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Ernüchterung in Südafrika trotz Mandelas historischer Verdienste

Clemens von Alten
Von Jürgen Bätz, Deutsche Presse-Agentur (dpa), Johannesburg

Nelson Mandela wird in Südafrika mit religiöser Ehrfurcht als Vater der Nation verehrt. Jahrzehnte seines Leben hat er dem Kampf gegen das rassistische Apartheidregime gewidmet, dann predigte er Versöhnung mit den Weißen und baute das Land als erster demokratisch gewählter Präsident aus den moralischen Ruinen der Rassendiskriminierung wieder auf. Doch trotz der historischen Verdienste des Friedensnobelpreisträgers, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, herrscht inzwischen vor allem bei der schwarzen Bevölkerungsmehrheit in Südafrika große Ernüchterung.

Vor dem Gesetz sind jetzt alle Menschen gleich – doch was Wohlstand und Bildungschancen angeht, ist die weiße Minderheit nach wie vor viel besser gestellt. Trotz einer Reduzierung der Armut hat sich daran auch unter dem 2013 gestorbenen Mandela und seinen Erben von der Regierungspartei ANC wenig geändert. „Südafrika ist eines der ungleichsten Länder in der Welt und die Ungleichheit hat seit dem Ende der Apartheid 1994 weiter zugenommen“, kommentiert die Weltbank.

Diese Realität spiegelt sich auch in den Straßen der Wirtschaftsmetropole Johannesburg, in der die Villen der Reichen und die Wellblechhütten der Ärmsten oft nur Kilometer voneinander entfernt sind. Im südwestlichen Township Soweto etwa, jenem Armenviertel, in dem einst auch Mandela wohnte, leben bis heute viele Familien in Hütten von der Größe eines deutschen Kinderzimmers. Mancherorts teilen sich Dutzende Anwohner einen Wasserhahn zum Waschen und Kochen. Auf vielen Straßen flitzen Ratten zwischen Müllhaufen, Kinder spielen im Dreck.

In einer Rede zu Ehren Mandelas sagte der frühere US-Präsident Barack Obama gestern, der Kampf gegen Ungleichheit und Diskriminierung müsse stets weitergeführt werden. Mandela habe Millionen Menschen inspiriert, sich für eine bessere und gerechtere Welt einzusetzen – und das sogar aus seiner Gefängniszelle heraus. „Der Kampf um Gerechtigkeit ist nie vorüber“, sagte Obama in einem Sportstadion in Johannesburg vor Tausenden Zuschauern.

Obama befand, es sei traurig, dass er 100 Jahre nach Mandelas Geburtstag angesichts des zunehmenden Populismus in der Welt immer noch betonen müsse, dass alle Menschen gleich seien. „Schwarze, Weiße, Asiaten, Lateinamerikaner, Frauen und Männer, Schwule und Heterosexuelle – wir sind alle Menschen; was uns unterscheidet, ist oberflächlich.“ Wenn Menschen lernen könnten, einander zu hassen, dann könne man ihnen auch beibringen, einander zu lieben. „Ich glaube an Nelson Mandelas Vision“, sagte Obama.

Südafrika ist der am meisten entwickelte Staat des Kontinents. Mandela und seine Nachfolger haben wichtige Fortschritte erzielt: Die Regierung hat zum Beispiel Millionen Häuser für arme Familien gebaut und Sozialleistungen eingeführt, zudem haben fast alle Südafrikaner nun Zugang zu elektrischem Strom. Doch das Bildungssystem ist desolat und die Arbeitslosenquote liegt bei rund 27 Prozent. Das benachteiligt vor allem jene, für deren Freiheit Mandela gekämpft hat: „Schwarze Südafrikaner haben das höchste Risiko, arm zu sein“, heißt es von der Weltbank.

Nelson Rolihlahla Mandela schloss sich bereits 1944 als Jurastudent dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) an, um für gleiche Rechte zu kämpfen. Der junge Anwalt stieg in der Partei rasch auf und galt Ende der 1950er-Jahre bereits als einer der wichtigsten Organisatoren von Protesten und Widerstandsaktionen. Als der ANC 1960 verboten wurde, war Mandela einer der Gründer des Flügels für den bewaffneten Widerstand. 1964 entging der Widerstandskämpfer knapp der Todesstrafe und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Es folgten 27 Jahre Haft, die meisten davon auf der Gefangeneninsel Robben Island bei Kapstadt.

Mandela war über Jahre wohl der berühmteste Gefängnisinsasse der Welt. Seine Inhaftierung wurde zum Symbol der Ungerechtigkeit des rassistischen Regimes. Doch erst Ende der 1980er-Jahre begann die Apartheid zu zerfallen: Internationaler Druck, Sanktionen und der zunehmende Widerstand der schwarzen Mehrheit brachten die Kehrtwende.

Im September 1989 wurde der Reformer Frederik Willem de Klerk südafrikanischer Präsident. Er ließ Mandela frei und hob das ANC-Verbot auf. Die Parteien handelten eine neue Verfassung aus, 1993 bekamen de Klerk und Mandela den Friedensnobelpreis. 1994 wurde Mandela Südafrikas erster demokratisch gewählter Präsident. In seiner Amtszeit bis 1999 setze Mandela auf eine Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen.

Dieses Vermächtnis scheint heute zunehmend in Gefahr. Es häuft sich die Kritik, Mandela habe die Weißen mit Samthandschuhen angefasst. Der ANC fordert inzwischen, die zumeist weißen Landeigentümer notfalls auch ohne Entschädigung zu enteignen. Die Vertreibung der Schwarzen von ihrem Land und dessen Enteignung zur Zeit der Apartheid seien „die Quelle der Armut und der Ungleichheit“ gewesen, „die wir heute sehen“, sagte Präsident Ramaphosa unlängst.

Experten warnen jedoch, eine radikale Landreform könne die Wirtschaft ins Straucheln bringen und das Land in eine Krise stürzen. Ramaphosa verspricht, behutsam vorzugehen, doch eine Landreform bezeichnet er als unvermeidbar. Sonst, sagt er, würde „das Land im Herzen gespalten bleiben“.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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