Die Elite, die niemand brauchte
Die deutsche Wiedervereinigung schaffte eine neue Welt – und zerstörte 400 kleine
Sie sind die Heimatlosen des namibischen Unabhängigkeitskriegs: Die 400 sogenannten DDR-Kinder haben bis heute mit ihrer Identität zu kämpfen.
Von Astrid Probst und Florian Pütz, Windhoek
Für die Namibier ist Andrew Deutscher, für die Deutschen ist er Namibier. Andrew Imalwa ist schwarz. Seine Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen, nervös fummelt er an einem Loch in seiner Jeans herum, als er seine ungewöhnliche Lebensgeschichte erzählt – auf Deutsch.
Er sitzt in einem Café in Windhoek. „Ich nehm ein Bier“, sagt der 38-Jährige, blinzelt verschmitzt unter seiner Kappe hervor und wartet beinahe auf ein zustimmendes Nicken. Er grinst breit, als das Draught vor ihm steht.
Mit der Frage, wo er nun dazu gehört, beschäftigt sich Andrew Imalwa schon seit knapp 30 Jahren. Aufgewachsen ist er in der DDR, geboren wurde er 1980 als namibischer Flüchtling in einem Flüchtlingslager im sambischen Nyango. Dorthin war seine Mutter wegen des Unabhängigkeitskriegs gegen Südafrika geflohen.
Hier begann sein Weg nach Deutschland. „Es war so“, fängt er an, fuchtelt wild mit den Händen und deutet mit dem Zeigefinger wahllos in der Luft herum. „Wir wurden einfach ausgewählt, du, du und du – die Kinder kamen dann mit.“ Er war gerade zwei Jahre alt, seine Mutter tot, sein Vater unbekannt, als er so für ein ungewöhnliches Projekt ausgewählt wurde.
Sozialistische Hilfe
Denn Andrew zählt zu den rund 400 namibischen Kindern, die aus Flüchtlingslagern in die DDR geschickt wurden. Der Anführer der namibischen Freiheitskämpfer, Dr. Sam Nujoma, hatte seine sozialistischen Verbündeten in Deutschland um Hilfe gebeten. Auslöser für diese Bitte war die lebensbedrohliche Lage der Flüchtlinge. Viele der Kinder hatten ihre Eltern verloren. Anfang der 80er Jahre stimmte die DDR zu, hunderte Kinder aufzunehmen. Dort sollten sie zu einer neuen sozialistischen Elite für Namibia erzogen werden.
So wurde Andrew, als er 1982 in Deutschland ankam, zu Kind Nr. 9. „Die Nummer stand sogar in meinen Socken“, erinnert er sich. In Bellin, bei Rostock, erhielt er, wie alle Kinder, einen Stapel Wäsche. Die eingestickte Nummer war das einzige, was die Kleidung voneinander unterschied. „Jeder bekam genau das Gleiche. Das war das Langweilige daran“, erinnert sich Andrew an seine erste sozialistische Erfahrung.
Schule, Fußball und der erste Winter
Langweilig war seine Kindheit aber ganz und gar nicht. Im Gespräch wirkt Andrew schüchtern. Aber wenn an den Spaß, den er in Bellin und Staßfurt hatte zurückdenkt, grinst er schelmisch. Er ging zur Schule, spielte Fußball, lebte mit den anderen DDR-Kindern in einem echten Schloss – und erlebte seinen ersten weißen Winter. „Schlittschuhlaufen, einen Schneemann bauen und Weihnachten - das war ein Highlight.“ Wenn er so von seiner Kindheit erzählt, ist Andrew weniger zurückhaltend, er fühlt sich wohl und hat aufgehört, nervös an dem Loch in seiner Hose herumzuzupfen. Es scheint, als würde er sich wieder zurückwünschen. Dann stöhnt Andrew genervt auf, er erinnert sich an etwas. „Woahh, das war schlimm.“ Es geht um den „deutschen Mittagsschlaf“, wie er es nennt. Er verzieht das Gesicht. „Man musste sich hinlegen und schlafen, aber ich wollte lieber spielen und was erleben.“
Neugierig und ständig auf der Suche nach neuen Abenteuern – das waren viele. Und den Kindern wurde einiges geboten: Als Radsporttrainer betreute Volker Thormeyer ein paar DDR-Kinder. Statt sich dem Leistungssport zu unterwerfen, schnappten sich die Kinder die Räder aber lieber, um zum Badesee zu fahren. Zitat?
