Gemeinsam mehr tun und Toleranz üben
Bischof Dr. Zephania Kameeta leitet mit verschiedenen namibischen Kräften den Gedenk-Ausschuss National Preparatory Committee for the Commemoration of 1904. Im Gespräch mit Eberhard Hofmann beantwortete er Fragen der AZ.
AZ: Sie haben das so genannte Blaubuch gelesen - Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany, 1918) und dazu eine Einleitung verfasst. Wie genau und zuverlässig schätzen Sie diese Quelle ein, die nun wieder häufiger zitiert wird.
Dr. Kameeta: Wenn Sie das Vorwort der Historiker-Redakteure Silvester und Gewald dieser Neuauflage lesen, merken Sie, dass sie diese Frage ebenfalls klären wollen. Ich verstehe, dass es zu diesem Buch bestimmte Bedenken gibt, verfasst von einem Magistrat einer anderen Kolonialmacht. Das bestreite ich nicht. Was mich aber gefesselt hat, sind die direkten Aussagen der Leute.
AZ: Haben Sie auch andere Quellen über die Epoche eingesehen?
Dr. Kameeta: Ja. Aber die Aufzeichnung dieser Aussagen hat mich viel mehr berührt als andere historische Bücher, die ich gelesen habe. Es ist das erste Mal, dass derart viel Platz und Zeit darauf verwendet wurden, was die Leute sagen. In der Schule habe ich seinerzeit lediglich die südafrikanische Geschichte ab Van Riebeeck gelernt.
AZ: Wie sind Sie zuerst mit der Kolonialgeschichte 1904-1907 in Berührung gekommen? Haben Sie Überlebende des Krieges gekannt?
Dr. Kameeta: Meine Großeltern haben in zwei Konzentrationslagern gesessen, oder wie Sie diese Camps auch nennen wollen. Wir Kinder konnten ihnen stundenlang zuhören. Meine Großeltern waren selbst noch Jugendliche von 14, 15 Jahren, als sie dort gefangen waren. Ihre Erzählung kommt in bestimmter Hinsicht mit dem Blaubuch überein. Zum Beispiel erzählten sie uns, dass Hinrichtungen im Lager in der Regel sonntags nachmittags vorgenommen wurden. Es ging angeblich um Aufsässige, die gehenkt wurden. Die Kinder im Lager konnten sich das mit ansehen. Ich habe bei meinen Großeltern jedoch nie Hass festgestellt. Sie waren nicht durch Bitterkeit gelähmt. Ich habe es damals nicht verstanden, ihnen dazu noch Fragen zu stellen, die ich heute habe. 1955 sind viele Herero aus der Rheinischen Missionskirche ausgetreten. Meine Großeltern waren nicht dabei, obwohl sie in ihrer Gemeinschaft angeprangert wurden. Zur Genauigkeit des Blaubuches: Ich kann die Exaktheit nicht garantieren, aber ich habe vieles auch aus mündlicher Überlieferung kennengelernt.
AZ: Sollten Namibier sich mehr Kenntnis und Einblick über das Geschehen vor 100 Jahren aneignen oder sollten wir lieber dem Auftrag der Verfassung folgen, nämlich der nationalen Aussöhnung nachgehen?
Dr. Kameeta: Wir brauchen beides. Wir müssen uns vergewissern, was vor 100 Jahren genau passiert ist, wie man seinerzeit gedacht hat, wie die wirtschaftliche, soziale und religiöse Infrastruktur ausgesehen hat. Wir können dort aber nicht verweilen, sondern müssen den Bogen zur Gegenwart und in die Zukunft spannen und uns fragen, wie unsere jetzige Existenz dadurch beeinflusst wird und was wir daran ändern können. Es geht um die Frage, was war gut und kann man behalten und was ist schlecht und muss abgetan werden, damit es keine üble Wiederholung gibt. Wir müssen ein festes Fundament für den Frieden und für unsere Kinder legen, inklusive der deutschsprachigen Kinder dieses Landes. Zum Aufbau brauchen wir jeden, um Hand in Hand zu arbeiten, damit es Versöhnung, Frieden und Wohlstand für alle gibt. Der Blick zurück sollte nicht der Schuldzuweisung dienen, sondern dem Verständnis für den gemeinsamen weiteren Weg.
