Das Recht auf Kindheit
100 Jahre Waldorf – und neue Herausforderungen in Afrika
Von Eva-Marie Born
Klischees über Waldorfschulen gibt es viele – die Schüler lernen, ihre Namen zu tanzen, können aber nicht rechnen. Und überhaupt: es ist alles so esoterisch und „öko“, werden die Kinder denn überhaupt richtig auf eine berufliche Zukunft vorbereitet?
Auf der ganzen Welt gibt es heute 1149 Waldorfschulen und 1817 Waldorfkindergärten in mehr als 67 Ländern – Tendenz steigend.
Die erste Waldorfschule wurde im Jahr 1919 in Stuttgart gegründet. Emil Molt, Besitzer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, wollte den Kindern seiner Mitarbeiter eine gute Schulbildung ermöglichen und betraute den Anthroposophen Rudolf Steiner mit der Leitung. Dieser hatte in den Jahren zuvor schon mit Vorträgen und Veröffentlichungen über Kindererziehung und vor allem auch der Philosophie von sich Reden gemacht.
Schulgeschichtlich gesehen war die Astoria-Betriebsschule auf der Uhlandshöhe in Stuttgart die erste Gesamtschule Deutschlands. Hier wurde die „Erziehungskunst“ Steiners praktisch umgesetzt, welche auf verschiedenen Entwicklungsstufen und Fähigkeiten der Heranwachsenden basiert. Es wird bis heute in sogenannten „Epochen“ gelehrt, bis zur achten Klasse meist von einem einzigen Lehrer. Bis zur Oberstufe gibt es keine Noten. Zum Lehrplan gehören neben den üblichen Schulfächern auch Gartenbau, künstlerisches Arbeiten und Eurythmie. Wenn vom „Tanzen des eigenen Namens“ die Rede ist, dann ist die Eurythmie gemeint, eine Art Ausdruckstanz, der Musik und Sprache über Bewegung sichtbar macht.
Waldorf steht bis heute für Inklusion, Interkulturalität und Kunst. Der Mensch als Ganzes steht im Vordergrund: Herz, Kopf und Hand bilden die Grundpfeiler des Lernens. Orientiert wird sich vor allem an den Fähigkeiten des jeweiligen Individuums und weniger an strikten Lehrplänen. So werden Kinder nicht für die Gesellschaft „passend“ gemacht, sondern dürfen ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten voll entfalten, ihren Fähigkeiten entsprechend ganzheitlich lernen.
„Die Schüler sollen nicht mit Bildung bestraft werden“, sagt Christiane Rée-Ahlenstorf, die pädagogische Leiterin der Waldorfschule Windhoek (WSW). „Sie haben ein Recht auf Kindheit“, das Recht zu spielen und sich und die Umgebung frei von Zwängen kennenzulernen.
Aber wie geht man dann dort mit den Herausforderungen der heutigen Welt um? Wie wird die immer weiter voranschreitende Digitalisierung gesehen? Können Waldorfschüler den Ansprüchen einer sich immer schneller entwickelnden Gesellschaft Stand halten?
Frau Rée-Ahlenstorf beantwortet diese Frage gern: „ Bis zum Ende der achten Klasse sind Medien an der WSW nicht vorgesehen. Sie beeinträchtigen das Langzeitgedächtnis und sind Kreativität sowie Konzentration nicht förderlich.“ Die Gedächtniskräfte der Kinder sollen erst einmal ohne den Einfluss von Computer & Co. entwickelt werden. Ab der neunten Klasse besuchen sie an der WSW dann einen umfassenden Kurs im Umgang mit Medien. Am Ende erhalten die Schüler eine Auszeichnung in „computer literacy“, also Kompetenz im Umgang mit neuen Medien.
Auch sonst wird an Waldorfschulen viel dafür getan, die berufliche Orientierung der Schüler zu fördern. Die WSW bietet ein Konzept, das vier Felder der beruflichen Bildung umfasst, von denen jeder Schüler eines durchlaufen darf: Gastronomie und Tourismus, Landwirtschaft, kaufmännische Grundkenntnisse und Elektro- und Solartechnik.
