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Afghanistans Schicksalsfrage
Afghanistans Schicksalsfrage

Afghanistans Schicksalsfrage

Friedensverhandlungen mit den Taliban
Claudia Reiter
Von Arne Bänsch, Ansgar Haase, Carsten Hoffmann, dpa
Kabul, Brüssel, Berlin

„Egal wie hoch ein Berg auch sein mag, ein Pfad führt zur Spitze“, sagt ein afghanisches Sprichwort. Die Afghanen selbst allerdings waren in der vergangenen Zeit vom Weg abgekommen, über vier Jahrzehnte mussten sie Blutvergießen, Leid und Brutalität ertragen. Der Konflikt gilt als tödlichster der Welt. Nun aber keimt Hoffnung auf ein Ende: Erstmals wollen sich Taliban und Vertreter der Regierung an einen Tisch setzen. Die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren. Auch Diplomaten sind bereits in der katarischen Hauptstadt Doha eingetroffen, wo der Auftakt mit Spannung erwartet wird.
Zuletzt ging der Konflikt in Afghanistan brutal weiter, ein Gefangentausch, der eigentlich Vertrauen aufbauen sollte, war immer wieder ins Stocken geraten. Beide Konfliktparteien betrachten ihn nun als abgeschlossen. Doch die Freilassung einiger weniger Taliban, die auch Nato-Soldaten getötet haben sollen, führte zu Komplikationen. Sie sollen nun zunächst unter Hausarrest gestellt werden, damit der Start der Friedensgespräche in den kommenden Tagen beginnen kann.
Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Vereinigten Staaten mit den Taliban ein Abkommen unterzeichnet hatten. Die USA wollen ihre Soldaten abziehen, im Gegenzug sollen die Taliban garantieren, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgeht. Der Deal verpflichtete die Islamisten auch zur Aufnahme innerafghanischer Friedensgespräche. Die Positionen der Konfliktparteien könnten kaum unterschiedlicher sein, und doch haben sie ein gemeinsames Ziel: Beide Seiten sagen, dass sie den blutigen Konflikt beenden wollen.
In den Verhandlungen geht es aber um weit mehr als nur ein Ende der Gewalt. Am Ende könnte ein Land mit einem völlig neuen politischen System entstehen. So fordern die Taliban eine rein islamische Regierung, ohne genauer zu definieren, wie sich diese von der derzeitigen Islamischen Republik Afghanistan unterscheiden soll. Wahlen lehnten die Islamisten bisher ab, Afghanistans Regierung hingegen hat die Republik als unverhandelbar erklärt.
Das Verhandlungsteam der Regierung hat einen Waffenstillstand mit den Taliban zur obersten Priorität gemacht. Masum Staneksai, treuer Anhänger der Regierung unter Präsident Aschraf Ghani, Ex-Geheimdienstchef und Friedensdiplomat, führt das Verhandlungsteam aus Kabul. Seit Wochen bereitet sich das Team akribisch vor. Der Auftakt der Verhandlungen in Doha, wo die Taliban ihr politisches Büro unterhalten, gilt als „eisbrechende Phase“, sagte eine der wenigen Diplomatinnen aus dem Team.
Die Positionen der Islamisten leitet Scheich Maulawi Abdul Hakim, der spät und überraschend als Verhandlungsführer der Talibandelegation angekündigt wurde. Ihre politische Agenda bleibt schleierhaft. Während die Islamisten ihre friedlichen Absichten erklären, herrscht intern eine andere Sprache. Der Abzug der Nato-Soldaten nach dem Abkommen mit den USA wird vor den Kämpfern etwa als Sieg über eine Besatzungsmacht gefeiert, Afghanistans Regierung wurde bis zuletzt oft noch als „Marionette des Westens“ bezeichnet. Dass die Gespräche nun beginnen, ist das wichtigste Zugeständnis, dass die Amerikaner den Taliban im Gegenzug für ihren Abzug abringen konnten.
„Die Taliban schöpfen ihre Macht aus ihrer militärischen Stärke“, erklärt Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. „Aus ihrer Sicht ist die Gewalt ein Druckmittel in den Verhandlungen.“ Denkbar wäre statt einer Waffenruhe daher, dass sich die Konfliktparteien zunächst auf eine defensive Haltung einigen, nicht in Gebiete des Gegners vorzudringen. Kompromisse zwischen Taliban und der Regierung seien durchaus vorstellbar. „Die größte Übereinstimmung besteht darin, dass beide Parteien ein politisches System auf der Grundlage islamischer Werte anstreben“, sagt Ruttig.