Zur Ausbildung der neuen namibischen Elite gehörte auch der sozialistische Drill. „Jeden Morgen nach dem Aufstehen mussten wir zum Appell antreten“, erinnert sich Andrew. Immer wieder war den Kindern erzählt worden, sie seien „die wichtigen Kinder“. Sie sollten Namibia als Politiker und Machthaber lenken, deswegen wurden ihnen in der DDR sozialistische Werte vermittelt.
Eine Welt bricht zusammen
Andrew sagt selbst, dass er eine super Kindheit hatte – wie im Paradies. 1990 war das plötzlich vorbei. Die DDR gab es nicht mehr. Während sich tausende Deutsche über die Wiedervereinigung freuten, war dies der Moment für die DDR-Kinder, in dem ihre heile Welt zerbrach. Das sozialistische Projekt wurde eingestellt. Und auch Namibia wurde unabhängig. Die Abreise erfolgte plötzlich, verstanden haben es die Kinder damals nicht.
„Ich dachte: Ach, ein bisschen reisen, nach Namibia. Wer weiß schon, wo das ist? Dann kommen wir zurück und es geht weiter.“ Es ging nicht weiter. Aber das realisierte der zehnjährige Andrew erst im Auffanglager in Katutura. „Man hat zugesehen, wie jeder von seiner Familie abgeholt wurde.“ Andrew zieht eine zerknitterte Serviette aus seiner Hosentasche, er stockt, spricht leiser. „Das war nicht das Beste.“ Er putzt sich die Nase und wischt sich über die Augen, nimmt einen großen Schluck Bier. Nach zwei Wochen holte ihn dann sein Onkel ab, ihn nennt er heute seinen Vater.
Zurück in Namibia war es nicht leicht für Andrew: Er beherrschte die Sprache seiner Familie nicht, verhielt sich anders und schien schlicht nicht hineinzupassen. Dabei hatten sie in der DDR ein wenig Oshivambo gelernt. Wie aus dem Nichts singt Andrew los - auf der Sprache des Ovambo-Stammes, aber die Melodie erkennt man sofort. „Kommt ein Vogel geflogen...“ Er summt vor sich hin, schließt die Augen und lacht auf.
„Nichts wie zurück“
Viele der DDR-Kinder kamen ins Ovamboland. So auch Theresia. Weil sie keine Familie mehr hatte, wurde sie an eine Hotelfachschule geschickt. Aufgenommen wurde sie schließlich von Veronika Schiltsky. Lachend erzählt die 74-Jährige, wie sie damals ins Klassenzimmer ging. „Ich habe gesagt, wer es meint, mit dieser alten Schachtel auszuhalten, der kann sich bei mir melden“, erzählt sie mit einem berlinerischen Einschlag. „Nimmste mick“, soll Theresia zu ihr gesagt, sich Veronikas Hand geschnappt und nicht mehr losgelassen haben. Veronika lacht, als sie davon erzählt. Heute hat sie einen Enkelsohn und Theresia ist wieder zurück in Deutschland. „Die konnte mit den Männern hier nix anfangen, für sie galt nichts wie zurück“, sagt sie leicht traurig darüber, dass ihre Tochter nicht mehr bei ihr in Windhoek ist.
Aus der versprochenen Zukunft als sozialistische Elite Namibias ist für die DDR-Kinder nichts geworden. Daran geglaubt hat Andrew sowieso nie. „Ich als kleiner Kerl soll ein ganzes Land in die richtige Richtung führen?“, sagt er. „Ne, das habe ich nicht geglaubt.“ Als die 400 Kinder in Namibia ankamen, hatten sich die Versprechen in Luft aufgelöst.
Stattdessen fanden sich die Kinder in einem fremden Land wieder, das eigentlich ihre Heimat sein sollte. Lucia Engombe – ehemals Kind Nr. 95 – schildert ihre ersten Eindrücke: „Ich war tief enttäuscht“, sagt sie und macht eine lange Pause. Zurück in Namibia vermisst sie den deutschen Luxus, Strom, fließendes Wasser, Makkaroni: „Das war wie ein Kulturschock für mich, ich dachte doch Namibia sei ein reiches Land“. Statt Makkaroni gab es für sie auf der Farm im Ovamboland Pap, sie verzieht angewidert das Gesicht. Den Maisbrei gab es dreimal täglich, jeden Tag in der Woche.
