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Der Wahrheit eine Gasse - Überlegungen zum 9. Dezember 1904 (09. 12. 2004)

Das Gedenkjahr 2004, in dem man in Namibia und in Deutschland die Aufmerksamkeit auf denkwürdige Daten und auf den Hererokrieg von 1904 gelenkt hat, neigt sich dem Ende zu. Als auch vor hundert Jahren das Kriegsjahr 1904 zu Ende ging, nahm dieser Krieg an einem heute zu Unrecht fast vergessenen Tag eine entscheidende Wende.



Am denkwürdigen 9. Dezember 1904 nämlich erhielt das verblüffte Oberkommando der Schutztruppe, das sich nach dem Abzug aus dem Sandfeld seit Oktober bereits wieder in Windhoek befand, den telegraphischen Befehl aus Berlin, "den Weg der Gnade zu beschreiten"Sich freiwillig stellende Hererokrieger und Reste des Hererovolkes sollten mit Hilfe der Mission in einzurichtende Lager "zu ihrer einstweiligen Unterbringung und Erhaltung" untergebracht werden. Damit wurden beide, die heute wie damals umstrittene Proklamation an die Herero und der anschließende Truppenbefehl, die am Rande der Omaheke am 2. Oktober des Jahres erlassen worden waren, aufgehoben.

Zwar waren von vornherein beide, die darin angedrohte Landesverweisung des Hererovolkes und der Truppenbefehl, der männliche Herero praktisch vogelfrei erklärt hatte, vom Oberkommando als wenig erfolgversprechend eingeschätzt wordenInzwischen hatte sich das bestätigt. Wie sollten auch 30 unter der Mitgabe der Proklamation in das Sandfeld zurückgejagten Frauen und Kinder das ganze weit verteilte Volk der Herero erreichen? Die letzten Herero-Nachzügler waren bekanntlich zum Zeitpunkt des Erlasses der besagten Proklamation bereits für die Truppen unerreichbar in den letzten Septembertagen abgezogen (siehe Artikel "Entrümpelung der Von Trothaschen Proklamation des Jahres 1905", AZ vom 13. August 2004). Die Truppe hatte die Herero schon seit ihrem Abzug vom Waterberg im August weder einholen, noch finden, noch zum Kampf stellen können. Die Herero waren auch nicht, wie anfänglich befürchtet, von, im unerforschten Sandfeld vermuteten, Wasserstellen aus "zurückgeflutet". Der Abzug des Oberkommandos und erheblicher Kräfte gegen die Nama im Süden sowie Probleme mit Krankheiten und Nachschub hatten die geschwächte Truppe in die Defensive gezwungen und mit Eintritt der heißen Jahreszeit waren militärische Aktionen sogar schon seit Oktober befehlsmäßig eingestellt worden. Diese erzwungene Untätigkeit der über Hunderte von Kilometern isoliert verteilten unzureichenden Kräfte nannte sich die "eiserne Absperrung" des Sandfelds und sollte als solche in die Geschichte eingehen. Die Proklamation und der Truppenbefehl harrten ihrer Durchführung. Der "Hererokrieg" schien beendet.

In Berlin war man jedoch wegen der möglichen Brisanz der maßlosen und wilhelminisch-bombastischen Formulierungen der Proklamation und des Truppenbefehls besorgt. Die ursprünglich nur zur örtlichen Abschreckung und vor Ort konzipierte sowie in ihren Verbreitungsmöglichkeiten stark begrenzte Proklamation drohte, falls sie dennoch bekannt würde, innenpolitisch und im Hinblick auf die benachbarte Kolonie Großbritanniens auch außenpolitisch zu weite Kreise zu ziehen und über das Tragbare hinaus zu gehen. Für die Veröffentlichung des besagten Gnadenerlasses vom 9. Dezember 1904 wurde von Berlin daher eine jahrelang wirksame Pressesperre verordnet. Dem Gnadenerlass entsprechend wurde jedoch noch am gleichen Tag gehandelt und wurden innerhalb von Wochen und weniger Monate Tausende von unstet im Lande raubend umherschweifender oder sich versteckender, mittelloser Herero als Gefangene in neue Lager eingebracht. Noch vor Jahresmitte 1905 waren es trotz des andauernden Kriegszustandes weit über 7000

