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Aus der Savanne zum Fünffach-Weltmeister

Von Simon Kunert, Walvis Bay Mit Wucht hämmern die Fäuste auf den Boxsack ein. Kurze Pause, der Sack schwingt zurück und der Hagel der Fäuste beginnt erneut. Eine linke, eine rechte, zwei linke, zwei rechte. Unermüdlich drischt Julian Müller auf sein Trainingsgerät ein. Sein Blick immer auf die Mitte des Sackes konzentriert. Schweiß rinnt ihm von der Stirn. Unter seinem engen schwarzen Funktionsshirt zeichnen sich definierte Muskeln ab. Dampf steigt auf. Mit dem Oberkörper weicht er dem schwingenden Sack aus. Seine nackten Füße tänzeln über die Gummimatten, die den Garagenboden bedecken. Hin und wieder streut er krachende Tritte ein. Nach zehn Minuten fallen sich Julian und der Sack in die Arme. Beide sind müde. „Für heute reicht‘s“, stöhnt er. Seit eineinhalb Stunden steht der 19-Jährige in einer Doppelgarage am Hafen von Walvis Bay und trainiert. An seiner Seite sind Delano (11) und Lesley (23), seine Brüder. Der eine sein Halb-, der andere sein Adoptivbruder. Auch sie sind durchgeschwitzt. Um 8 Uhr waren sie sechs Kilometer an der Lagune der Stadt gelaufen. Danach wärmten sie sich mit Seilspringen auf, dehnten sich ausgiebig und spulten zweimal 30 Wiederholungen an Liegestützen und Klimmzügen ab. Es folgten Faustkampf- und Kicksessions mit Boxpratzen. Nachmittags dann weitere eineinhalb Stunden. Auch der Jüngste macht das volle Programm mit. Zu dritt wollen sie in gut zwei Wochen bei den Kickboxweltmeisterschaften in Orlando/Florida Titel gewinnen. Für Julian wird es bereits die dritte WM sein. Er tritt gleich in fünf Disziplinen an: Mixed Martial Arts, Point Sparring, Continue Sparring, Clock Sparring und Creative Forms. Vor zwei Jahren gewann er zweimal Gold, einmal Silber und zweimal Bronze. Letztes Jahr dreimal Gold und zweimal Silber. Dieses Jahr will er alle fünf Titel. Die Okatare Lodge im Damaraland, gut zwei Wochen zuvor. Das nächste Haus steht 20 Kilometer entfernt. Am Himmel senkt sich die Sonne mit tiefrotem Schleier über die namibische Savanne. Julian und Lesley sitzen auf der Terrasse neben dem Pool und genießen den Sonnenuntergang. Das Feuer prasselt im Korb, gelegentlich heulen Hyänen, der Wind fährt sanft durch die Bäume und Sträucher. Julian und Lesley saßen in ihrer Kindheit oft hier. Lesleys Mutter arbeitete auf der Farm der Müllers und ließ ihren kleinen Sohn irgendwann zurück. Wann genau weiß niemand mehr, denn Philip und Brigitta Müller adoptierten das schwarze Kind. Es wurde ein Teil der Familie. Fortan zogen Lesley und Julian zusammen durch den Busch und brachten sich ihre Sprachen bei. Von Julian lernte Lesley Deutsch. Lesley zeigte Julian indes die komplizierte Damara-Sprache mit ihren Zisch- und Klicklauten. Heute sprechen beide fünf Sprachen fließend: Englisch, Deutsch, Afrikaans, Damara und die Buschmannsprache. Daneben wurden sie von Mutter Brigitta im Heimstudium unterrichtet. Ein Bild zeigt Julian, wie er an einem Tisch sitzt und inmitten zahmer Geparden seine Schularbeiten macht. Der Traum einer Kindheit. Mit 15 und 19 Jahren schickte der Vater Julian und Lesley nach Walvis Bay zu ihrem Stiefbruder Delano, der dort bei seiner Mutter Anita de Klerk aufwuchs. Eine Affäre des Vaters, für die er geradesteht. Er kaufte De Klerk ein Haus und sorgt für sie und den Jungen, ist regelmäßig zu Gast. Julians Mutter Brigitta war nicht begeistert vom Seitensprung ihres Mannes. Doch das Wohl des Jungen und der Familienfrieden waren ihr wichtiger als ihr Stolz. „Sie ist eine großartige Frau mit einem großen Herzen“, sagt Julian. „Sie hat ihm verziehen und wollte, dass auch Delano einen Vater hat.