Deutschland und die anderen Nato-Partner der USA beobachten die Entwicklungen mit einer Mischung aus vorsichtigem Optimismus und Sorge. Auf der einen Seite hoffen sie, dass die von den Amerikanern angestoßenen Entwicklungen wirklich zu einem nachhaltigen Friedensprozess führen. Auf der anderen Seite gibt es weiter die Befürchtung, dass es US-Präsident Donald Trump bei seinem Engagement am Ende nur darum geht, noch vor der US-Präsidentschaftswahl im November einen vollständigen Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan anordnen zu können - um sein Versprechen zu erfüllen, den längsten Krieg in der Geschichte Amerikas zu beenden.
Sollten sich die Amerikaner komplett zurückziehen, müsste höchstwahrscheinlich auch der Nato-Ausbildungseinsatz in Afghanistan sofort beendet werden. Auch das deutsche Einsatzkontingent im Norden Afghanistans ist auf die Unterstützung der US-Streitkräfte angewiesen. In der Nato besteht die Sorge, dass es im schlimmsten Falle eines Rückzugs schnell wieder zu einer Destabilisierung des Landes und zu Rückschritten bei Demokratie und Menschenrechten kommen könnte. Das fast zwei Jahrzehnte lange Nato-Engagement in Afghanistan könnte so umsonst gewesen sein - auch für die Bundeswehr, die seit Beginn des Einsatzes bereits 59 Soldaten verloren hat.
Beobachter sagen, eine Konfrontation mit der Staatengemeinschaft läge nicht im Interesse der Taliban, um nicht die weiter notwendige Entwicklungshilfe zu gefährden. Experten wie Ruttig befürchten, dass in den Verhandlungen in Doha das Mitspracherecht von Minderheiten zu kurz kommt. „Man sieht sehr viele Lippenbekenntnisse bisher“, sagt Ruttig. „Meine größte Sorge ist, dass die demokratischen Elemente zurückgedrängt werden und Afghanistan noch konservativer, noch islamischer wird.“ Frauenrechtler und Aktivistinnen in Kabul fürchten, dass ein Deal mit den Taliban zu ihren Lasten geht.
Die Grundlage für einen vollständigen Abzug der Amerikaner soll bereits in den kommenden Wochen gelegt werden. Ein Vertreter der US-Regierung unterrichtete die Bundesregierung am 8. August darüber, „dass die USA bis Ende November 2020 eine Truppenreduzierung in Afghanistan auf knapp unter 5000 Soldatinnen und Soldaten durchführen werden“. Zuletzt waren noch etwa 8600 US-Soldaten in dem Land.
Auf das Engagement der Bundeswehr im Nato-Ausbildungseinsatz Resolute Support soll die weitere Reduzierung des US-Truppenpräsenz vorerst allerdings keine Auswirkungen haben. Aus Sicht der Bundesregierung könne die Bundeswehr damit ihr Engagement im Norden des Landes ohne entscheidende Einschränkungen fortführen. Aber auch der Rückzug wird schon vorbereitet. Dazu wurde bereits - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - eine Rückverlegungsorganisation in Afghanistan aufgebaut. Sie wird von November an einsatzbereit sein und kann Feldlager ab- oder umbauen sowie Material und Maschinen für den Rücktransport bereit machen.
Für den Fall, dass der Friedensprozess in Gang kommt, hat Washington den Taliban in Aussicht gestellt, dass die US- und Nato-Truppen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abgezogen sind.
Doch auch wenn es dazu kommt, die Terrorgefahr wird vermutlich bleiben, warnen Experten. Sie gehen davon aus, dass Gruppen wie der Islamische Staat Zulauf von Talibankämpfern erhalten könnten, die eine zivile Einigung mit der Regierung ablehnen. Dann müssten einst verfeindete Talibankämpfer und Soldaten der afghanischen Armee Seite an Seite kämpfen.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-22

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