Flamingos so weit das Auge reicht
Von Amelie Meier, Walvis Bay
Einzelne Bewegung ist in der rosafarbenen Masse kaum auszumachen. Hunderte Flamingos stehen dicht aneinander gedrängt vor dem in der Sonne flimmernden Himmel. Die einen haben den Kopf unter ihrem Flügel versteckt und schlafen auf einem ihrer dünnen Beine stehend. Andere trippeln wie in einem seltsam anmutenden Tanz durch das seichte Wasser und filtern den aufgewirbelten Schlamm durch ihren Schnabel. Ich weiß, dass es zwei verschiedene Arten sind, doch für mich sind sowohl die Rosa- als auch die Zwergflamingos unzählbar. „216 Greater“ ruft Vernon mir zu, damit ich die Zahl der Rosaflamingos notiere. Er kann die Vögel unterscheiden und zählen. Dank jahrelanger Übung.
Vernon ist einer der rund 25 Vogelfreunde, die sich an diesem Wochenende im Juli in Walvis Bay getroffen haben, um die jährliche Wintervogelzählung durchzuführen. Sie sind eingeteilt in mehrere Gruppen, waten bei Ebbe durch die Lagune und fahren mit Autos die Salzwege rund um die Bucht ab. Nicht nur die Zahl der Flamingos wird dabei festgehalten, sondern auch die der Säbelschnäbler, der Regenpfeifer, der Kormorane oder der Möwen. Neben diesen häufig vorkommenden Arten werden natürlich auch die seltenen erfasst. Die Naturfreunde kennen sie alle.
Eine Seeschwalbe sitzt mehrere Hundert Meter entfernt auf einem Pfosten. Vernon starrt sie lange durch das Fernglas an. Er blättert in seinem Bestimmungsbuch, schaut nochmal auf die Lagune hinaus. Dann gibt er auf - der Vogel ist zu weit weg, um ihn genau zu bestimmen. Ich mache einen Strich auf der Liste bei „Unidentified Tern“ (nicht zu identifizierende Seeschwalbe).
Doch auch dieser Strich ist wichtig. Das hat uns Peter Bridgeford, der Organisator der heutigen Zählung, eingehend erklärt. Seit vielen Jahren ist er schon bei den Vogelzählungen dabei. In den 70er Jahren seien die ersten Freiwilligen aus dem heutigen Südafrika gekommen, erklärt er. Sie hätten die dortigen Vögel gezählt und bald auch in Walvis Bay und an anderen Orten in Namibia begonnen, die Größe der einzelnen Vogelpopulationen zu erfassen. Bald haben sie Einheimische gesucht, die dabei halfen. Daraus entstand der Round Table Nummer 36, der 1983 die erste offizielle Vogelzählung mit professionellen und Amateur-Ornitologen veranstaltete. Seitdem sind die Sommer- und Winterzählungen in Walvis Bay zu einer regelmäßigen Veranstaltung geworden. 1996 gründete sich eine Naturschutzgruppe, die sich 1997 Coastal and Environmental Trust of Namibia (CETN) nannte. Sie übernahm nun die Organisation der Zählungen - und ist bis heute dafür zuständig. Die Bandbreite der Teilnehmer ist groß: Von passionierten Vogelkundlern über angehende und langjährige Touristenführer bis hin zu blutigen Anfängern wie mir sind alle dabei. Bis zu 70 Leute seien es normalerweise, sagt Peter Bridgeford, im Winter nähmen aber meist weniger teil.
In jeder Gruppe ist ein erfahrener Ornitologe. In meiner heute sind es gleich zwei: Vernon, der die Tiere rechts der Straße zählt, und Richard, der die linke Seite übernommen hat. Sie sehen jedes Vögelchen und erkennen jede Ente auch auf große Entfernung. „Vernon, Vernon“, tönt es aus dem Funkgerät, das auf der Rückbank liegt. Richard, der einige hundert Meter hinter uns ist, hat einen seltenen Vogel entdeckt. Ein Odinshühnchen ist Grund genug für Vernon umzukehren. Begeistert stehen die Männer da und beobachten durch ihre Ferngläser drei schwarz-weiße Vögel, die im salzigen Wasser schwimmen und immer wieder muntere Umdrehungen vollführen. Drei Odinshühnchen - das hat nicht jede Gruppe auf ihrer Liste. Abgesehen von solchen kleinen Besonderheiten landen heute vor allem Flamingos, Säbelschnäbler und Regenpfeifer auf unserer Liste. Ihre Populationen sind hier besonders groß. Am Anfang kann ich mich noch über den lustigen Futtertanz der Flamingos und das muntere Wuseln der Regenpfeifer freuen, doch irgendwann habe ich genug von der rosafarbenen Masse und dem immer neuen Blick durchs Fernglas auf die Vögel. Aber Aufhören geht jetzt nicht. Denn wir sind im Dienst der Wissenschaft unterwegs und die Route muss heute beendet werden.
Seit über 30 Jahren zählen die Naturfreunde hier immer in denselben Gebieten die Vögel. Eine Änderung der Routen oder der Zählweisen würde wissenschaftliche Ergebnisse verfälschen. Unsere Zahlen, die am Mittag bei einem deftigen Imbiss in offizielle Listen übertragen werden, leitet Bridgeford an das Ministerium für Umwelt und Tourismus weiter, das wiederum die Ergebnisse von allen namibischen Zählungen festhält und nach England weiterleitet. Die Wetlands Foundation sammelt dort Daten von Vögeln in Feuchtgebieten auf der ganzen Welt. Anhand dieser Zahlen kann die gemeinnützige Organisation Rückschlüsse auf die Entwicklung verschiedener Populationen ziehen und Nachforschungen anstellen. Auch in dem kleinen Gebiet in Walvis Bay, das nur einer von unzähligen Datenlieferanten ist, hat Bridgeford über die letzten 31 Jahre schon Entwicklungen feststellen können: „Die Zahl der Knutts zum Beispiel ist zurückgegangen.“ Das liege wahrscheinlich daran, dass der Lebensraum für die Schnepfenart, die nur im Sommer nach Namibia kommt, auf der Nordhalbkugel knapper werde. Von manchen Arten gebe es aber auch immer mehr Exemplare, sagt Bridgeford. Er leitet die Zahlen neben der Wetlands Foundation auch an verschiedene Naturschutzorganisationen, Universitäten und natürlich die Teilnehmer an der Vogelzählung weiter.
So sollen die freiwilligen Helfer, die bei jedem Wetter durch eiskaltes Wasser waten oder aus ihrem Auto Hunderte von Vögeln zählen, mit ihrer Arbeit möglichst viele Wissenschaftler und Interessierte erreichen. Ganz genau sind die Ergebnisse natürlich nie. Denn Vögel bewegen sich und halten sich nicht nur in Ufernähe auf. Und wenn die rosafarbene Masse zu unübersichtlich wird, kann selbst Vernon die Flamingos nicht mehr zählen. Dann hilft nur noch eines, um die Liste zu füllen: Schätzen.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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