„Halt` die Klappe und schwimm“
Von Simon Kunert, Swakopmund/Dover
Raus aus der warmen Jacke. Jetzt nicht denken. Nicht an den Wind. Nicht an Kälte. Es ist nur ein Sprung. Nur ein paar Minuten bis das Zittern aufhört. Rein ins Wasser und schwimmen. Nicht denken. Brille auf und rein.
Mit einem Satz springt Ulla Gussow-Büttner vom kleinen, weißen Boot ins eisige Wasser der Swakopmunder Mole: Der Seegang unruhig, der Wind mäßig. Was sich anhört wie eine Mutprobe unter Teenagern, ist in Wirklichkeit knallhartes Training. Training für den größten Mythos der Schwimmwelt. Den Mount Everest der Langstreckenschwimmer: den Ärmelkanal. 33 Kilometer Luftlinie zwischen England und Frankreich. 16 Grad kalt. Ein Mann braucht circa 36000 Kraulzüge und zwölf Stunden, um ihn zu durchqueren. Schwimmen am Limit. Eine Grenzerfahrung.
Für Ulla Gussow-Büttner, Bobby-Jo Bassingthwaighte und Sandy le Roux – drei Frauen in den Vierzigern aus Swakopmund – ist das nicht genug. Sie planen mit 30 Stunden. Sie wollen das Maximum. Das maximale Erlebnis. Den maximalen Erfolg. Sie wollen den Everest nicht nur besteigen, sie wollen ihn in die Knie zwingen. Ihn demütigen. Es wäre eine Premiere. Ihn zweimal am Stück zu durchschwimmen, hat bis jetzt noch kein Frauenteam geschafft.
Am 19. August startet ihr Abenteuer. Von Windhoek aus fliegen sie über London nach Folkstone, einer Kleinstadt an der englischen Südküste. Am dortigen Shakespeare Beach haben sie eine Woche Zeit, sich an das englische Wasser zu gewöhnen und die besten Bedingungen abzuwarten. Zwischen dem 26. und 28. August soll es dann so weit sein. Der Everest wartet. Der totale Triumph.
Kälte eine Tortur
Heute, an diesem grauen, nebligen Julitag in der Swakopmunder Mole, sind der Everest und der Triumph jedoch weit weg. Das einzige, was daran erinnert, ist das nasskalte britische Wetter. „Brr“, stöhnt Ulla. „Saukalt!“ Die Außentemperatur beträgt 14 Grad. Die des Wassers 13. Kaum wieder aufgetaucht, beginnt Ulla sofort zu schwimmen. Die Muskeln müssen arbeiten. Wärme produzieren. Das Kältegefühl unterdrücken. Nur nicht daran denken.
Neoprenanzüge sind beim Rekordversuch verboten. So wollen es die Regeln, so ist es auch beim Training. Sie trägt eine schwarze Badekappe, eine schwarze Schwimmbrille und einen schwarzen Badeanzug. Schwarz wie das alte Fischerboot, das in 100 Metern Entfernung an ihr vorbeituckert. Weiter hinten ist die Bohrinsel vor Walvis Bay zu sehen.
Heute ist einer der Härtetests für die drei Frauen. Sieben Stunden verbringen sie mit ihrem Boot auf offenem Meer. Schwimmen jeweils ein Stunde in freiem Gewässer, proben das Abklatschen im Wasser und das Erholen auf dem Boot.
Abhärtung und Gewöhnung sind notwendig. Beim Rekordversuch wartet mit 500 Schiffen pro Tag einer der vielbefahrensten Kanäle der Welt. 16 Grad wird Ende August das Wasser haben. Dazu kommen Feuerquallen und eine heftige Gezeitenströmung. Die Route verläuft daher in einer Kurve. Morgens spült die Flut die Schwimmer in nordöstliche Richtung. Danach drückt sie die Ebbe nach Südwesten. Die tatsächliche Strecke beträgt 45 Kilometer. Ist man zu langsam, lässt einen die Strömung nicht an Land. Nach 14 Stunden müssen die Drei deshalb am Cap Gris-Nez an der französischen Atlantikküste sein. Sonst endet das Abenteuer im Boot, anstatt am Strand. Rund 300 Schwimmer probieren sich jedes Jahr am Ärmelkanal. Nur jeder fünfte schafft es. Da Frauen mehr Körperfett haben, stehen ihre Chancen besser. Es hilft gegen die Kälte.
Im Februar erst ließ sich Ulla auf das große Abenteuer ein. Eine andere Schwimmerin war abgesprungen. Also fragten Sandy und Bobby-Jo bei ihr, der ehemaligen Brustschwimmerin, an. Knapp 30 Jahre hatte sie nicht regelmäßig trainiert. Spontan sagte sie zu. Der Gedanke, etwas so Außergewöhnliches zu schaffen, packte sie. Seitdem hat sich ihren Tagesablauf radikal geändert. Jeden Morgen steht sie um 5 Uhr am Rand des 25-Meter-Pools im alten Rössing Country Club und nachmittags am Strand der Mole, um zu trainieren. Dazwischen arbeitet sie in ihrer Vermietungs- und Recyclingfirma. Wie die beiden anderen ist auch sie selbstständig. Sie kann sich ihre Zeit frei einteilen. Lebenspartner und Kinder kommen dennoch oft zu kurz. „Sie sind sehr froh, wenn es endlich vorbei ist. Und ich persönlich freue mich mal auszuschlafen“, sagt Ulla. Im Mai besuchte sie extra einen Schwimmkurs, um effektiver kraulen zu können.