Diese Zahlen bestätigen zugleich die geringe Wirkung der auch schon vom Konzept her unrealistischen "eisernen Absperrung" des Sandfelds. Damals ist erwartungsgemäß der Erlass vom 9. Dezember kaum bekannt geworden. Heutzutage wird er meist mit dem Amnestieerlass des gerade ernannten Gouverneurs Von Lindequist vom Dezember erst des darauffolgenden Jahres 1905 verwechselt, demzufolge sich abermals noch einmal ebenso viele Herero freiwillig in Sammellagern der Mission einfanden. Mit der unergründlichen Aufgabe ihrer Wohngebiete und dem damit spätestens bei Eintritt der trocken-heißen Jahreszeit unvermeidlichen Verlust angehäufter größeren Herden Viehs war für die Herero ihr Feldzug an sich selbst gescheitert und hatte sich zum Jahresende 1904 fast zwangsläufig zur existentiellen Katastrophe verschärft.

So gesehen überlebten die Herero ihre vielfach beschworene, angeblich gezielte Ausrottung durch die kaiserlich deutsche Kolonialmacht dadurch, dass sie in kaiserlich deutschen eigens "zur einstweiligen Versorgung der Herero" eingerichteten Lagern rettende Aufnahme fanden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt werden ernsthafte Studenden der üblichen Geschichtswerke des Hererokrieges Widersprüchlichkeiten aufgefallen sein und sich Fragen aufdrängenWie kann es sein, dass die "80000" in Waterberg/Hamakari "besiegten" in "gnadenloser Verfolgung" in die "wasserlose" und seit dem 2. Oktober "eisern abgesperrte" Omaheke "abgedrängten" Herero jetzt, zwei Monate später am 9. Dezember, nicht längst "elend verdurstet" waren? Welche dieser durch Anführung betonten und viel zitierten Behauptungen stimmt denn dann nicht? Der Leser wird es kaum erraten, aber keine der sieben eben angeführten Behauptungen entsprechen der Wahrheit, geschweige denn lassen sich belegen.

Je nach persönlichem Geschichtsverständnis - und Sachverstand - wird man diese Schlüsselfakten und Schlüsselereignisse der Kolonialzeit und des Kolonialkrieges als Teil einer besonderen eigenen Auffassung von der Wahrheit begreifen wollen - oder auch nicht. Was diesen Sachbestand anbetrifft, sind Kenntnisse natürlicher Gegebenheiten des Jahres 1904 grundlegend für ein Verständnis der damaligen Lage. In einem Namibia mit über hunderttausend Tiefbrunnen, Asphaltstraßen, Hospitälern und Mobiltelefonen ist es kaum möglich, sich das wasser- und weglose Land von 1904 vorzustellen, in dem die Versorgung und Ausrüstung und der Stand der damaligen Medizin den Anforderungen einer modernen Truppe nicht gewachsen waren.





Wahrheit? Historisches Wissen und emotionelle Erinnerung



Eine Binsenweisheit besagt bekanntlich, dass Wahrheit das erste Opfer eines Krieges sei. Somit kann man schließen, wurde die Wahrheit über den wahren Hergang des Hererokriegs in zwei Freiheits- und zwei Weltkriegen gleich viermal geopfert. Aber selbst im Frieden herrscht die Wahrheit nicht uneingeschränkt. Das wusste schon in der alten Zeit ein Damarahäuptling in Okombahe, der zu einer anderen Kirche übergetreten war. Nach den Gründen für seinen Glaubenswechsel gefragt, erwiderte er meinem Gewährsmann"Herr, wir wissen nicht, wer die Wahrheit hat!" Diese Wahrheit wenigstens ist nun wohl in ihrer Weisheit unbestritten und kann auch so über einem Rückblick auf Wahrheitsgehalt im Hererokriegsgedenken des Jahres 2004 stehen bleiben.