AZ: Sehen Sie für die Otjiherero-, Deutsch- und Khoekhoegowab-sprechenden Namibier in diesem Rahmen eine besondere Verpflichtung? Mit anderen Worten, stehen die Nachkommen der kriegerischen Parteien von 1904-1907 vor einer besonderen Herausforderung im Umgang mit der Geschichte oder ist das Sache der gesamten Nation?
Dr. Kameeta: Es gilt beides. Die Nachkommen tragen den Albtraum noch in sich. Deshalb sollten wir bewusst gemeinsam damit umgehen. In der Vergangenheit haben wir es wegen der Apartheid nicht getan. Wir müssen Toleranz pflegen und mehr gemeinsam tun. Ich begrüße die Begegnung von Oberschülern, wie es die Namibisch-Deutsche Stiftung (Goethe Zentrum) anregt. Wir sind ja alle Nachkommen und sollten das Eis brechen. Das ist die besondere Herausforderung heute und morgen. Das kann nicht in der Isolierung geschehen, denn wir leben im größeren Namibia zusammen. Jeder von uns braucht die Versöhnung und den Frieden. Dazu können wir das Verständnis der Vergangenheit mitbringen.
AZ: Die kaiserliche Verwaltung fand mit der Invasion südafrikanischer Truppen 1915 ihr Ende. Das deutsche Volk hat in Europa seither zwei Weltkriege mitgemacht, die zu unsäglichem Leiden vieler Nationen und nicht zuletzt für die Deutschen selbst als zweimalig besiegte Nation geführt haben. Meinen Sie, dass Namibier (deutschsprachige Namibier einmal ausgenommen) verstehen können, dass die koloniale Vergangenheit bei den Deutschen in Europa daher verdrängt ist? Sollte man das ändern?
Dr. Kameeta: Das Gedenken sollte nicht nur auf Namibia beschränkt bleiben, sondern auch zum Verständnis bei den Deutschen in Europa beitragen. Ich habe in Deutschland erlebt, wie die Leute nicht einmal über den Zweiten Weltkrieg reden wollten. Ich selbst wollte nicht ständig ihre Fragen über Apartheid beantworten, sondern wollte wissen, wie sie die Zerstörung des Zweiten Weltkrieges und das vorher herrschende Regime erfahren haben. Dabei habe ich viel Zurückhaltung und Zögerung verspürt. Der jetzige Anlass bietet den seltenen Einstieg, dass sich die Deutschen mit der Kolonialgeschichte befassen und sich fragen können, wie sie heute damit umgehen sollten.
AZ: Wir beurteilen Sie die Reparationsklage?
Dr. Kameeta: Ich stimme mit dem Anspruch auf Wiedergutmachung überein, aber es darf nicht in der Geldfrage enden. Die Klage kann lediglich Teil eines größeren Austauschs sein. Die Klage kann auch nicht exklusiv auf der Gruppenbasis innerhalb des unabhängigen Landes verfolgt werden. Derweil das Anliegen von den Herero und Nama ausgehen sollte, gehört es am Ende der gesamten Nation. Dazu gehört die Notwendigkeit, das Bewusstsein zu ändern und weit über das Materielle hinaus zu gehen.
AZ: Sollten die frühen Kolonialkriege getrennt bearbeitet werden oder bilden sie einen Teil einer zusammenhängenden Kolonialperiode der Deutschen und der Südafrikaner?
Dr. Kameeta: Ja und nein. Einmal ist es gut, die 100 Jahre als eine Erfahrung zu erfassen, aber es gibt Unterschiede. Es lohnt sich, die Epochen getrennt zu untersuchen, ohne sie zu trennen. Es besteht die Gefahr, nur die Apartheidsära zu betrachten und den Kampf gegen die deutsche Kolonialherrschaft zu vergessen.
AZ: Haben Sie einen abschließenden Gedanken zu diesem Thema?
Dr. Kameeta: Meine Hoffnung für Namibia besteht darin, dass wir einander mit diesem Gedenken näher kommen und finden. Nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Schwarz und Schwarz. In vielerlei Hinsicht sind wir eine höchst fragmentierte Nation. In unserem Denken und Handeln ist oft so wenig Toleranz. Diese Gräben müssen wir überwinden. Das Gedenken hat uns dazu anzuspornen. Es ist schade, dass es mit dem Gedenken auch Misstrauen und Zwietracht gibt. Mit den Lesern der Allgemeinen Zeitung wünsche ich, dass mit dem Gedenken die Debatte nicht beendet ist, sondern dass wir auch den Neuanfang finden.