“ Julian und Lesley kamen nach Walvis Bay, um dort ihr Matrik zu machen. Hier kamen sie das erste Mal mit Turnen und Kickboxen in Kontakt. Beide waren fasziniert von der Dynamik, der Präzision. Durch ihr Leben auf der Farm brachten sie ein gutes Körpergefühl und eine gute Arbeitsmoral mit. Perfekte Voraussetzungen für den Leistungssport. Nach der Schule am Vormittag gingen sie von 14 bis 18 Uhr in die Turnhalle. Danach eine Stunde zum Kickboxen. Reck, Boden, Barren, Sprung, Pferd: Der Mehrkampf beim Turnen förderte ihr Körpergefühl und machte ihre Gelenke beweglich. Ein Vorteil, der ihnen beim Kickboxen entgegenkam. Bald schon waren sie zu gut für ihre Trainer. Um zu jeder Tageszeit trainieren zu können, richteten sie sich in der Doppelgarage von De Klerk einen Trainingsraum ein. Den hinteren Teil hängten sie mit einem Stoffvorhang ab und stellten Betten dahinter. Sie schufen sich ihr Reich. Bis heute schlafen und trainieren sie dort. An der Wand hängen Poster von Dwayne „The Rock“ Johnson und Jason Statham. Auf den Bettdecken sind Comic-Helden abgedruckt. Fragt man ihre Freunde, fallen die immer gleichen Begriffe: Stark, gemütlich, gutmütig. Besonders Julian ist beliebt in Walvis Bay. Seine Schulkameraden mögen ihn wegen seines Humors (zum Abschlussball ließ er sich mit einer Eselskarre bringen), die älteren Menschen schätzen ihn wegen seiner Manieren und die schwarze Bevölkerung liebt ihn, weil er als Weißer akzentfrei Damara spricht. Würde er mit seinen Freunden nicht gelegentlich feiern gehen, wäre er eigentlich zu brav für einen 18-Jährigen. Im Ring ist davon nichts zu spüren. Da umkreist er seinen Gegner zu Beginn des Kampfes. Er liest in seinem Gesicht. Erforscht seine Taktik. Hat er erkannt, mit welchen Mitteln sein Gegenüber kämpft, kontert er und lässt nicht mehr locker. „Dann hagelt es“, sagt er und spricht von einem Tunnel. Bis auf die Rufe seines Vaters nimmt er dann nichts mehr wahr. Bam, bam, bam. Knallharte Arm- und Beinschläge prasseln auf den Körper des Gegners ein. Wenn eine Faust nicht trifft, dann die nächste. Auch wenn es danach aussieht, ist Kickboxen kein gewalttätiger Sport. Schläge auf den Kopf sind die Ausnahme. Sie dürfen nicht mit voller Wucht ausgeführt werden. Es geht nicht darum, den Gegner K.o. zu schlagen, sondern ihn in die Knie zu zwingen. Kickboxen ist ein hochkomplexer Sport, bei dem Psyche, Technik und Taktik eine entscheidende Rolle spielen. Das Turnen, die Kindheit auf der Farm und das Training helfen Julian dabei. Seine Lieblingsdisziplin ist das MMA – ein Gemisch aus Kickboxen, Karate, Brazilian Jiu-Jitsu, Ringen, Judo und Sambo. Hier wird so lange gekämpft, bis einer der Kontrahenten abklopft, das heißt den Kampf aufgibt. Ist ein Gegner am Boden, kann man ihn mit Halte- und Klammergriffen zu sogenannten Submissions zwingen. Grappling heißt das. Danach nehmen beide Kämpfer ihre Ausgangsposition wieder ein und der Kampf beginnt erneut. Wer am Ende die meisten Submissions auf seinem Konto hat, ist Sieger. Um sein Ziel zu erreichen, wird Julian einige Submissions brauchen. 3000 bis 4000 Kämpfer aus aller Welt nehmen jedes Jahr an den Wettkämpfen teil. In seiner Gewichtsklasse (75 bis 85 Kilogramm) gibt es viele Starter. Es wird ein hartes Turnier. Der Weg zu fünf Titeln ist weit. Für den letzten Schliff war Julian vor kurzem in Deutschland und trainierte bei Avni Cebeci, einem Guru der Szene. Er verband das mit einem dreimonatigen Maschinenbaupraktikum in Schwäbisch Gmünd. „Cebeci hat ihm vor allem in der Technik noch einmal ziemlich weitergeholfen“, sagt Vater Philip (55). „Dieses Jahr erwarte ich mir ziemlich viel. Er hat über das letzte Jahr unwahrscheinlich viel dazugelernt.“ Nach der WM wird Julian nach Deutschland zurückkehren. In Karlsruhe will er ein deutsches Abitur ablegen und anschließend Maschinenbau studieren. 9000 Kilometer entfernt von zuhause. Ein großer Schritt für einen 18-Jährigen. „Ein bisschen Respekt habe ich schon“, sagt er. Angst hat er keine. Als fünffacher Kickboxweltmeister muss man das wohl auch nicht.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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