Zur historischen Wahrheit - den Fakten - und ihrem Wert in der Bewältigung der Geschichte schreibt Ryszard Kapuszinski (Welt im Notizbuch, 2000), ein hervorragender Afrikakenner und polnischer "Journalist des Jahrhunderts", folgendes"Die Krise der Geschichte - ihren Platz nehmen immer öfter Gegenwart und Archäologie ein. Das liegt daran, dass die Geschichte (als Wissenschaft, als Disziplin) allzu leicht manipulierbar scheint und daher ihre Glaubwürdigkeit einbüßt. Statt einer wissenschaftlichen Annäherung an die Vergangenheit finden wir ein emotionelles Gebäude beliebiger Bilder derselben. Es gibt historisches Wissen und die emotionelle Erinnerung. Obwohl beide oft mit demselben Begriff - Geschichte - bezeichnet werden, muss man sie klar und sachlich auseinanderhalten."

Der brillante vom Marxismus her kommende moderne Historiker Eric Hobsbawm schreibt Ähnliches, nämlich, dass "postmoderne" intellektuelle Mode an westlichen Universitäten behaupte, dass als objektiv erkannte Fakten nur intellektuelle Konstruktionen seien, und daher gäbe es keinen klaren Unterschied zwischen Tatsache und Fiktion. Aber er insistiert, dass die Fähigkeit zwischen diesen zu unterscheiden auch für den militantesten Anti-Positivsten unter den Historikern absolut fundamental sei"Entweder ist Elvis Presley tot oder nicht." Erschwerend für diese Erkenntnis und die Wahrheitsfindung kommt in Namibia noch der Hang zu "stories" hinzu, den zum Teil hartnäckigen Gerüchten, für die das Land bereits in der Kolonialzeit berüchtigt war und die man heute, dort wo Geschichte nicht aufgeschrieben wurde, vielfach von der oft dogmatischen mündlichen Überlieferung, der "oral tradition", zu trennen hat.



Verständnis auf drei Ebenen



Dementsprechend bewegt sich das Geschichtsverständnis des Kolonialkriegs von 1904 - des so genannten Hererokrieges - mindestens auf drei deutlich unterscheidbaren Ebenen.

Die erste Ebene ist die rein tatsächlich-historische, die der Quellen und der Forschung danach, "wie es denn wirklich gewesen ist". - Progressive Historiker empfinden sie als intellektuell wenig anspruchsvoll und das allgemeine Publikum schätzt sie gering - die Fakten seien doch angeblich hinlänglich bekannt. In- und ausländische Archive, Tagebücher und mündliche Überlieferung harren jedoch der Auswertung. Kompetente unabhängige Historiker und eine Art historiographische Qualitätskontrolle etwa durch Lehrstühle für Kolonialgeschichte wie in Großbritannien werden hier schmerzlich vermisst. Sie hätten der Bundesrepublik und uns in Namibia manche Verlegenheit und Entgleisung und manchen politischen Druck ersparen können.

Die zweite Ebene ist die juristische, in der völkerrechtliche Fragen aufgeworfen werden und die in akademischen Diskussionen dahindämmert. Bis zum unlängsten Abschalten der Apparatur wurde sie in den USA mit Dollarhoffnungen künstlich beatmet. Nun hat eine deutsche Ministerin ihr etwas neues Leben eingeblasen.

Die dritte Ebene ist die aktuelle und jeweils politisch korrekte. Sie entstammt der historischen, politischen, literarischen und emotionalen Zweckdienlichkeit und wird durch die unbekümmerte Kreativität bestätigt, mit der nicht nur engagierte Historiker, sondern auch prominente Zeitgenossen und Politiker sich für ihre Zwecke der namibischen Geschichte bedienen. Um den drei Ebenen gerecht zu werden, muss man die Trilogie möglichst differenzieren; sie haben inzwischen ein Eigenleben.



