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Drei Leben,ein Schicksal

Wir meiden sie, schauen weg, wenn sie uns entgegenkommen oder beschimpfen sie, wenn sie betteln. Sie sind lästig und klauen. Schuldig oder unschuldig, Windhoeks Straßenkinder sind Teil unserer Gesellschaft. Ihr Schicksal ist grausam, aber real.

Es ist Samstagfrüh. Aber es hätte auch Montag oder Dienstag oder Donnerstag sein können. Beim ersten Vogelgezwitscher wickelt sich Stoney die kleine graue Decke ganz eng um sich. Der Staub hat ihn grau gefärbt und er muss sich, bei Temperaturen um die fünf Grad Celsius entscheiden, ob Füße oder Kopf der Kälte ausgesetzt werden. Im Halbschlaf fällt die Entscheidung dann auf die Füße, und unter der verfilzten Pep Stores-Wolldecke gewinnt er eine weitere Stunde Schlaf, bevor das penetrante Hupen eines Taxifahrers ihn weckt. Stoney reibt sich die kalten Füße und schlüpft barfuß in die alten Lederschuhe. Seit gestern bohrt sich beim linken Schuh der schmutzige Zeh durch ein Loch. Ein Wollschaal wird schützend über Ohren und Stirn gewickelt. So bändigt er auch seine wilde Frisur. Stoney spuckt zufrieden auf den Boden und grinst, als ein Fußgänger ihm voller Ekel dabei zuschaut.


Das Zimmer ist schnell zusammengepackt: Die Kartons zum Draufliegen und gegen den seitlichen Windschutz faltet er gekonnt zusammen. Die zweite Hose und das Sweatshirt werden mit der Decke aufgerollt und das ganze Paket muss anschließend im Baum versteckt werden. Einer ohne Dornen natürlich. Erst vor ein paar Tagen wurde ihm seine zweite Decke gestohlen. Beleidigt suchte er sich einen neuen Schlafplatz, im Rivier in der Nähe des Eros-Einkaufzentrums.


Seine Drahtpuppe nimmt Stoney mit. Dann geht der schlaksige Junge los, Richtung Stadtmitte. Auf dem Weg trifft er Oupa. "Verdammt kalt heute", grüßt der 21-Jährige seinen nach Alkohol riechenden Freund. Der Alte antwortet nicht. Stoney schlendert achselzuckend weiter.


Oupa wird wach, als ihn jemand mit dem Fuß vorsichtig anstößt. Er schreckt auf. Ein Sanitäter kniet neben seinem Kumpel, ein weiterer redet auf ihn ein. "Mensch, Alter, merkst du denn nicht, dass er tot ist!". Verwundert dreht sich Oupa um. Der Kopf seines Freundes liegt in einer Blutlache. Die Männer in blauer Uniform blicken kopfschüttelnd auf Oupa herab, heben den leblosen Körper schließlich auf eine Bahre und fahren fort. Oupa bleibt verkatert in seinem Versteck in der Nähe des Snyman-Zirkels liegen und denkt über den Vorfall nach. Monatelang hatte er die Wolldecke mit seinem Freund geteilt. Als er sich dann gestern Nacht zum Schlafen legte, wunderte er sich zwar über den roten Fleck, dachte aber, dass sich sein Kumpel vielleicht vom Rotwein übergeben musste und dann eingeschlafen ist. Jetzt weiß Oupa, dass er eine ganze Nacht neben seinem ermordeten Freund geschlafen hat, ohne dessen Tod zu bemerken. Und er weiß auch, wer der Mörder sein könnte. Der alte Mann kramt seine Sachen hastig zusammen und macht sich auf den Weg zur Leichenhalle des Staatskrankenhauses. Nachdem er den Toten identifiziert hat, geht er in die Stadt. Er bemerkt nicht, wie eine ihm bekannte Frau, die ebenfalls täglich ihre Mahlzeit bei der Suppenküche einnimmt, an ihm in Richtung Hospital vorbeigeht.