AZ: Sie haben das so genannte Blaubuch gelesen - Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany, 1918) und dazu eine Einleitung verfasst. Wie genau und zuverlässig schätzen Sie diese Quelle ein, die nun wieder häufiger zitiert wird.
Dr. Kameeta: Wenn Sie das Vorwort der Historiker-Redakteure Silvester und Gewald dieser Neuauflage lesen, merken Sie, dass sie diese Frage ebenfalls klären wollen. Ich verstehe, dass es zu diesem Buch bestimmte Bedenken gibt, verfasst von einem Magistrat einer anderen Kolonialmacht. Das bestreite ich nicht. Was mich aber gefesselt hat, sind die direkten Aussagen der Leute.
AZ: Haben Sie auch andere Quellen über die Epoche eingesehen?
Dr. Kameeta: Ja. Aber die Aufzeichnung dieser Aussagen hat mich viel mehr berührt als andere historische Bücher, die ich gelesen habe. Es ist das erste Mal, dass derart viel Platz und Zeit darauf verwendet wurden, was die Leute sagen. In der Schule habe ich seinerzeit lediglich die südafrikanische Geschichte ab Van Riebeeck gelernt.
AZ: Wie sind Sie zuerst mit der Kolonialgeschichte 1904-1907 in Berührung gekommen? Haben Sie Überlebende des Krieges gekannt?
Dr. Kameeta: Meine Großeltern haben in zwei Konzentrationslagern gesessen, oder wie Sie diese Camps auch nennen wollen. Wir Kinder konnten ihnen stundenlang zuhören. Meine Großeltern waren selbst noch Jugendliche von 14, 15 Jahren, als sie dort gefangen waren. Ihre Erzählung kommt in bestimmter Hinsicht mit dem Blaubuch überein. Zum Beispiel erzählten sie uns, dass Hinrichtungen im Lager in der Regel sonntags nachmittags vorgenommen wurden. Es ging angeblich um Aufsässige, die gehenkt wurden. Die Kinder im Lager konnten sich das mit ansehen. Ich habe bei meinen Großeltern jedoch nie Hass festgestellt. Sie waren nicht durch Bitterkeit gelähmt. Ich habe es damals nicht verstanden, ihnen dazu noch Fragen zu stellen, die ich heute habe. 1955 sind viele Herero aus der Rheinischen Missionskirche ausgetreten. Meine Großeltern waren nicht dabei, obwohl sie in ihrer Gemeinschaft angeprangert wurden. Zur Genauigkeit des Blaubuches: Ich kann die Exaktheit nicht garantieren, aber ich habe vieles auch aus mündlicher Überlieferung kennengelernt.
AZ: Sollten Namibier sich mehr Kenntnis und Einblick über das Geschehen vor 100 Jahren aneignen oder sollten wir lieber dem Auftrag der Verfassung folgen, nämlich der nationalen Aussöhnung nachgehen?
Dr. Kameeta: Wir brauchen beides. Wir müssen uns vergewissern, was vor 100 Jahren genau passiert ist, wie man seinerzeit gedacht hat, wie die wirtschaftliche, soziale und religiöse Infrastruktur ausgesehen hat. Wir können dort aber nicht verweilen, sondern müssen den Bogen zur Gegenwart und in die Zukunft spannen und uns fragen, wie unsere jetzige Existenz dadurch beeinflusst wird und was wir daran ändern können. Es geht um die Frage, was war gut und kann man behalten und was ist schlecht und muss abgetan werden, damit es keine üble Wiederholung gibt. Wir müssen ein festes Fundament für den Frieden und für unsere Kinder legen, inklusive der deutschsprachigen Kinder dieses Landes. Zum Aufbau brauchen wir jeden, um Hand in Hand zu arbeiten, damit es Versöhnung, Frieden und Wohlstand für alle gibt. Der Blick zurück sollte nicht der Schuldzuweisung dienen, sondern dem Verständnis für den gemeinsamen weiteren Weg.
AZ: Sehen Sie für die Otjiherero-, Deutsch- und Khoekhoegowab-sprechenden Namibier in diesem Rahmen eine besondere Verpflichtung? Mit anderen Worten, stehen die Nachkommen der kriegerischen Parteien von 1904-1907 vor einer besonderen Herausforderung im Umgang mit der Geschichte oder ist das Sache der gesamten Nation?
