Geerbtes Ehrenamt

Von Undine Konrad, SwakopmundDen krassen Gegensatz von Wohlstand und Armut in einer reichen Stadt wie Swakopmund kann Anja Rohwer bis heute schwer fassen. „Nicht einmal zehn Kilometer außerhalb leben Tausende in Papphütten, die ständig abbrennen. Circa 80 Prozent der Menschen sind arbeitslos“, berichtet sie. Nach ihrer Schätzung hat sich die Zahl der Bewohner in der inoffiziellen Siedlung DRC (Democratic Resettlement Community) allein in den vergangenen vier Jahren von anfangs etwa 2.000 mehr als verdreifacht: „Ich denke, viele in Swakopmund wissen das gar nicht.“Vor vier Jahren, 2009, wurde sie selbst gegen diese alarmierenden Zustände aktiv. Den Anfang machte eine Suppenküche. „Als wir ein Grundstück zur Nutzung bekamen, haben wir eine Hütte aus Holz darauf gebaut und angefangen zu kochen“, erinnert sie sich. Zweimal pro Woche erhalten seitdem 80 bis 150 Kinder zwischen vier und zwölf Jahren eine warme Mahlzeit. Für eine Suppenküche allein erschien ihr das Grundstück allerdings zu groß. Da kam ihr die Idee, den Müttern der hungrigen Kinder eine Beschäftigung anzubieten. Das „Frauenprojekt“ war geboren: 32 Frauen erlernen verschiedene Kunsthandwerke, wie das Schnitzen, Flechten, Töpfern, Bedrucken von Stoff und Fertigen von Schmuck. Den Schwerpunkt bildet die Arbeit mit Perlen. Daraus stellen sie unter anderem Armbänder, Ketten, Ohrringe und Weihnachtsbaumanhänger her. Zudem erhalten sie die Möglichkeit, ihre Handarbeiten in ausgewählten Läden zu verkaufen und so ein kleines Einkommen zu generieren. Hilfe zur Selbsthilfe im besten Sinne. Auf lange Sicht hin sollen die Frauen damit aus eigener Kraft ihre Lebensumstände verbessern können. Als einen wichtigen Vertriebspunkt hat Anja Rohwer das Geschäft „Kubatsirana - Helping Hands“ im Swakopmunder Stadtzentrum eröffnet. Er ist inzwischen sogar in Reiseführern als Empfehlung für originelle Mitbringsel gelistet. „Vieles geht auch nach Deutschland auf Märkte“, erzählt die geschickte Projektkoordinatorin, die ein komplexes Netzwerk der Hilfe zur Selbsthilfe geschaffen hat.Wenn die Frauen mit ihren Handarbeiten beschäftigt waren, beobachtete sie oft die gleiche Szene: Die Kinder herzten ihre Mutti, zogen sich an ihrem Rock hoch und sorgten ungewollt dafür, dass ständig Perlen herunterfielen. Anja Rohwer musste nicht lange zusehen, um zu wissen, dass es an einem Kindergarten fehlte. Der Grundstein für das dritte Projekt war gelegt: der „Grow Together Kindergarten“. Er existiert seit 2011. Die zurzeit 32 Kinder bekommen einmal täglich eine warme Mahlzeit. Sie können frei spielen, lernen basteln und werden mit dem Einmaleins der Körperhygiene vertraut gemacht. Eine zertifizierte einheimische Krankenschwester besucht die Einrichtung jede Woche und informiert die Mütter über HIV/ Aids. Zudem bemühen sich die Erzieherinnen, vorschulische Grundkenntnisse zu vermitteln, um die Mädchen und Jungen auf die erste Klasse vorzubereiten. Durch die gute Zusammenarbeit mit einer örtlichen Regierungsschule nimmt diese jedes Schuljahr rund 20 der Kita-Kinder auf. Ein Erfolg angesichts der knappen Platzzahl und der Realität, dass viele Elfjährige noch nie in einem Klassenzimmer saßen. „Dieses Jahr wurden 18 von 42 Kindern eingeschult“, erzählt Anja Rohwer stolz.Jüngst ist der Kindergarten um einen neuen Abenteuerspielplatz gewachsen. Den baute ihr ihre Tochter und deren Freund als Weihnachtsgeschenk. „Was soll ich mir noch wünschen“, sagt die fröhliche Swakopmunderin. Alles, was sie tut, erfolgt auf rein ehrenamtlicher Basis. Sämtliche Kosten ihres DRC-Projekts werden durch Spenden gedeckt, vor allem aus Deutschland. Anja Rohwer hat einmal ein anderes Leben geführt. Ein Leben als Grafikdesignerin als Lüderitz. Damals kümmerte sich ihre Mutti, Jutta Rohwer, um zahlreiche Projekte in Katutura, für die sie sich über viele Jahre engagierte, nachdem sie sich nach der Unabhängigkeit von ihrem Direktorinnen-Posten beim Roten Kreuz verabschiedet hatte. „Ihr tat es immer leid, Kinder in informellen Gebieten auf der Straße zu sehen“, erzählt Anja Rohwer. Deshalb baute sie mehr als 40 Kindergärten auf sowie Einrichtungen wie das Oponganda-Behindertenzentrum und Orlindi-Haus für missbrauchte, kranke und elternlose Kinder. „Ihr ganzes Leben war Sozialarbeit“, bringt es die Tochter auf den Punkt. Als Jutta Rohwer 2009 starb, standen ihre Projekte ohne Koordinator da. Anja Rohwer hatte eigentlich andere Pläne gehabt, doch für sie stand fest: „Ich kann nicht sagen: Das ist nicht mein Leben!“ Sie trat das Erbe an. Mit ganzer Konsequenz. Neben den bestehenden Einrichtungen, die sie weiterführte, gründete sie im Swakopmunder DRC-Gebiet ihr eigenes Projekt. „Es hat Jahre gebraucht, bis ich an bestimmten positiven Entwicklungen gesehen habe, dass ich manchen Frauen anders helfen und die Kindergärten in Katutura reduzieren kann“, erzählt sie. Momentan sind es noch 22. Nach wie vor pendelt sie mindestens einmal pro Woche zwischen Windhoek und Swakopmund.Im DRC packt sie immer wieder neue Vorhaben an: Vor anderthalb Jahren hat sie einen Gemüsegarten angelegt. Im eigenen Gewächshaus bauen die Frauen und Kinder seitdem Spinat, Karotten, Tomaten, Paprika etc. an. Alles geht in die Suppenküche. „Das Wissen soll an die junge Generation weitergegeben werden“, erklärt Anja Rohwer. Ihr jüngster Einfall ist, die Frauen auch Gemüsepflanzen ziehen und verkaufen zu lassen. Eine weitere kleine Einkommensquelle für die meist alleinerziehenden Mütter.Das Fazit in Sachen Platz: „Das Grundstück ist viel zu klein geworden“, sagt Anja Rohwer. Erst recht, wenn sie ihre nächste Idee realisieren will: einen Container als eine Art Beratungsstelle für HIV-infizierte Frauen aufzustellen. Krankenschwestern sollen noch intensiver als bisher Aufklärung leisten. Die Projektkoordinatorin kann nicht anders. Sie entdeckt stets neuen Bedarf und handelt. Damit folgt sie ganz der Überzeugung ihrer Mutti, die ein Spruch besonders treffend zusammenfasst: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Angesicht der Erde verändern.“

Geerbtes Ehrenamt

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-15

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