Die Falten in Margrets blutverschmiertem Gesicht erzählen von keinen einfachen 45 Jahren. Auch der heutige Tag, der mit Schmerzen am Kopf und am Finger anbricht, wird kein Kinderspiel. Sie kramt einen Spiegelsplitter aus der Plastiktüte und sieht sich die Platzwunde auf der Stirn genauer an. Ihr noch immer betrunkener Mann liegt schnarchend am Boden. Margret beginnt zu weinen, als sie sich das rosa Kopftuch mühsam umbindet. Zumindest an der Wunde am Finger ist ihr Mann nicht schuld. Irgendeine Frau hatte sie gestern im Streit gebissen. Daran kann sie sich noch vage erinnern. In der Behausung aus Pappe ist es dunkel, stickig und es riecht nach Urin.


Ihre beiden Kinder sind bei Bekannten im Haus untergekommen. Erleichtert darüber denkt sie an ihren ältesten Sohn, Norman, und fragt sich, ob sie ihn heute abend treffen wird. Vielleicht wurden sie wieder von der Polizei beim Stehlen erwischt und nach ein paar Strafschlägen für die Nacht eingelocht. Die Kinder kommen aber gut allein zurecht. "Es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen oder erlebt habe", scherzte Eric, ein Freund von Norman, als er vor ein paar Tagen von einem Sicherheitsbeamten von Shoprite beim Stehlen erwischt und grob am Kragen zur Polizeistation gezerrt wurde. Es ist ihr heute nicht so wichtig, der Finger ist entzündet und muss im Krankenhaus behandelt werden. Schwerfällig macht sich die zierliche Frau auf den Weg.


Seit es die Suppenküche am Gutenbergplatz gibt, ist es mit dem Hunger nicht mehr so schlimm. Und weil Stoney nun auch weniger betteln muss, schenkt er dem Basteln an seiner Drahtpuppe mehr Aufmerksamkeit. Diese will er nach ihrer Fertigstellung verkaufen. Er weiß auch schon wie: Seine zerschlissene Hose anziehen, "ich brauche Geld für meine Kinder" stammeln und von Touristen einen überhöhten Preis verlangen. Viel Erfolg hatte er in den letzten Wochen jedoch nicht. Vielleicht ist die Lüge mit den Kindern doch etwas dick aufgetragen. Die Verkaufsrate ist abhängig davon, wie effektiv man Mitleid erwecken kann und ob die Angesprochenen aus dem Ausland sind.


Für Stoney ist Arbeit wichtiger als ein Dach über dem Kopf. Betteln verabscheut er. Eigenes Geld zu verdienen ist ihm wiederum wichtiger als von gestohlenen Gegenständen zu leben, obwohl dies lukrativ sein kann. Viele seiner Freunde spezialisieren sich aufs Handy-klauen. Eric sagte, dass man ihm in einigen Geschäften in Windhoek für die neueren Modelle bis zu N$ 400 geboten habe. Aber seine Freunde sind auch wesentlich jünger und kleiner und können den Sicherheitsbeamten durch die Flucht in den Abwasserkanal entkommen.


Stoney wurde mit 15 Jahren aus dem Haus geschmissen. Sein Vater erklärte ihm damals, dass er alt genug sei, sich selbst zu versorgen. Seine Mutter ist schon früh gestorben, sie wurde vom Medizinmann vergiftet. Der Vater heiratete dann eine andere Frau mit sechs Kindern und irgendwann war da kein Platz mehr für Stoney. So kam er aus dem Norden nach Windhoek.


Als ein Nachkomme des Basterkapteins hat sich Oupa abends bei der Suppenküche am Gutenbergplatz zum Hauptputzer ernannt. Das ist eine verantwortungsvolle Position, die ein Herumkommandieren der anderen rechtfertigt. Das Drängeln vor der Küche und das Betteln um Decken und Kleidung kann leicht eskalieren. Außerdem muss er ständig Besen und Eimer vor Dieben verteidigen.


Alkoholkonsum wird bei der Suppenküche nicht geduldet und der alte Mann hofft, dass seine Fahne ihn heute nicht verraten wird. Und wenn ihn doch jemand darauf ansprechen sollte, wird er den Konsum vehement abstreiten und laut verpönen. Er ist schließlich ein anständiger Mann. Und er weiß, er kann der Frau von der Suppenküche imponieren, wenn er sagt, dass sein Leben in den Händen des lieben Gottes liege. Das hat er von Michael, einem Bekannten, abgeschaut. Dieser hat ja auch recht. Der Gedanke, dass sein Leben der Wille Gottes sei, wirkt tröstend.


