Heiße Spur im namibischen Sand
Von Marianne J. Strauss, Windhoek
Ein altes Tagebuch, der Hinweis einer Friedhofsgärtnerin, eine Reise nach Namibia … Mit detektivischem Spürsinn hat sich die norddeutsche Geschichtswerkstatt Gröpelingen auf die Suche nach einem fehlenden Puzzlestück gemacht – und landete in Swakopmund!
Vier Jahre suchte man sie vergeblich. Weder im staubigen Stadtarchiv noch in alten Familienalben wurden Günter Reichert und die Geschichtswerkstatt fündig. Doch es galt als sicher, dass es sie gab: Fotografien des stattlichen Landguts Tölken in Gröpelingen, dem ehemaligen Bremer Arbeiterviertel. Dort residierte die Kaufmanns- und Arztfamilie Tölken, bis das beeindruckende Herrenhaus 1915 einem Friedhof weichen musste.
Christian Tölken, passionierter Freizeitahnenforscher aus Berlin, stöberte nur zu gern im alten Tagebuch einer seiner Vorfahren nach Hinweisen und Geschichten zu seinen Ahnen. Am meisten faszinierte ihn jedoch die detaillierte Zeichnung eines schönen Guts, die mit dem Vermerk „Landhaus Tölken in Gröpelingen bei Bremen“ sorgfältig in das Tagebuch eingetragen war. Seitenlange Erzählungen von der malerischen Kindheit „im schönen Gröpelingen“ und Geschichten vom beschaulichen Leben auf dem Hof schmückten die Seiten. Welch Leckerbissen für jeden Ahnenforscher! Um zunächst das Grab seiner Vorfahren zu finden, wandte sich Christian Tölken an die Stadt Gröpelingen. Hier wusste man nicht weiter und verwies ihn an die Geschichtswerkstatt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Vergangenheit des heutigen Bremer Stadtteils zu bewahren. Doch sogar hier schien die heiße Spur im norddeutschen Sande zu verlaufen.
Günter Reichert, Vorsitzender der Geschichtswerkstatt, erinnert sich: „Wir erhielten die Anfrage von Christian Tölken, die uns zunächst nicht außergewöhnlich schien. Doch dann konnten wir zu unserer eigenen Verwunderung weder das Grab noch das Gut der Tölkens lokalisieren! Dazu hatten wir ja keine entsprechenden Fotos – lediglich die Zeichnung im alten Tagebuch.“ Die ganze Geschichtswerkstatt Gröpelingen packte die detektivische Neugier. An allen denkbaren Stellen suchten Günter Reichert und sein Team nach Hinweisen, Einträgen oder Bildern. Schließlich kam die Geschichtswerkstatt mit ihren Nachforschungen zur Friedhofsverwaltung der Stadt. Die spannende Geschichte um die lange Suche nach dem Grab und dem Landhaus Tölken zog auch die Mitarbeiter des Friedhofs an – und da fiel es einer Friedhofsgärtnerin ein! Bezeichneten die alten Kollegen nicht den Urnenfriedhof in Gröpelingen stets als „Tölkenland“?
„Und da hatten wir es!“ freut sich Günter Reichert. „Das Anwesen der Tölkens war lokalisiert. Die Friedhofsgärtner wussten noch viel mehr zu berichten – so war etwa viel vom schönen alten Baumbestand des Guts auf dem Urnenfriedhof erhalten geblieben.“ Das erste Ziel war erreicht. Doch wo waren die Fotos des Landguts? Dass sie existierten, war gewiss. Wie schön wäre es, die Geschichte mit einem echten Bild untermalen zu können! Die Nachforschungen zogen sich weiter hin. Dann bewies Christian Tölken selbst den richtigen Riecher. Hatte eventuell einer seiner Vorfahren die Fotos als Erinnerung mitgenommen, als er ins damalige Südwest-Afrika ausgewandert war?
Er hatte.
Im Oktober 2014 brach Günter Reichert nach Namibia auf, um dort die Nachfahren des Auswanderers zu besuchen, die weißen Flecken mit den Farben der Gewissheit zu füllen – und endlich die weitgereisten Fotos der Tölkens zu sehen. In Swakopmund traf der norddeutsche Sherlock Holmes auf Heidi und Eberhard Tölken. Er war am Ziel seiner Reise. In trauter Runde am Wohnzimmertisch plauderte das engagierte Ehepaar aus dem Ahnennähkästchen – und holte schließlich das Familienalbum aus dem Schrank! Da waren sie, die Fotos vom Landhaus Tölken! „Mir sind förmlich die Augen übergegangen“ schwärmt Günter Reichert, „da sitze ich in Namibia und sehe zum ersten Mal die Bilder des wunderschönen Anwesens der Tölkens – ein Stück Gröpelinger Geschichte! Ich durfte etliche Bilder abfotografieren und habe endlich die ganze Geschichte der Auswanderung und der mitgenommenen Fotos erfahren.“
So war im Jahr 1928 Heinz Tölken, einer der zahlreichen Enkel des Gröpelinger Landgutbesitzers, mitsamt den Familienfotos nach Südwest-Afrika ausgewandert und hatte dort in Omaheke die Farm Sturmfeld erworben, die direkt an die Farm Harnas angrenzt. Mit seinen Brüdern, Schwestern, Cousins und Cousinen war Heinz auf dem Gröpelinger Gut aufgewachsen, wie schon sein Vater, seine Onkel und seine Tanten vor ihm. Heinz Tölken hütete die kostbaren Fotos wie einen Schatz, bargen sie doch die einzigen Erinnerungen an seine zauberhafte Kindheit, die malerische Umgebung und das „schöne Gröpelingen“, von dem er noch in Namibia im engsten Familienkreis schwärmte. So wurden Bilder aus dieser Zeit von seinem Sohn Eberhard und seiner Schwiegertochter Heidi im Familienalbum gut verwahrt.
In den 1960ern übergab Heinz Tölken die Farm Sturmfeld an seinen Sohn und starb 1980, ohne den heutigen Bremer Stadtteil Gröpelingen je wiedergesehen zu haben. Heidi und Eberhard Tölken gaben die Farm ihrerseits vor fünf Jahren an Tochter und Schwiegersohn weiter und leben seitdem als Rentner in Swakopmund, wo sie sich für den Erhalt historischer Gebäude stark machen. Eine besondere Herzensangelegenheit ist den Tölkens der Einsatz für die San-Schule Gqaina nahe ihrem Farmgelände am Rande der Kalahari.
Vier Jahre Suche haben ein glückliches Ende gefunden. Dank dem detektivischen Spürsinn der Geschichtswerkstatt ist Gröpelingen um ein wichtiges Puzzlestück und eine spektakuläre Episode reicher – und die einzigartige Familiengeschichte der Tölkens für immer bewahrt!
Kommentar
Allgemeine Zeitung
Zu diesem Artikel wurden keine Kommentare hinterlassen