Greuel ohne Quellenangaben



Eines haben sie jedoch gemeinsamSie sind gebannt von einem Trugbild, einer Mythe, wie Brigitte Lau prophetisch schrieb, die der Anfang und das Ende aller Überlegungen istRiesenhaft drohend und lähmend breitet sie sich wie der Geist aus der Flasche Aladins über alle aus - es sind die angeblich "furchtbaren Greueltaten der kaiserlich-deutschen Schutztruppe unter General Von Trotha". Es scheint, dass dieser Wechselbalg aus der Hexenküche des ostdeutschen Stalinismus vor 40 Jahren einer kolonialhistorischen Dissertation als dienstbarer Geist in einer winzigen Flasche, ein paar Sätzen, untergeschoben und zwischen ihre Zeilen gemogelt wurde. Progessive anti-positivistische Zauberlehrlinge haben ihn nur zu gern aus seiner Flasche entwischen lassen.

Nachdem er zunehmend konkrete tagespolitische Formen angenommen und endlose Verwirrungen und Schaden verursacht hat, wünschen sich heute manche dieser Zauberlehrlinge insgeheim gern den Geist wieder dahin zurück, woher er kam. Aber sie erkennen die erlösenden Zauberworte dafür nicht. Dabei bekäme man ihn mit nur drei Worten zurück in seine Flasche. Sie lauten"Welche Greuel denn?"

Im September des Jahres 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, telegraphierte, anlässlich der Versailler Friedensverhandlungen, das Schutztruppenkommando an vormals während des Kolonialkrieges in DSWA leitende Persönlichkeiten wie folgt"Kolonialamt beabsichtigt Anklagen (des ,Blaubuch'-Propagandapamphlets) amtlich zu widerlegen und bittet um (Draht)mitteilung, ob und was von den amtlichen Greueln bekannt ist, hier aus den Akten nicht ersichtlich." Nun sind es gerade diese Akten, die der erwähnten Dissertation zugrunde lagen. Es verwundert daher nicht, dass es in ihr für Greuel im Gegensatz zu den sonst äußerst akribisch belegten Recherchen keine tatsächlichen Quellenangaben gibt. Dies ist nur eines, wenn auch ein besonders anschauliches Beispiel, von den vielen, die unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit und Geschichte auf besagten drei Ebenen belegen.



Schuldfrage als Tagespolitik



Schon im Vorfeld des Gedenkjahres 2004 wurde in Namibia und in Deutschland viel von Kolonialschuld gesprochen, und die Frage nach einer Entschuldigung für einen Genozid wurde zur Tagespolitik. Für Alteingesessene war das zunächst schwer verständlich gewesenFür viele der traditionsbewussten alten Herero, die zum Teil noch "mit dabeigewesen" waren, war der Krieg mit dem Deutschen unter "Majorra" (Oberst, früher Major Leutwein) nach ihrem Abzug von Hamakari und den Dursttrecks vom Sandfeldrand zu Ende gegangen. Über einen General Von Trotha und einem Völkermord hatten sie erst zwei Generationen später von Rückkehrern oder Einwanderern gehört, die im Ausland diese Geschichtskenntnisse erworben hatten. Mit den "ovandoitsi", den Deutschen in Namibia, hatte man sich auf einer Basis gegenseitigen Respekts längst ausgesöhnt und später in der Turnhalle sogar politisch zusammengearbeitet.

