlesung zu Camus etliche Auslegungen erwähnt, die andere Literaten in der „Pest“ erkennen wollen. Darunter die Interpretation, dass das Werk auf die Besetzung Frankreichs durch Hitler-Deutschland gemünzt sei, die vier Jahre dauerte. Viele Regierungen der 30-iger und 40-ger Jahre hätten den Faschismus als solchen gar nicht erkannt. Oder, „Die Pest“ als Allegorie der Gesellschaft der Franzosen als Kolonisten in Algerien, wo der anti-koloniale Kampf rund 400 000 Opfer gefordert hat. Hedley hat keine der Sichtweisen empfohlen, sondern hat sich an die Linie des „konstruktiven Pessimismus“ gehalten, „dem es um ethische Maßstäbe geht“, wie es im Buchdeckel des Herausgebers steht.

Camus, ein Zeitgenosse von Jean-Paul Satre und Frantz Fanon, mit denen er nicht unbedingt übereinstimmte, hat ein zeitlos relevantes Werk hinterlassen, das in der Corona-Zeit eine erstaunliche Aktualität ausstrahlt. Die beiläufige Bemerkung „Alles schon ´mal dagewesen“ ist hier fehl am Platz. Tiefe und Scharfsinn der differenzierten Schilderung der Pest in Oron stellen ein umfassendes Zeugnis einer Gesellschaft unter Stress dar. Das Werk eignet sich nicht als Gute-Nacht-Schmöker und sollte möglichst zügig gelesen werden.

Eberhard Hofmann

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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