Vom eintönigen Leben hatte die damals 18-Jährige bald genug und ging nach Windhoek. Heute sagt sie, dass es Jahre dauerte, bis sie sich in Namibia endlich wohlfühlte. Denn nicht nur Namibia war ihr fremd, sondern auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. „Zu merken, dass du ärmer bist als andere“, das war für sie neu, hatten sie in der DDR doch alle das Gleiche.
Die Frage nach der Identität
Heute arbeitet Lucia als Journalistin für das deutsche Programm des Radiosenders NBC. Sie hat ihr eigenes Büro, auf dem Tisch liegen deutsche Hörspiele und Zettel, zum Aufräumen scheint sie zu beschäftigt. Aus einer Schublade zieht sie Fotoalben heraus, sie hat alles aufgehoben, auch als Material für ihre Biografie „Kind Nr. 95“, die 2004 erschienen ist. Darin beschreibt sie, wie viele Kinder in der fremden Heimat keinen Halt fanden. Auch diejenigen, die in ihre Familien zurückkehrten, hatten Probleme, wurden von Verwandten ausgelacht und fühlten sich fehl am Platz. Sie waren weder Deutsche, noch Namibier. Mit dieser Identitätsfrage haben sie bis heute zu kämpfen. Einige betteln in den Straßen Windhoeks, andere landeten auf dem Strich. „Viele haben die Liebe woanders gesucht“, sagt Lucia nüchtern.
Andrew meint, die meisten der DDR-Kinder hätten es geschafft, sich ein gutes Leben aufzubauen. Ein Freund von ihm arbeitet als Zahnarzt. Ein anderer, Nixon Marcus, ist ein bekannter Anwalt geworden. Andrew selbst ist als freiberuflicher Reiseleiter zufrieden, sagt er. Seine kaputte Jeans, die roten Augen und seine abgetragene Kappe stellen das in Frage – und auch die Tatsache, dass das Geld nur für das Leben in Katutura reicht.
Er nimmt einen letzten Schluck aus seinem Bierglas, zahlen wird er es nicht selbst. Unsicher, beinahe beschämt fragt er nach etwas Geld für ein Taxi. Dann geht er. Das Loch in seiner Hose ist mittlerweile noch weiter ausgefranst.
Von Astrid Probst und Florian Pütz, Windhoek
Für die Namibier ist Andrew Deutscher, für die Deutschen ist er Namibier. Andrew Imalwa ist schwarz. Seine Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen, nervös fummelt er an einem Loch in seiner Jeans herum, als er seine ungewöhnliche Lebensgeschichte erzählt – auf Deutsch.
Er sitzt in einem Café in Windhoek. „Ich nehm ein Bier“, sagt der 38-Jährige, blinzelt verschmitzt unter seiner Kappe hervor und wartet beinahe auf ein zustimmendes Nicken. Er grinst breit, als das Draught vor ihm steht.
Mit der Frage, wo er nun dazu gehört, beschäftigt sich Andrew Imalwa schon seit knapp 30 Jahren. Aufgewachsen ist er in der DDR, geboren wurde er 1980 als namibischer Flüchtling in einem Flüchtlingslager im sambischen Nyango. Dorthin war seine Mutter wegen des Unabhängigkeitskriegs gegen Südafrika geflohen.
Hier begann sein Weg nach Deutschland. „Es war so“, fängt er an, fuchtelt wild mit den Händen und deutet mit dem Zeigefinger wahllos in der Luft herum. „Wir wurden einfach ausgewählt, du, du und du – die Kinder kamen dann mit.“ Er war gerade zwei Jahre alt, seine Mutter tot, sein Vater unbekannt, als er so für ein ungewöhnliches Projekt ausgewählt wurde.
Sozialistische Hilfe
Denn Andrew zählt zu den rund 400 namibischen Kindern, die aus Flüchtlingslagern in die DDR geschickt wurden. Der Anführer der namibischen Freiheitskämpfer, Dr. Sam Nujoma, hatte seine sozialistischen Verbündeten in Deutschland um Hilfe gebeten. Auslöser für diese Bitte war die lebensbedrohliche Lage der Flüchtlinge. Viele der Kinder hatten ihre Eltern verloren. Anfang der 80er Jahre stimmte die DDR zu, hunderte Kinder aufzunehmen. Dort sollten sie zu einer neuen sozialistischen Elite für Namibia erzogen werden.