Alteingesessene Deutsche, die zum Teil auch noch "dabei gewesen" waren, hingegen hatten ungläubig kopfschüttelnd diese neue Version des Hererokrieges zur Kenntnis genommen. Jetzt sollten sie nach zwei Weltkriegen, in denen sie jahrelang feindliche Untertanen und teilweise interniert gewesen waren, die Schuld für den Hererokrieg und ungeahnte Greuel übernehmen? Der Hererokrieg wurde in der DDR der 60er Jahre und danach im Wesentlichen in der Bundesrepublik neu entdeckt, wiederbelebt, und von da aus zum "nationalen Trauma" hochstilisert. Von Europa aus wurde einfach übersehen, dass die deutsche Kolonialzeit bereits 1915 zu Ende gegangen war und dass die traumatisierenden namibischen Realitäten bis zur Unabhängigkeit die der Kolonisierung durch Südafrika waren, deren schmerzende Emotionen dem deutschen Kolonialismus hier sozusagen in Vertretung angelastet wurden. Die Diskussion um eine Entschuldigung wurde wahrscheinlich mehr durch Deutschlands besonderes Verhältnis zur Schuld, als durch die Realität des Kolonialismus in Namibia und des Kolonialkriegs von 1904 verursacht.

Damit nimmt Namibia im Gegensatz zu anderen früheren Kolonien in der Folgezeit der gewaltsam und blutigen Kolonisierung Afrikas (des "Scramble for Africa" 1876 - 1912) und wahrscheinlich auch weltweit fast eine Sonderrolle ein"Die abendländiche Expansion war die Eroberung des Erdballs", hatten Philosophen wie Karl Jaspers (1961) und Historiker wie Arnold Toynbee (1967) erkannt, was auf die ernüchternden Ausmaße des Kolonialismus und die Fragwürdigkeit isolierter geschichtsfremder Entschuldigungen hinweist. Mein Zettelkasten gibt hierzu aufschlussreiche Berichte seit der Weltkonferenz gegen Rassismus Anfang September 2001 her. Keines der großen imperialistischen Kolonialländer entschuldigte sich dabei für Kolonialismus. Die Italiener hatten 1997 bereits erklärt, das könnten nur die Täter selbst tun, die seit langem tot seien; ähnliches hatte der deutsche Bundespräsident Herzog noch bei seinem Namibiabesuch gesagt. Die Engländer, die auf eine lange und weltumspannende Kolonialgeschichte zurückschauen, hatten vor einer Entschuldigung gewarnt, die Rechtsgrundlage für Entschädigungen werden könnte.

Nur für Deutschland, dem kolonialgeschichtlichen und außenpolitischen Zwerg, gestand Außenminister Fischer begangenes Unrecht ein - er wolle damit den Opfern und ihren Nachkommen die geraubte Würde zurückgeben. Unter den Umständen war das peinlich, aber schlimmer noch, kaum jemand nahm Notiz davon; nach Tagen wusste ausgerechnet auch die namibische Delegation immer noch nichts davon.

Die nigerischen, senegalesischen und Kongo-Brassa-Präsidenten kritisierten sogar Entschädigungen"sie hätten nichts mit der afrikanischen Mentalität gemein, sie wären eine Entwürdigung des schwarzen Kontinents und geradezu lächerlich." Zur gleichen Zeit wetterte ein prominenter Herero in Windhoek"Eine Entschuldigung ohne Entschädigung ist bedeutungslos." Die Überlegungen dazu sind einfachWenn es keine Schuld gab, warum wollen sich die Deutschen unbedingt entschuldigen? Wer aber Schuld hat, muss sie begleichen. Das gilt um so mehr, weil eine bloße Entschuldigung, wie wir aus der Literatur der Afrikaner wissen, eine Herablassung des sich für überlegen Haltenden bedeutet und daher entwürdigend ist. Kritisierte nicht kürzlich ein Herero bei der Historikerkonferenz in Windhoek scharf und zu recht die eurozentristische Art, mit namibischer Vergangenheit umzugehen? - Vielleicht bedurfte es aber nur einer Warnung, damit Dinge im Gedenkjahr 2004, das zugleich Wahljahr war, nicht aus dem Ruder laufen würden. Der namibische Präsident verbot jedenfalls den Deutschen zunächst einmal die Waterbergfeier.