Dr. Kameeta: Es gilt beides. Die Nachkommen tragen den Albtraum noch in sich. Deshalb sollten wir bewusst gemeinsam damit umgehen. In der Vergangenheit haben wir es wegen der Apartheid nicht getan. Wir müssen Toleranz pflegen und mehr gemeinsam tun. Ich begrüße die Begegnung von Oberschülern, wie es die Namibisch-Deutsche Stiftung (Goethe Zentrum) anregt. Wir sind ja alle Nachkommen und sollten das Eis brechen. Das ist die besondere Herausforderung heute und morgen. Das kann nicht in der Isolierung geschehen, denn wir leben im größeren Namibia zusammen. Jeder von uns braucht die Versöhnung und den Frieden. Dazu können wir das Verständnis der Vergangenheit mitbringen.
AZ: Die kaiserliche Verwaltung fand mit der Invasion südafrikanischer Truppen 1915 ihr Ende. Das deutsche Volk hat in Europa seither zwei Weltkriege mitgemacht, die zu unsäglichem Leiden vieler Nationen und nicht zuletzt für die Deutschen selbst als zweimalig besiegte Nation geführt haben. Meinen Sie, dass Namibier (deutschsprachige Namibier einmal ausgenommen) verstehen können, dass die koloniale Vergangenheit bei den Deutschen in Europa daher verdrängt ist? Sollte man das ändern?
Dr. Kameeta: Das Gedenken sollte nicht nur auf Namibia beschränkt bleiben, sondern auch zum Verständnis bei den Deutschen in Europa beitragen. Ich habe in Deutschland erlebt, wie die Leute nicht einmal über den Zweiten Weltkrieg reden wollten. Ich selbst wollte nicht ständig ihre Fragen über Apartheid beantworten, sondern wollte wissen, wie sie die Zerstörung des Zweiten Weltkrieges und das vorher herrschende Regime erfahren haben. Dabei habe ich viel Zurückhaltung und Zögerung verspürt. Der jetzige Anlass bietet den seltenen Einstieg, dass sich die Deutschen mit der Kolonialgeschichte befassen und sich fragen können, wie sie heute damit umgehen sollten.
AZ: Wir beurteilen Sie die Reparationsklage?
Dr. Kameeta: Ich stimme mit dem Anspruch auf Wiedergutmachung überein, aber es darf nicht in der Geldfrage enden. Die Klage kann lediglich Teil eines größeren Austauschs sein. Die Klage kann auch nicht exklusiv auf der Gruppenbasis innerhalb des unabhängigen Landes verfolgt werden. Derweil das Anliegen von den Herero und Nama ausgehen sollte, gehört es am Ende der gesamten Nation. Dazu gehört die Notwendigkeit, das Bewusstsein zu ändern und weit über das Materielle hinaus zu gehen.
AZ: Sollten die frühen Kolonialkriege getrennt bearbeitet werden oder bilden sie einen Teil einer zusammenhängenden Kolonialperiode der Deutschen und der Südafrikaner?
Dr. Kameeta: Ja und nein. Einmal ist es gut, die 100 Jahre als eine Erfahrung zu erfassen, aber es gibt Unterschiede. Es lohnt sich, die Epochen getrennt zu untersuchen, ohne sie zu trennen. Es besteht die Gefahr, nur die Apartheidsära zu betrachten und den Kampf gegen die deutsche Kolonialherrschaft zu vergessen.
AZ: Haben Sie einen abschließenden Gedanken zu diesem Thema?
Dr. Kameeta: Meine Hoffnung für Namibia besteht darin, dass wir einander mit diesem Gedenken näher kommen und finden. Nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Schwarz und Schwarz. In vielerlei Hinsicht sind wir eine höchst fragmentierte Nation. In unserem Denken und Handeln ist oft so wenig Toleranz. Diese Gräben müssen wir überwinden. Das Gedenken hat uns dazu anzuspornen. Es ist schade, dass es mit dem Gedenken auch Misstrauen und Zwietracht gibt. Mit den Lesern der Allgemeinen Zeitung wünsche ich, dass mit dem Gedenken die Debatte nicht beendet ist, sondern dass wir auch den Neuanfang finden.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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