Die „Wiege der evangelischen Mission in Afrika“
Rund 150 Kilometer östlich von Kapstadt liegt am Fuße des Sonderendgebirges und dem gleichnamigen Fluss der kleine Ort Genadendal. Hier gründete der von der Herrnhuter Brüdergemeine ausgesandte Fleischergeselle Georg Schmidt am 23. April 1738 – und damit vor nunmehr 275 Jahren – die erste fest erbaute Missionsstation Südafrikas. Wegen der vielen in der Umgebung vorkommenden Affen nannte er die Niederlassung zunächst Baviaanskloof (Pavianschlucht). Doch sein Wirken war nur von kurzer Dauer, denn die Niederländisch-Reformierte Kirche, die eine nahezu unumschränkte Souveränität am Kap ausübte und für sich in Anspruch nahm, alleinige Verwalterin der Sakramente zu sein, forderte Schmidt schon bald auf, seine Missionstätigkeit unter den eingeborenen Khoekhoe (wegen ihrer an Schnalz- und Klicklauten reichen Sprache von den weißen Siedlern „Hottentotten“ genannt) einzustellen und das Land zu verlassen. So verfiel nach seiner Rückkehr 1744 die kleine Siedlung, und die Gemeinde zerstreute sich.
Neuanfang
Erst 1793, also ein halbes Jahrhundert später, wurde die missionarische Arbeit auf den Ruinen der alten Station wieder aufgenommen. Nach ersten Erfolgen gerieten die drei eingetroffenen Herrnhuter Brüder Marsveld, Schwinn und Kühnel aber schon im Jahr darauf in arge Bedrängnis, weil sich in der Zwischenzeit die Aufklärungsideale der Französischen Revolution und die damit verbundenen weltpolitischen Veränderungen auch auf Südafrika ausgewirkt hatten. Fast sah es so aus, als sei erneut das Ende gekommen, da besetzten 1795 die Briten das Kapland, und fortan standen die Missionare unter dem Schutz der Regierung in London. Die Niederlassung breitete sich in den folgenden Jahren so schnell aus, dass sie 1802, als Südafrika vorübergehend wieder in den Besitz der Niederländer geriet, die nach Kapstadt zweitgrößte Ansiedlung der Kolonie bildete.
Umbenennung
Als 1805 einer der Brüder, der vorübergehend als Feldprediger nach Kapstadt berufen worden war, dort den niederländischen Gouverneur Janssens traf, der kurz zuvor selbst die Station besucht hatte, erwähnte letzterer im Gespräch, dass Baviaanskloof ein der Missionsniederlassung doch eigentlich nicht angemessener Name sei, zumal die Brüder auch anderswo ihren Stationen sinnvollere Bezeichnungen gegeben hätten. Er schlug vor, den Ort „Gnadenthal“ oder „Neue Aue“ zu nennen. Nach Rücksprache entschieden sich die Missionare dann für den ersteren Namen, und so erließ der Gouverneur am 1. Januar 1806 eine Bekanntmachung, nach der die Siedlung künftig „Genaden-Dal“ heißen solle (deutsche Schreibweise „Gnadenthal“, seit der Rechtschreibreform von 1900 „Gnadental“, niederländisch „Genadental“, afrikaans „Genadendal“, englisch „Valley of Grace“). „Und in der Tat“, so heißt es dazu in dem Buch „Evangelische Missionsgeschichte“, „ein entsprechenderer Name hätte für den Ort nicht gefunden werden können: war es nicht die Gnade, die ihn hervorgerufen und erhalten hatte, war es nicht die Gnade, die an den Bewohnern ihr seligmachendes Werk trieb?“
Mehr Schutz
Noch im selben Jahr endete erneut die Herrschaft der Niederländer am Kap, und die Kolonie ging wieder in den Besitz Großbritanniens über. Der neue Gouverneur versprach der Herrnhuter Mission nicht nur seinen ausgedehnten Schutz, sondern er ermunterte die Brüder sogar, ihre Tätigkeit über die Grenzen der bisherigen Gemeinde auszudehnen. So erlebte Genadendal, das auch als die „Wiege der evangelischen Mission in Afrika“ bezeichnet wird, im 19. Jahrhundert seine Blütezeit. 1820 bauten die Missionare über den nahegelegenen Sonderendfluss („Fluss ohne Ende“) die erste Brücke Südafrikas, und 1837 wurde hier das erste Lehrerseminar des Landes errichtet, das jetzt das „Moravian Mission Museum“ beherbergt. Schließlich wurden in der 1859 vor Ort errichteten Druckerei zum ersten Mal in Südafrika Schrifterzeugnisse in afrikaanser Sprache hergestellt.