Jeder Lernende kann sich ein Gebiet aussuchen, welches dann vertieft wird und einen leichteren Einstieg ins spätere Berufsleben ermöglichen soll.
Des Weiteren wird an der WSW verstärkt auf einen achtsamen Umgang mit Ressourcen wie Wasser gelegt. Regenwasser wird aufgefangen und zum Bewässern des Gartens genutzt, die Schüler lernen, wie der Wasserkreislauf funktioniert. Auch der Verbrauch der Schule wird genau gemessen. Jeder hilft selber mit, diesen zu reduzieren und entwickelt durch eigenes Zutun und Engagement ein ganz neues Bewusstsein für die wertvolle Ressource.
Auch Möbel werden selbst geschreinert, es entsteht so ein Gefühl der Wertschätzung für Dinge, weil sie mit eigenen Händen erschaffen wurden.
Ein wichtiger Aspekt der Waldorfpädagogik ist auch die Lehrkraft an sich: viele Lehrer der WSW kommen aus Deutschland, es gibt aber auch ein Lehrer- und Erzieherseminar für Waldorfpädagogik in Kapstadt, Südafrika. Besonderer Wert wird neben der formalen Ausbildung vor allem auf das unterrichtliche Talent und die pädagogische Eignung gelegt. Der Lehrer soll ganzheitlich denken, schöpferisch arbeiten und die Entwicklung der Kinder lesen können, um jedem einzelnen von ihnen gerecht zu werden. Deshalb können auch Quereinsteiger mit Hochschulabschluss Waldorfpädagogen werden, sofern sie den hohen Ansprüchen gerecht werden und indem sie entsprechende Seminare besuchen.
Neue Herausforderungen in Afrika
Waldorf in Afrika ist noch im Werden: 1959 eröffnete die erste Waldorfschule im Süden des Kontinents. Seither gibt es Bildungseinrichtungen in Kenia, Namibia, Südafrika und Tansania, wovon Südafrika die meisten Waldorfschulen und- Kindergärten beherbergt. Auch das größte Lehrer- und Erzieherseminar für Waldorfpädagogik Afrikas, das „Centre for Creative Education“ existiert in Kapstadt. In Nairobi gibt es indessen ebenfalls ein Bildungszentrum für Waldorfpädagogen.
Weitere waldorfpädagogische Initiativen und Sozialprojekte finden sich in Togo, Ghana, Burkina Faso, im Senegal, Sierra Leone und Zimbabwe. Besonders hervorzuheben sind auch die rund 40 Waldorfkindergärten, welche in den Townships rund um Kapstadt entstanden sind. Sie wurden von Kindergärtnerinnen nach dem Abschluss der Seminare im Waldorf-Ausbildungszentrum Kapstadt gegründet und zeigen, wie gut dieser alternative Weg der Erziehung und Bildung hier bereits angenommen wird.
Der gesellschaftliche Wandel, welcher sich auch auf dem afrikanischen Kontinent bemerkbar macht, verlangt den Eltern oft mehr Zeit bei der Arbeit ab. Sie sind immer weniger zu Hause und folglich verbringen die Kinder mehr Zeit in Schulen und Kindergärten. Um dieser neuen Verantwortung gerecht zu werden, muss Pädagogik neuen Ansprüchen genügen und eben über das traditionelle Lehrerbild hinausgehen. Der Unterricht gilt nicht nur der bloßen Vermittlung von Wissen, sondern eben auch der Herzensbildung Heranwachsender.
Die Herausforderung, vor der Waldorf in Afrika noch steht ist es, einen „afrikanischen“ Weg der Waldorfpädagogik zu finden. Elemente einzubringen, die nicht nur aus Europa kommen, sondern den vielfältigen hiesigen Kulturen gerecht werden und den Anschluss nicht zu verpassen, an eine digitale, vernetzte Leistungsgesellschaft.