So wurde Andrew, als er 1982 in Deutschland ankam, zu Kind Nr. 9. „Die Nummer stand sogar in meinen Socken“, erinnert er sich. In Bellin, bei Rostock, erhielt er, wie alle Kinder, einen Stapel Wäsche. Die eingestickte Nummer war das einzige, was die Kleidung voneinander unterschied. „Jeder bekam genau das Gleiche. Das war das Langweilige daran“, erinnert sich Andrew an seine erste sozialistische Erfahrung.
Schule, Fußball und der erste Winter
Langweilig war seine Kindheit aber ganz und gar nicht. Im Gespräch wirkt Andrew schüchtern. Aber wenn an den Spaß, den er in Bellin und Staßfurt hatte zurückdenkt, grinst er schelmisch. Er ging zur Schule, spielte Fußball, lebte mit den anderen DDR-Kindern in einem echten Schloss – und erlebte seinen ersten weißen Winter. „Schlittschuhlaufen, einen Schneemann bauen und Weihnachten - das war ein Highlight.“ Wenn er so von seiner Kindheit erzählt, ist Andrew weniger zurückhaltend, er fühlt sich wohl und hat aufgehört, nervös an dem Loch in seiner Hose herumzuzupfen. Es scheint, als würde er sich wieder zurückwünschen. Dann stöhnt Andrew genervt auf, er erinnert sich an etwas. „Woahh, das war schlimm.“ Es geht um den „deutschen Mittagsschlaf“, wie er es nennt. Er verzieht das Gesicht. „Man musste sich hinlegen und schlafen, aber ich wollte lieber spielen und was erleben.“
Neugierig und ständig auf der Suche nach neuen Abenteuern – das waren viele. Und den Kindern wurde einiges geboten: Als Radsporttrainer betreute Volker Thormeyer ein paar DDR-Kinder. Statt sich dem Leistungssport zu unterwerfen, schnappten sich die Kinder die Räder aber lieber, um zum Badesee zu fahren. Zitat?
Zur Ausbildung der neuen namibischen Elite gehörte auch der sozialistische Drill. „Jeden Morgen nach dem Aufstehen mussten wir zum Appell antreten“, erinnert sich Andrew. Immer wieder war den Kindern erzählt worden, sie seien „die wichtigen Kinder“. Sie sollten Namibia als Politiker und Machthaber lenken, deswegen wurden ihnen in der DDR sozialistische Werte vermittelt.
Eine Welt bricht zusammen
Andrew sagt selbst, dass er eine super Kindheit hatte – wie im Paradies. 1990 war das plötzlich vorbei. Die DDR gab es nicht mehr. Während sich tausende Deutsche über die Wiedervereinigung freuten, war dies der Moment für die DDR-Kinder, in dem ihre heile Welt zerbrach. Das sozialistische Projekt wurde eingestellt. Und auch Namibia wurde unabhängig. Die Abreise erfolgte plötzlich, verstanden haben es die Kinder damals nicht.
„Ich dachte: Ach, ein bisschen reisen, nach Namibia. Wer weiß schon, wo das ist? Dann kommen wir zurück und es geht weiter.“ Es ging nicht weiter. Aber das realisierte der zehnjährige Andrew erst im Auffanglager in Katutura. „Man hat zugesehen, wie jeder von seiner Familie abgeholt wurde.“ Andrew zieht eine zerknitterte Serviette aus seiner Hosentasche, er stockt, spricht leiser. „Das war nicht das Beste.“ Er putzt sich die Nase und wischt sich über die Augen, nimmt einen großen Schluck Bier. Nach zwei Wochen holte ihn dann sein Onkel ab, ihn nennt er heute seinen Vater.
Zurück in Namibia war es nicht leicht für Andrew: Er beherrschte die Sprache seiner Familie nicht, verhielt sich anders und schien schlicht nicht hineinzupassen. Dabei hatten sie in der DDR ein wenig Oshivambo gelernt. Wie aus dem Nichts singt Andrew los - auf der Sprache des Ovambo-Stammes, aber die Melodie erkennt man sofort. „Kommt ein Vogel geflogen...“ Er summt vor sich hin, schließt die Augen und lacht auf.