Mandela in Genadendal
Südafrikas Präsident Nelson Mandela war von dem friedlichen Miteinander, das die Siedlung von Beginn an prägte und den Leistungen, die dort erbracht wurden, so beeindruckt, dass er am 1. Februar 1995 seinen Kapstädter Amtssitz, einen Teil der historischen Anlage Groote Schuur, der bis dahin Westbrooke hieß und seit 1910 allen Premierministern (seit 1984 den Präsidenten) des Landes als Residenz gedient hatte, in Genadendal umbenannte. Noch am 10. Oktober desselben Jahres stattete Mandela dann dem Ort Genadendal einen offiziellen Besuch ab und versprach dabei den Ausbau der Infrastruktur, der bald auch erfolgte. War Genadendal noch zur großen 250-Jahr-Feier 1988 ein unscheinbares Dorf, das man nur über eine Schotterstraße erreichte, so ist es inzwischen zu einer touristischen Attraktion abseits der berühmten Gartenroute zwischen Kapstadt und Port Elizabeth geworden – eine Art Freilichtmuseum, das aber trotzdem voller Leben ist. Und in der Ortsmitte von Genadendal, das heute mehr als 3.000 Einwohner zählt, wächst inzwischen der dritte Nachkomme eines von Missionar Schmidt vor 275 Jahren gepflanzten Birnbaums.
Ortsname in aller Welt verbreitet
Der Name „Gnadental“ (oder in der älteren Form „Gnadenthal“) taucht sowohl in Deutschland als auch im europäischen Ausland und in Übersee verschiedentlich auf und ist zumeist religiösen Ursprungs, denn oft entstand der jeweilige Ort in der Folge eines zuvor gegründeten gleichnamigen Klosters. Insbesondere bei den Zisterziensern war die Bezeichnung beliebt, und so wurden mindestens vier Klöster (allesamt für die weiblichen Angehörigen des Ordens) entsprechend benannt: im hessischen Hünfelden (1235), im schwäbischen Michelfeld (1245), im rheinischen Neuss (1250) und in der Schweizer Gemeinde Niederwil im Aargau (1282). Alle diese Klöster existieren heute nicht mehr in der ursprünglichen Funktion, doch die Gebäude, soweit noch erhalten, dienen anderen (weltlichen) Zwecken. Dabei hat vor allem das Ordenshaus in Neuss in den Jahrhunderten seines Bestehens Geschichte geschrieben und ist heute Namensgeber eines Ortsteils, der als Keimzelle der gesamten Stadt gilt. Neuss ist nämlich zusammen mit Trier eine der beiden ältesten römischen Städtegründungen auf deutschem Boden. Beide datieren aus dem Jahr 16 vor Christi Geburt und konnten deshalb 1984 ihr 2000jähriges Bestehen feiern. Bei den damals in Neuss abgehaltenen Jubiläumsveranstaltungen weihte Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens auf dem einstigen Gelände des Römerlagers, das zwei Jahrtausende zuvor hier an der Mündung des Flüsschens Erft in den Rhein durch den Feldherrn Drusus errichtet worden war, einen historischen Rundgang mit Informationstafeln und Duplikaten römischer Funde ein. Das Territorium, wo Neuss (lateinisch „Novaesium“) seinen Ursprung nahm, befindet sich südlich des heutigen Ortszentrums und bildet seit fünf Jahrzehnten den Stadtteil Gnadental, dessen Name allerdings nicht auf die Zeit des Imperium Romanum zurückgeht, sondern sich von einem später dort errichteten Kloster ableitet.
Wolfgang Reith
BU Missionshaus
Im kapholländischen Stil – das Missionsmuseum von Genadendal. Fotos: Wolfgang Reith
BU Missionar Schmidt
Gründer der Station – Missionar Georg Schmidt
BU
Am Ortseingang kündigt ein Schild die historische Missionsstätte an.
Geschichte/History
Genadendal, Reith, Missionsstation, Schmidt
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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