Klischees über Waldorfschulen gibt es viele – die Schüler lernen, ihre Namen zu tanzen, können aber nicht rechnen. Und überhaupt: es ist alles so esoterisch und „öko“, werden die Kinder denn überhaupt richtig auf eine berufliche Zukunft vorbereitet?
Auf der ganzen Welt gibt es heute 1149 Waldorfschulen und 1817 Waldorfkindergärten in mehr als 67 Ländern – Tendenz steigend.
Die erste Waldorfschule wurde im Jahr 1919 in Stuttgart gegründet. Emil Molt, Besitzer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, wollte den Kindern seiner Mitarbeiter eine gute Schulbildung ermöglichen und betraute den Anthroposophen Rudolf Steiner mit der Leitung. Dieser hatte in den Jahren zuvor schon mit Vorträgen und Veröffentlichungen über Kindererziehung und vor allem auch der Philosophie von sich Reden gemacht.
Schulgeschichtlich gesehen war die Astoria-Betriebsschule auf der Uhlandshöhe in Stuttgart die erste Gesamtschule Deutschlands. Hier wurde die „Erziehungskunst“ Steiners praktisch umgesetzt, welche auf verschiedenen Entwicklungsstufen und Fähigkeiten der Heranwachsenden basiert. Es wird bis heute in sogenannten „Epochen“ gelehrt, bis zur achten Klasse meist von einem einzigen Lehrer. Bis zur Oberstufe gibt es keine Noten. Zum Lehrplan gehören neben den üblichen Schulfächern auch Gartenbau, künstlerisches Arbeiten und Eurythmie. Wenn vom „Tanzen des eigenen Namens“ die Rede ist, dann ist die Eurythmie gemeint, eine Art Ausdruckstanz, der Musik und Sprache über Bewegung sichtbar macht.
Waldorf steht bis heute für Inklusion, Interkulturalität und Kunst. Der Mensch als Ganzes steht im Vordergrund: Herz, Kopf und Hand bilden die Grundpfeiler des Lernens. Orientiert wird sich vor allem an den Fähigkeiten des jeweiligen Individuums und weniger an strikten Lehrplänen. So werden Kinder nicht für die Gesellschaft „passend“ gemacht, sondern dürfen ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten voll entfalten, ihren Fähigkeiten entsprechend ganzheitlich lernen.
„Die Schüler sollen nicht mit Bildung bestraft werden“, sagt Christiane Rée-Ahlenstorf, die pädagogische Leiterin der Waldorfschule Windhoek (WSW). „Sie haben ein Recht auf Kindheit“, das Recht zu spielen und sich und die Umgebung frei von Zwängen kennenzulernen.
Aber wie geht man dann dort mit den Herausforderungen der heutigen Welt um? Wie wird die immer weiter voranschreitende Digitalisierung gesehen? Können Waldorfschüler den Ansprüchen einer sich immer schneller entwickelnden Gesellschaft Stand halten?
Frau Rée-Ahlenstorf beantwortet diese Frage gern: „ Bis zum Ende der achten Klasse sind Medien an der WSW nicht vorgesehen. Sie beeinträchtigen das Langzeitgedächtnis und sind Kreativität sowie Konzentration nicht förderlich.“ Die Gedächtniskräfte der Kinder sollen erst einmal ohne den Einfluss von Computer & Co. entwickelt werden. Ab der neunten Klasse besuchen sie an der WSW dann einen umfassenden Kurs im Umgang mit Medien. Am Ende erhalten die Schüler eine Auszeichnung in „computer literacy“, also Kompetenz im Umgang mit neuen Medien.
Auch sonst wird an Waldorfschulen viel dafür getan, die berufliche Orientierung der Schüler zu fördern. Die WSW bietet ein Konzept, das vier Felder der beruflichen Bildung umfasst, von denen jeder Schüler eines durchlaufen darf: Gastronomie und Tourismus, Landwirtschaft, kaufmännische Grundkenntnisse und Elektro- und Solartechnik.