„Nichts wie zurück“
Viele der DDR-Kinder kamen ins Ovamboland. So auch Theresia. Weil sie keine Familie mehr hatte, wurde sie an eine Hotelfachschule geschickt. Aufgenommen wurde sie schließlich von Veronika Schiltsky. Lachend erzählt die 74-Jährige, wie sie damals ins Klassenzimmer ging. „Ich habe gesagt, wer es meint, mit dieser alten Schachtel auszuhalten, der kann sich bei mir melden“, erzählt sie mit einem berlinerischen Einschlag. „Nimmste mick“, soll Theresia zu ihr gesagt, sich Veronikas Hand geschnappt und nicht mehr losgelassen haben. Veronika lacht, als sie davon erzählt. Heute hat sie einen Enkelsohn und Theresia ist wieder zurück in Deutschland. „Die konnte mit den Männern hier nix anfangen, für sie galt nichts wie zurück“, sagt sie leicht traurig darüber, dass ihre Tochter nicht mehr bei ihr in Windhoek ist.
Aus der versprochenen Zukunft als sozialistische Elite Namibias ist für die DDR-Kinder nichts geworden. Daran geglaubt hat Andrew sowieso nie. „Ich als kleiner Kerl soll ein ganzes Land in die richtige Richtung führen?“, sagt er. „Ne, das habe ich nicht geglaubt.“ Als die 400 Kinder in Namibia ankamen, hatten sich die Versprechen in Luft aufgelöst.
Stattdessen fanden sich die Kinder in einem fremden Land wieder, das eigentlich ihre Heimat sein sollte. Lucia Engombe – ehemals Kind Nr. 95 – schildert ihre ersten Eindrücke: „Ich war tief enttäuscht“, sagt sie und macht eine lange Pause. Zurück in Namibia vermisst sie den deutschen Luxus, Strom, fließendes Wasser, Makkaroni: „Das war wie ein Kulturschock für mich, ich dachte doch Namibia sei ein reiches Land“. Statt Makkaroni gab es für sie auf der Farm im Ovamboland Pap, sie verzieht angewidert das Gesicht. Den Maisbrei gab es dreimal täglich, jeden Tag in der Woche.
Vom eintönigen Leben hatte die damals 18-Jährige bald genug und ging nach Windhoek. Heute sagt sie, dass es Jahre dauerte, bis sie sich in Namibia endlich wohlfühlte. Denn nicht nur Namibia war ihr fremd, sondern auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. „Zu merken, dass du ärmer bist als andere“, das war für sie neu, hatten sie in der DDR doch alle das Gleiche.
Die Frage nach der Identität
Heute arbeitet Lucia als Journalistin für das deutsche Programm des Radiosenders NBC. Sie hat ihr eigenes Büro, auf dem Tisch liegen deutsche Hörspiele und Zettel, zum Aufräumen scheint sie zu beschäftigt. Aus einer Schublade zieht sie Fotoalben heraus, sie hat alles aufgehoben, auch als Material für ihre Biografie „Kind Nr. 95“, die 2004 erschienen ist. Darin beschreibt sie, wie viele Kinder in der fremden Heimat keinen Halt fanden. Auch diejenigen, die in ihre Familien zurückkehrten, hatten Probleme, wurden von Verwandten ausgelacht und fühlten sich fehl am Platz. Sie waren weder Deutsche, noch Namibier. Mit dieser Identitätsfrage haben sie bis heute zu kämpfen. Einige betteln in den Straßen Windhoeks, andere landeten auf dem Strich. „Viele haben die Liebe woanders gesucht“, sagt Lucia nüchtern.
Andrew meint, die meisten der DDR-Kinder hätten es geschafft, sich ein gutes Leben aufzubauen. Ein Freund von ihm arbeitet als Zahnarzt. Ein anderer, Nixon Marcus, ist ein bekannter Anwalt geworden. Andrew selbst ist als freiberuflicher Reiseleiter zufrieden, sagt er. Seine kaputte Jeans, die roten Augen und seine abgetragene Kappe stellen das in Frage – und auch die Tatsache, dass das Geld nur für das Leben in Katutura reicht.
Er nimmt einen letzten Schluck aus seinem Bierglas, zahlen wird er es nicht selbst. Unsicher, beinahe beschämt fragt er nach etwas Geld für ein Taxi. Dann geht er. Das Loch in seiner Hose ist mittlerweile noch weiter ausgefranst.
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Allgemeine Zeitung
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