Nun wurde es aber komplizierterWie war es denn mit der mehr als zwei Generationen (1915 - 1990) andauernden südafrikanischen kolonialen Unterdrückung? Man hatte den "Buren" zwar noch rechtzeitig Walvis Bay abgeluchst, aber reichte das als Sühne? Wie war es mit Entrechtung, Enteignung, Entwürdigung, Rassismus unter mehr als 40 Jahren Apartheidsgesetzgebung? Hatte eine deutsche Kirche nicht zur Unabhängigkeit Mitschuld daran und am deutschen Kolonialismus bekannt? Hatten Deutsche nicht auf beiden Seiten am Freiheitskampf teilgenommen? Welche waren denn nun die richtigen Deutschen? Waren namibisch-deutsche Siedler und deren Nachkommen auch Deutsche?



Das deutsche Schuldempfinden



Das deutsche Schuldempfinden ist ein Phänomen, das man außerhalb Deutschlands, so auch in Namibia unter im Lande aufgewachsenen Deutschen, geschweige denn unter Herero, kaum verstehen kann. Noch immer sind Deutsche intellektuelle Gefangene ihrer Geschichte seit Hitler. Öffentlichkeit und Kirche Deutschlands sind geprägt von den Ereignissen des Dritten Reiches und wurden in deren Folge unter anderem von dem pauschalen "Stuttgarter Schuldbekenntnis" der Kirche und dem Schuldverständnis Karl Jaspers in seinen Nachkriegsschriften von 1946 beeinflusst. Diese wirken auch hierzulande nach, wie zum Beispiel im Schuldbekenntnis zur kolonialen Schuld durch die V.E. Mission zur Unabhängigkeit 1990 und in den Versöhnungsbemühungen der Elkin/Delk im Gedenkjahr 2004. Sie enthalten aber Undeutlichkeiten, gerade für Nichtdeutsche, denn sie schwanken zwischen Ablehnung der Kollektivschuldthese - "Ein Volk als ganzes gibt es nicht." - und Mystifikation - "Jeder ist, sofern er eigentlich ist, das deutsche Volk". Darauf wies Reinhard Kosselek (2003) hin. Der Marburger Philosoph Julius Ebbinghaus (2004) bringt die Überlegungen zwar auf den Punkt, indem er sie als "Geschwafel der Geisteswissenschaften" bezeichnet. Natürlich wurde die deutsche Begriffsgeschichte nach 1945 im Westen von der "re-education" und im Osten von einer Diktatur geprägt, welche beide ohne jeden Zweifel eine deutsche Selbstbestimmung hinauszögerten. Aber bereits nach dem Versailler Vertrag von 1919 hatte dessen Artikel 231 dem deutschen Kaiserreich allein die Kriegsschuld für den Weltkrieg zugeschrieben und den Deutschen ein Schuldgefühl eingeprägt.

Seit den 60er Jahren hat sich trotz aller Aufmüpfigkeit gegen die Vätergeneration der Bewegung der 68er ein Schuldkult im deutschen Selbstverständnis durchgesetzt. Ein Beispiel für diese Nachkriegswandlung ist die Auffassung deutschen Selbstwerts. Schön demonstrierten das die Bundeskanzler Adenauer und Schröder als Repräsentanten des deutschen VolkesAls man Konrad Adenauer anlässlich eins Israelbesuches das Kompliment machte, dass (unter seiner Führung) das deutsche Volk in die Familie der zivilisierten Völker zurückkehren würde, empfand "der Alte" das als eine schwere Beleidigung des deutschen Volkes. Es gab einen Eklat.