Jeder Lernende kann sich ein Gebiet aussuchen, welches dann vertieft wird und einen leichteren Einstieg ins spätere Berufsleben ermöglichen soll.
Des Weiteren wird an der WSW verstärkt auf einen achtsamen Umgang mit Ressourcen wie Wasser gelegt. Regenwasser wird aufgefangen und zum Bewässern des Gartens genutzt, die Schüler lernen, wie der Wasserkreislauf funktioniert. Auch der Verbrauch der Schule wird genau gemessen. Jeder hilft selber mit, diesen zu reduzieren und entwickelt durch eigenes Zutun und Engagement ein ganz neues Bewusstsein für die wertvolle Ressource.
Auch Möbel werden selbst geschreinert, es entsteht so ein Gefühl der Wertschätzung für Dinge, weil sie mit eigenen Händen erschaffen wurden.
Ein wichtiger Aspekt der Waldorfpädagogik ist auch die Lehrkraft an sich: viele Lehrer der WSW kommen aus Deutschland, es gibt aber auch ein Lehrer- und Erzieherseminar für Waldorfpädagogik in Kapstadt, Südafrika. Besonderer Wert wird neben der formalen Ausbildung vor allem auf das unterrichtliche Talent und die pädagogische Eignung gelegt. Der Lehrer soll ganzheitlich denken, schöpferisch arbeiten und die Entwicklung der Kinder lesen können, um jedem einzelnen von ihnen gerecht zu werden. Deshalb können auch Quereinsteiger mit Hochschulabschluss Waldorfpädagogen werden, sofern sie den hohen Ansprüchen gerecht werden und indem sie entsprechende Seminare besuchen.
Neue Herausforderungen in Afrika
Waldorf in Afrika ist noch im Werden: 1959 eröffnete die erste Waldorfschule im Süden des Kontinents. Seither gibt es Bildungseinrichtungen in Kenia, Namibia, Südafrika und Tansania, wovon Südafrika die meisten Waldorfschulen und- Kindergärten beherbergt. Auch das größte Lehrer- und Erzieherseminar für Waldorfpädagogik Afrikas, das „Centre for Creative Education“ existiert in Kapstadt. In Nairobi gibt es indessen ebenfalls ein Bildungszentrum für Waldorfpädagogen.
Weitere waldorfpädagogische Initiativen und Sozialprojekte finden sich in Togo, Ghana, Burkina Faso, im Senegal, Sierra Leone und Zimbabwe. Besonders hervorzuheben sind auch die rund 40 Waldorfkindergärten, welche in den Townships rund um Kapstadt entstanden sind. Sie wurden von Kindergärtnerinnen nach dem Abschluss der Seminare im Waldorf-Ausbildungszentrum Kapstadt gegründet und zeigen, wie gut dieser alternative Weg der Erziehung und Bildung hier bereits angenommen wird.
Der gesellschaftliche Wandel, welcher sich auch auf dem afrikanischen Kontinent bemerkbar macht, verlangt den Eltern oft mehr Zeit bei der Arbeit ab. Sie sind immer weniger zu Hause und folglich verbringen die Kinder mehr Zeit in Schulen und Kindergärten. Um dieser neuen Verantwortung gerecht zu werden, muss Pädagogik neuen Ansprüchen genügen und eben über das traditionelle Lehrerbild hinausgehen. Der Unterricht gilt nicht nur der bloßen Vermittlung von Wissen, sondern eben auch der Herzensbildung Heranwachsender.
Die Herausforderung, vor der Waldorf in Afrika noch steht ist es, einen „afrikanischen“ Weg der Waldorfpädagogik zu finden. Elemente einzubringen, die nicht nur aus Europa kommen, sondern den vielfältigen hiesigen Kulturen gerecht werden und den Anschluss nicht zu verpassen, an eine digitale, vernetzte Leistungsgesellschaft.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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