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Der soziale Reichtum Afrikas

In der Luft über dem kleinen Haus in Katutura mischen sich aufgewirbelter Staub, holziger Lagerfeuerqualm und der Geruch von frischer Farbe. Zwei ältere Frauen in Patchwork-Kleidern backen Brötchen auf offener Glut. Ein kleiner Junge wuchtet einen Besen über den Hof und schiebt mit energischem Eifer den Sand von einer Seite zur nächsten zwischen Farbeimern und Plastikstühlen hindurch. Im Inneren des Hauses häufen Helferinnen Tortenstücke auf Teller, sortieren Süßigkeiten und schmieren Brötchen. Mit begehrlichen Blicken drücken sich von draußen Kinder die Nase an den Fensterscheiben platt.

Im Baby Haven wird heute Geburtstag gefeiert und die ganze Nachbarschaft ist eingeladen. "Viele der Kinder, die keine Eltern mehr haben, wissen gar nicht, wann sie Geburtstag haben", erklärt Lulu Tom, Tochter der Baby-Haven-Leiterin Agnes Tom. Deshalb wird einmal jährlich für alle gemeinsam ein Fest gegeben, der "Balloon Day", und so toben neben den neun kleinen Bewohnern des Baby Haven zahlreiche weitere Jungen und Mädchen jeden Alters über das Grundstück.

Abseits des Trubels im Aufenthaltsraum sitzt Agnes Tom und spricht mit den ersten Gästen. Die 59-Jährige mit dem freundlichen runden Gesicht ist an den Rollstuhl gefesselt - trotzdem hat sie im Baby Haven die Fäden in der Hand. 1993 ließ die gebürtige Südafrikanerin sich am Katutura State Hospital zur Aids-Beraterin ausbilden - zu einer Zeit, da die Krankheit noch kaum bekannt war. Sie arbeitete lange für die Organisation "Catholic Aids Action" und baute dann ein Aids-Programm der Freikirche Gospel Outreach auf, die das damals noch halb so große Haus für den Baby Haven erwarb. "Wir gründeten den Baby Haven als Ort, wo HIV-infizierte Mütter nach der Geburt ihre Kinder hingeben können", erzählt sie. Denn viele ließen ihr Neugeborenes einfach im Krankenhaus zurück und die erweiterte Familie weigerte sich häufig, die teils infizierten Kinder aufzunehmen. "Es gibt diese Angst, selbst krank zu werden, wenn man ein HIV-positives Kind aufzieht", erläutert die erfahrene Beraterin einen Teil des Problems. So kamen die ersten Kinder zu Agnes Tom und ihrer Familie nach Grysblok - Kinder wie der kleine Festus, dessen Bruder und Mutter bereits an Aids gestorben sind und der selbst den HI-Virus in sich trägt. Mit großen traurigen Augen starrt der Fünfjährige, der kaum die Größe eines Zweijährigen hat, vor sich hin. Seine dünnen Beinchen hat er zum Schneidersitz gekreuzt - laufen kann er auf ihnen nicht. Doch im Baby Haven sorgen die drei Festangestellten und ehrenamtliche Helfer, die Agnes Tom selbst geschult hat, dafür, dass er und ein weiteres HIV-positives Kind regelmäßig ihre Medikamente und genug zu essen bekommen - eine Chance, die sie ohne den Baby Haven wohl kaum gehabt hätten. "Ein positiver Lebensstil ist die Säule, die uns alle hier stützt", beschreibt sie die Philosophie des kleinen Waisenhauses. "Sauberkeit, nährreiches Essen, die Möglichkeit zum Spielen - und vor allem Liebe sollen die Kinder hier erhalten. Wir nehmen sie als unsere eigenen Kinder an", erklärt die Frau, die sich aus dieser Haltung heraus lange dagegen sträubte, ihre Schützlinge als "Waisen" zu benennen.

Ehrenamtlich besucht Agnes Tom regelmäßig von HIV und Aids betroffene Familien in Katutura, klärt über die Hintergründe der Krankheit auf, berät schwangere Frauen und gibt gemeinsam mit den "Teenagers Against Drug Abuse" (Taga) Workshops an Schulen. In Kürze soll eine Suppenküche für Straßenkinder gegründet werden, damit die Kinder nicht mehr mit leerem Magen zur Schule gehen müssen. Und auch die Kirchen bezieht sie ein, versucht deren Vertreter für die Thematik zu sensibilisieren. "Aids ist kein politisches oder religiöses Thema - und doch beides zugleich", sagt sie bedächtig. "Manch religiöser Mensch sieht einen HIV-Positiven als Sünder - bis er einsieht, dass er selbst eine Sünde begeht, wenn er über andere urteilt. Wir arbeiten daran diese Vorurteile zu überwinden und dafür brauchen wir die Kirche auf unserer Seite." Die Gospel Outreach-Gemeinde konnte den Baby Haven jedoch auf Dauer nicht finanziell tragen und so musste ein neuer Förderer her.