Bundeskanzler Schröder ging hingegen kürzlich noch weiter als die Israelis und sagte im Juni des Jahres "die erfolgreiche Invasion" der Alliierten 1944 sei ein "Sieg für Deutschland" gewesen, das "damit den Weg zurück in den Kreis der zivilisierten Völkergemeinschaft gefunden" habe. Kein Eklat folgte dieses Mal. Tendenzmäßig war also vielleicht in der deutschen Öffentlichkeit und im rotgrünen Kabinett das deutsche Volk bereits 1904 im Hererokrieg aus der Zivilisation ausgeschieden? Diese Frage muss sich Nichtdeutschen im Hinblick auf die gängige deutsche pauschale Kriminalisierung der eigenen Kolonialzeit aufdrängen. Der hoch geachtete frühere Landesprobst Kurt Kirschnereit veröffentlichte (Befunde und Berichte zur Deutschen Kolonialgeschichte, Heft 05/2002) sehr kritische Überlegungen zu dem oben genannten Schuldbekenntnis der Vereinigten Evangelischen Mission anlässlich der Unabhängigkeit Namibias im März 1990. Er befasst sich theologisch darin unter anderem mit der Problematik pauschaler Schuldbekenntnisse und kirchlicher Stellungnahmen zur politischen Situationen. Er möge mir verzeihen, wenn ich einen seiner Schluss-Sätze aus dem Zusammenhang genommen auf die heutige Situation anwende"Wer ungebeten mit einem Schuldbekenntnis aufwartet, um von vornherein eine ,schwierige Situation zu bereinigen' und daraufhin erst in Gespräche oder Verhandlungen einzusteigen, wer also gewissermaßen im Voraus zu einer Vergebung nötigt, verliert jedwede Glaubwürdigkeit." Zweifellos war westdeutsches Schuldempfinden und ostdeutsches Geschichtsverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg meinungsbildend für die Hereroklage und deren Grundklage, nämlich den "Genozid".

Warum das hier angeführt wird? Wer über den Gartenzaun gucken kann oder gar auf seinen Windmotor steigt, sieht in Afrika ein tödliches, politisches buntes Gewirr, in dem Namibia noch eine Ausnahme bildet. Man war gewarnt und es war voraussehbar, dass deutsche Initiativen für Schuldkultfeste von 2004 vielfach im Lande missverstanden und umfunktioniert werden würden, was dann auch eintrat. Man kann nur hoffen, dass sie politisch und beziehungsmäßig mehr genützt als geschadet haben. Das Gedenkjahr 2004 hat innerhalb eines breiten Spektrums des Umgangs mit unserer Kolonialgeschichte eine Reihe aufsehenderregender Standpunkte oder sogar amtlicher Verlautbarungen ergeben, die die politischen und gesellschaftlichen Realitäten der heutigen Geschichtsauffassungen ausmachen. Diese auf ihren Weisheits- oder gar historischen Wahrheitsgehalt zu untersuchen, kann nicht Aufgabe dieser Überlegungen sein. Auch verböten dieses der Takt - und Wirklichkeitssinn. Nun mögen Wahrheiten zwar konjunkturabhängig sein, aber sie sind unaufhaltsam. Man kann daher hoffen, dass sich in das wildgewachsene Gestrüpp der Geschichtsverständnisse unaufhaltsam eine Wahrheit eine Gasse brechen wird, die uns alle befreit.

Zum Abschluss meiner Laienbeiträge zur Wahrheitsfindung zum Gedenkjahr 2004, die die AZ und die Swakopmunder Gesellschaft für wissenschaftliche Entwicklung sowie die Schriftenreihe "Befunde und Berichte zur Deutschen Kolonialgeschichte" freundlicherweise druckten, möchte ich etwas vermessen einen großen Weisen zu Wort kommen lassen. Vor fast 2000 Jahren schrieb Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen"Wenn mich jemand widerlegen und überzeugen kann, dass meine Ansicht oder mein Tun nicht richtig ist, werde ich mit Freude meinen Standpunkt ändern. Denn ich suche die Wahrheit, von der noch niemals jemand geschädigt wurde. Schaden erleidet ja (nur) der, der in seinem Irrtum und Unverstand verharrt."



Heiner Schneider-Waterberg

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-16

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