„Strokes for earth“
Was bleibt, ist die eine Frage: Warum tut man sich das an? „Das frage ich mich selbst jeden Tag“, lacht Ulla. „Man muss wohl ein bisschen verrückt sein.“ Sie will es sich selbst beweisen. Doch das ist nicht der einzige Grund. Die drei Frauen haben eine größere Mission. Auf ihren Anzügen steht in geschwungenen Lettern „Strokes for earth“. Züge für die Erde. Gemeinsam wollen gegen die Verschmutzung der Weltmeere kämpfen. „Es kommt ständig vor, dass man beim Schwimmen in einer Plastiktüte oder sonstigem Abfall hängen bleibt“, erklärt Bobby-Jo. Die „Strokes for life“-Fundraising-Aktion soll Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Am Strand zwischen Walvis Bay und Swakopmund haben die Schwimmerinnen mit Hilfe von 15 Sponsoren mittlerweile sechs große Müllcontainer aufgestellt. Weitere sollen folgen. „Wir möchten noch lange mit den Fischen schwimmen. Mit unserer Aktion wollen wir Strände und Meere sauber halten.“ Die zweimalige Bezwingung des Kanal-Mythos scheint für dieses ehrgeizige Ziel gerade groß genug.
Bobby-Jo ist die einzige, die wirklich weiß, was auf das Team zukommt. Sie war vor 1999 die erste Namibierin, die den Ärmelkanal durchschwamm. 2016 sollen der Catalina-Kanal und eine Umrundung von Manhattan Island folgen. Schafft sie beides, wird sie Mitglied im exklusiven Triple-Crown-Club, der Hall-of-Fame der Langstreckenschwimmer. „Bobby-Jo ist keine Frau, sie ist eine Maschine“, scherzt Sandy. „Sie ist unsere Antreiberin.“ Wenn eine der beiden anderen zögert, ins Wasser zu gehen, oder mault, fackelt die Maschine nicht lange. „Halt` die Klappe und schwimm“, schreit sie dann. „Dann weißt du Bescheid und schwimmst lieber“, grinst Sandy.
Ulla schwimmt mittlerweile seit fast einer Stunde. Gleich ist Wechsel. Wegen der Wellen hat sie in der Stunde nur 1,8 Kilometer geschafft. Normal sind es drei. Mit Bobby-Jo klatscht sie sich im Wasser ab. Ihre Finger sind bis zum Ansatz weiß. Die Lippen dunkelblau. Wasser leitet Wärme 24 Mal besser als Luft. Der Körper zieht bei Kälte das Blut rund um das Herz zusammen. Ein Reflex, der vor dem Erfrieren schützt. Beim Schwimmen ist er eher hinderlich. Nach einiger Zeit werden die Extremitäten taub. Das Gefühl verstärkt sich nachts, wenn sich das Wasser durch die Dunkelheit noch kälter anfühlt. Dazu kommt die körperliche Anstrengung. „Doch das ist nicht unser Problem“, weiß Bobby-Jo. „Viel wichtiger ist, wie wir die Seekrankheit und den fehlenden Schlaf wegstecken.“ Auf einem schaukelnden Schiff stimmt das optische Empfinden nicht mehr mit dem Körpergefühl überein. Die Folge sind Übelkeit und Schwindel. Zwar gibt es Tabletten dagegen, aber die machen müde. „Das ist natürlich schlecht, wenn man wieder ins Salzwasser muss, um zu schwimmen. Die Balance bei solchen Dingen wird darüber entscheiden, ob wir es schaffen“, erklärt Bobby-Jo.
Nach einer Stunde steigt Ulla aus dem Wasser. An Bord zieht sie den nassen Badeanzug aus, trocknet sich ab, isst eine Kleinigkeit. Wie heute, wird sie beim Rekordversuch ein kleines Fischerboot begleiten. An Bord sind dann neben Betreuerin Kelly Hicks auch zwei Vertreter der Channel Swimming Association (CSA). Die Durchquerung muss beim Verband angemeldet werden. Die Gebühr beträgt 4600 Pfund, rund 90000 N$. Nur 300 Versuche sind pro Jahr zugelassen. Mehr erlauben die Küstenwachen Englands und Frankreichs nicht. Mindestens acht Menschen sind bei der Überquerung schon gestorben. Die Verbandsvertreter an Bord zählen deshalb die Schlagrate. Verlangsamt oder verschnellert sie sich merklich, stimmt etwas nicht. Dann ist der Versuch vorbei. Ebenso, wenn eine der Schwimmerinnen vor dem Abklatschen das Boot oder ein anderes Hilfsmittel berührt.
Hicks wird sich um die Gesundheit der Sportlerinnen und ihre Verpflegung kümmern. Was sie ihren Schützlingen dabei gibt, ist nicht so wichtig, denn durch das Salzwasser quillt die Zunge auf – der Geschmackssinn geht verloren. Dennoch hat jede ihre eigenen Vorlieben. Ulla mag zwischen dem Schwimmen Joghurtshakes und Bananen. Gegen die Kälte schluckt sie Cayennepfeffer und Honig. Bobby-Jo bevorzugt belegte Brote. Sandy braucht Datteln, Schokolade und Energiegetränke. „Jeder entscheidet für sich, was oben wieder rauskommen soll“, lacht Ulla. Nach dem Everest freut sie sich vor allem auf zwei Dinge. „Ausschlafen und mindestens eine Flasche Sekt.“ Auch wenn der nach nichts schmecken wird.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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