Im Sand seitlich des Gebäudes hockt Reimer Gronemeyer und pinselt eine blaue Linie auf die weiße Wand. Farbkleckse zieren T-Shirt und Hose, die strubbeligen weißen Haare kleben an den Schläfen, eine knallrote Baseballkappe schützt gegen die Mittagssonne. "Fahr mal kurz zu Obi", scherzt er mit knarrender Stimme, als ein Student nach fehlenden Baumaterialien fragt. "Sind ja nur 8000 Kilometer, aber die haben das bestimmt!" Reimer, wie seine Gießener Studenten den humorvollen Soziologie-Professor freundschaftlich nennen, reist seit rund 20 Jahren zu Exkursionen ins südliche Afrika. 2004 lernte er während eines Forschungsaufenthaltes zu den sozialen Folgen von HIV und Aids in Namibia Agnes Tom kennen - und sammelte kurz entschlossen Spendengelder für den Erwerb des finanziell gefährdeten Baby Havens. Seither unterstützt er das Waisenhaus mit einer gleichnamigen Stiftung und dem gemeinnützigen Verein Pallium e.V. und ist seit einigen Tagen erneut mit einer Gruppe Studierender zu Renovierungsarbeiten vor Ort.

"Agnes ist hier vor Ort eine ganz zentrale Person", lobt er die Aids-Aktivistin. "Eine unheimlich intelligente Frau, von der man sehr viel lernen kann." Zum Beispiel über den Wert der afrikanischen Großfamilie, die sowohl Agnes Tom als auch Reimer Gronemeyer als essentiell im wirksamen Anti-Aids-Engagement ansehen. "Ich versuche immer den Blick zu ändern und zu sagen: Afrika ist nicht nur der elende hungernde Kontinent, sondern es gibt hier auch einen ungeheuren sozialen Reichtum", erklärt der Professor. "Ich habe hier unzählige Großmütter gesehen, die nach dem Aids-Tod ihrer Kinder von ihren 25 Euro Rente fünf, 10, manchmal 20 Enkel durchbringen - da frage ich mich: Würde das in Deutschland auch so sein, wenn wir eine vergleichbar große Infektionsrate hätten?" Es könne keine Lösung sein, westliche Lebensstile zu kopieren, die auf lange Sicht zu sozialer Isolation führten. Und so bemüht sich Agnes Tom in ihren Beratungsgesprächen auch in erster Linie darum, die Menschen wieder an die Verantwortung der Großfamilie zu erinnern. Wann immer möglich sollen die Kinder - unter weiterer Beobachtung des Baby Haven-Teams - in ihre Familien zurückgegeben oder an Adoptiveltern vermittelt werden. "Wir sind doch selbst alle von der Gemeinschaft großgezogen worden", mahnt sie. "Durch Aids und HIV wird diese Selbstverständlichkeit zerstört - aber nur in Rückbesinnung auf unsere Kultur und mit der Liebe der Gemeinschaft können wir unsere Kinder erfolgreich großziehen und Aids etwas entgegensetzen."

So ist auch der Kindergeburtstag im Baby Haven in erster Linie ein großes Familienfest. Am frühen Nachmittag versammeln die Kleinen sich um Agnes Tom im Aufenthaltsraum, singen aus voller Kehle "Happy Birthday" und gedenken verstorbener Verwandter. "Wir lieben euch, auch wenn ihr heute nicht hier sein könnt", sagt ein kleines Mädchen ernsthaft und alle klatschen. Eifrig krakeln die Älteren unter ihnen Grüße an die Eltern auf Luftballons, dann stellen sich alle in einer Reihe auf und laufen im Gänsemarsch nach draußen, um die Ballons steigen zu lassen. Die aufgepusteten Ballons mögen freilich nicht fliegen und zerplatzen unter dem Gekicher der tobenden Kinder bald mit lautem Knall. Doch mit den Ballons spielen macht ohnehin viel mehr Spaß - und darauf kommt es bei einem Kindergeburtstag schließlich an. www.stiftung-babyhaven.de

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-22

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