Oupa hofft, dass heute abend nicht wieder Fotos gemacht werden. Wie Lola, seine Cousine, schämt er sich abgebildet zu werden. "Es muss ja nicht jeder wissen, dass wir zwei von diesen Suppen-Schmarotzern sind. Außerdem sehen wir schlampig aus", hat Lola am Donnerstag beim Besuch eines anscheinend wichtigen Ministers gesagt. Oupa mag Lola, denn sie zeigt Stolz. "Ich bin von Zuhause abgehauen, weil es dort keine Liebe mehr gab", hat sie der Frau erzählt. 1985 sind sie beide von Rehoboth nach Windhoek gekommen.


Mit einem dicken weißen Verband um den rechten Mittelfinger fühlt sich Margret gegen Mittag ein wenig besser. Damit kann sie bestimmt heute Abend bei der Frau Mitleid erwecken. Sie lässt ihre dünne Jacke zuhause, denn Zittern und Frieren erhöhen die Chance auf eine Gabe. Das machen auch alle anderen. Eine Decke hat sie bereits verkauft und mit dem Erlös wird sie heute vielleicht eine kleine Flasche tröstendes Getränk kaufen. Nur noch dieses eine Mal.


Margret verbringt den Tag damit, in den Mülltonnen zu wühlen. Sie hat wenig Erfolg. Dann geht sie zurück nach Katutura, weckt ihren Mann und zusammen gehen sie wortlos in Richtung Stübelstraße. Sie kennen alle Straßen dieser Stadt. Margret ist hier geboren.


Stoney und Oupa treffen pünktlich um 18.30 Uhr bei der Suppenküche ein. Auch Norman, Eric, Willi, Lola, Abi, Wilhemina, Patrick, Michael, Esme, Bernd und einige andere sind schon da.


Norman sitzt mit gespreizten Beinen auf dem Boden und übergibt sich. Mitleid zeigt keiner. "Kein Wunder. Hör endlich auf damit, Klebe zu schnüffeln", lacht ihn einer aus. Oupa will die Sauerei von Norman nicht saubermachen und beschwert sich lauthals. Keiner hört ihm zu. Er wartet auf die Leute von der Suppenküche, er muss ihnen unbedingt von dem Mord an seinem Freund erzählen. Auch Stoney wartet auf die Frau. Diese hat ihm Strümpfe versprochen. Der 13-jährige Eric jammert währendessen über eine Messerstichwunde im Arm, die er sich im Streit um sein spärliches Eigentum zugezogen hat. Willi erzählt alte Geschichten. Es herrscht heitere Stimmung. Für gegenseitiges Mitleid hat hier keiner Zeit.


Margret ist heute nicht gekommen.


Dann kommt die Frau mit der Suppe. Alle stellen sich in die Reihe, Kinder dürfen nach vorne. Es wird still auf der Straße. Die meisten ziehen sich zurück und genießen in Ruhe ihre Suppe. Schlürfen. Schmatzen. Die Suppe erwärmt die Gemüter und die Hoffnung auf Arbeit. Alles andere sind Träumereien.


Als die Decken verteilt werden, schlägt die Laune um. Es wird geschubst und gemeckert. Gegenseitig beschimpft man sich als Betrüger. Lügen ist eine Überlebensstrategie, ebenso wie Klauen und Betteln. Einige haben Behälter mitgenommen, damit sie ihren Nachschlag mitnehmen können. Jedes bisschen zählt.


Die grauen Wollstrümpfe zieht sich Stoney sofort über seine kalten Füße. Gutgelaunt macht er sich dann auf den Weg nach Eros. Er braucht etwa 30 Minuten zu Fuß. Aber das macht ihm heute weniger aus, die Schuhe sind durch die Socken viel bequemer.


Oupa bleibt als einziger den ganzen Abend über betrübt. Er verlässt nach dem Aufräumen als letzter die Suppenküche. Dann trottet er zurück zum Snyman-Zirkel. Bevor er einschläft, gönnt er sich einen "Dop". Er weiß noch nicht, dass man ihn dort morgen wegscheuchen wird.


Dann ist es Sonntagfrüh.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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