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„Existieren ist Widerstand“
„Existieren ist Widerstand“

„Existieren ist Widerstand“

Zehn Jahre nach Ägyptens Revolution
Stefan Noechel
Als Gigi Ibrahim am 25. Januar 2011 in den Kairoer Norden fährt, ahnt sie nicht, was sich an jenem Nachmittag am Tahrir-Platz zusammenbrauen wird. Im Koptenviertel Schubra soll die Aktivistin mobil machen zum Protest. Der Marsch, bewusst gelegt auf den landesweiten Polizei-Feiertag, soll eigentlich ein Zeichen setzen gegen Polizeigewalt. Für massenhaft Ägypter, die an diesem Tag zeitgleich aus anderen Stadtteilen ins Zentrum ziehen, wird es ein Protest gegen Präsident Husni Mubarak (Bild) und 30 Jahre Gewaltherrschaft.
10, vielleicht 15 Demonstranten seien sie in Schubra zunächst gewesen, erzählt Ibrahim. Aber die vielen Zivilbeamte hätten die Gruppe größer wirken lassen - und mehr Menschen angelockt. Als sie gegen 16.00 Uhr am Tahrir eintrifft, sieht sie die Scharen aus allen Richtungen auf den Platz strömen. „In dem Moment wurde mir klar, dass diese Sache so viel größer ist als unser Marsch“, sagt Ibrahim der Deutschen Presse-Agentur. „Es war eine Revolte.“ Tagelange, teils tödliche Zusammenstöße mit Sicherheitskräften sollten folgen.
Zehn Jahre sind verstrichen, seit Mubarak dem Druck von Volk und Militär nachgab und am 11. Februar das Amt niederlegte. „Möge Gott allen helfen“, hieß es in der im Fernsehen verlesenen Erklärung, mit der Mubarak sich in den Badeort Scharm el-Scheich absetzte. TV-Sender weltweit zeigten Bilder der jubilierenden Massen. Nach der Flucht Zine El Abidine Ben Alis aus Tunesien, wo die arabischen Aufstände nur Wochen zuvor ins Rollen gekommen waren, war nun auch in Ägypten ein Langzeitherrscher in die Knie gezwungen.
Viele trugen den Reformgeist der Straße nach Hause zu ihren Familien, an Hochschulen und Arbeitsplätze. Rund 300 unabhängige Gewerkschaften bildeten sich im Land, an Universitäten wurden erstmals freie Wahlen abgehalten und die strenge Kontrolle durch Polizei und Geheimdienste gebrochen. Der ägyptische Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei sagte es so: „Ein Traum wird wahr.“
Aber der demokratische Umbruch sollte ein Experiment bleiben. Die linken, liberalen, säkularen und islamistischen Kräfte hatten sich zwar 18 Tage lang zum Aufruhr gegen Mubarak zusammengeschlossen - doch die wenigsten von ihnen wussten, was danach folgen sollte. Der Oberste Militärrat (SCAF) kam ihnen zuvor und übernahm die Kontrolle. Die Muslimbrüder - heute im Land verboten und als Terrororganisation eingestuft - gingen stillschweigend ein Bündnis mit dem Militär ein, um den eigenen Sieg bei den bevorstehenden Wahlen zu sichern.
Seinen Status als Beschützer von Staat und Identität kultiviert das Militär, das in Ägypten heute weite Teile des täglichen Lebens durchdringt, seit den 1950er Jahren. Mangels Widerstand aus der Bevölkerung habe es „Sicherheitshüter und politischer Königsmacher“ bleiben können, schreibt Kommentatorin Hafsa Halawa. Nach dem Sieg Mohammed Mursis von den Muslimbrüdern bei der Präsidentschaftswahl folgte im Sommer 2013 ein Militärputsch, mitgetragen und finanziert von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi ist ein Armeechef an die Spitze getreten, den Fans als starken Mann und Vaterfigur ehren. Im Land am Nil hat er Kritikern zufolge aber einen brutalen Polizeistaat geschaffen, in dem die Verfolgung Oppositioneller und strikte Zensur nur zwei von vielen Machtmitteln sind. Kurz nach der Machtübernahme wurde ein Protestcamp der Muslimbrüder 2013 blutig zerschlagen, wobei Human Rights Watch zufolge mindestens 817 Menschen starben. Offene Kritiker Al-Sisis sind verstummt, im Ausland oder im Gefängnis. Viele empfinden die Zustände noch schlimmer als unter Mubarak.
Andere halten sich hartnäckig. Unermüdlich und oft unter Einsatz von Freiheit und Leben dokumentieren Menschenrechtler oder Journalisten der letzten unabhängigen Nachrichtenseite Mada Masr Missstände. „Es geht nur darum, nicht aufzugeben“, sagt Ahmed Alaa Fajid, Dozent für Management und Politikwissenschaft an der Nil-Universität. Parteien hält er für „sinnlos“, die Opposition für „nicht existent“. Um einen Sitz im Parlament bewarb er sich im Herbst mit nur 30 Jahren trotzdem - und belegte den 17. Platz von 43 unabhängigen Kandidaten.
„Ich wusste vom ersten Tag an, dass ich nicht gewinnen würde“, sagt Fajid bei einem Treffen in seinem Büro in Neu-Kairo. Aber sein politischer Probelauf könne später vielleicht noch etwas bewirken. Denn „Veränderung passiert, wenn man es am wenigsten erwartet.“ Fajids Kampagne - soziale Gerechtigkeit, mehr Rechte für Frauen und junge Menschen - klingt wie ein fernes Echo der Rufe nach „Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ vom Tahrir-Platz 2011.
Ibrahim, die inzwischen als Unternehmerin arbeitet, sieht den Geist der Aufstände fortleben. „Wir werden immer über die Revolution sprechen und uns erinnern an die Lehren, Fehler, Triumphe und Niederlagen.“ Eine Revolution zieht auch nicht in Tagen oder Wochen über ein Land, sie ist ein Prozess, sagt Ibrahim. Und in einem Staat, der demokratische Freiheiten so drastisch beschneide, sei es überhaupt eine Errungenschaft, dass „wir immer noch hier sind“.
Dieser Slogan liegt ihr auch auf der Zunge, wenn sie Ägypten heute als zu unfrei und repressiv empfindet: „Existieren ist Widerstand“. Foto: dpa

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Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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