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Hillsborough-Katastrophe vor 30 Jahren – „Hoffen auf Gerechtigkeit“

Sportredakteur
Von Philip Dethlefs und Lars Reinefeld, dpa
Liverpool

Am berühmten Stadion Anfield, wo der FC Liverpool in dieser Saison nach dem ersten Meistertitel seit 29 Jahren strebt, steht ein Denkmal für die Opfer der Hillsborough-Tragödie. Das ganze Jahr über ist es mit Blumen, Kränzen und Bildern dekoriert. Derzeit sind es besonders viele. Denn an diesem Montag jährt sich das Unglück, in dessen Folge 96 Menschen ihr Leben verloren, zum 30. Mal.
„Wir werden Hillsborough nie vergessen“, sagt Graham Agg, Mitglied des deutschstämmigen, offiziellen FC-Liverpool-Fanclubs German Reds. Die Katastrophe ist bis heute überall präsent. Auf den Trikots des Fußballclubs erinnert eine kleine 96 daran. „Jeder in der Stadt kennt jemanden, der in Hillsborough war und dem etwas passiert ist“, sagt der Liverpooler Luke Daly. „Liverpool war schon immer eine Stadt, in der die Menschen sehr stark zusammengehalten haben. Durch Hillsborough hat sich das damals noch verstärkt.“
Was am 15. April 1989 eigentlich ein Fußballfest werden sollte, wurde zur schlimmsten Katastrophe der britischen Sportgeschichte. Am Samstagnachmittag um 15.00 Uhr sollte das Pokal-Halbfinale zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest in Sheffield beginnen. Die Fans waren angewiesen worden, eine Viertelstunde vorher da zu sein, doch beim Anpfiff standen viele Zuschauer noch vor dem Hillsborough-Stadion.
Die Anfrage eines anwesenden Polizeibeamten über Funk, das Spiel später anzupfeifen, fand kein Gehör. Während der Ball bereits rollte und der Lärm aus dem Stadion nach draußen drang, drängten sich tausende Fans an den Eingängen. Dann traf der verantwortliche Polizei-Einsatzleiter David Duckenfield eine folgenschwere Entscheidung: er ließ zusätzliche Tore öffnen. Über 3000 Zuschauer stürmten daraufhin eine Tribüne, die nur für 1600 Menschen vorgesehen war. Bereits anwesende Fans wurden gegen die hohen Zäune gedrückt.
Der damalige Liverpool-Torwart Bruce Grobbelaar erinnerte sich zum 20. Jahrestag in der Zeitung „Liverpool Echo“ an die Katastrophe - und an die panischen Gesichter der Fans, die gegen das Gitter gepresst wurden. „Sie haben nach mir geschrien, ob ich etwas tun kann“, sagte Grobbelaar. Der Keeper wandte sich an eine Polizistin. Die antwortete ihm, sie könne nichts tun. „Es war fürchterlich“, sagte der Keeper. „Es ist schwer zu begreifen, was da passiert ist.“
94 Fans, darunter viele Jugendliche, kamen am diesem 15. April 1989 ums Leben. Sie wurden zerquetscht oder erstickten. Das 95. Todesopfer starb einige Tage später im Krankenhaus. Ein zum Zeitpunkt des Unglücks 18 Jahre alter Zuschauer erlitt schwerste Hirnschäden. Er wurde jahrelang künstlich am Leben erhalten, bis die lebenserhaltenden Maßnahmen auf Bitten seiner Eltern abgeschaltet wurden. Er gilt als das 96. Todesopfer der Hillsborough-Katastrophe, bei der außerdem mehr als 700 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Die Angehörigen der Opfer kämpfen seit Jahrzehnten dafür, dass die mutmaßlichen Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. „Alle hoffen endlich auf Gerechtigkeit“, sagt der 45-jährige Daly. „Aber ob es die wirklich geben wird, wage ich nicht zu beurteilen.“ Erst 2016 - nach jahrelangem Streit um die Schuldfrage - entschied ein Gericht nach einer unabhängigen Untersuchung, dass die Katastrophe kein Unfall war, sondern die Polizei durch ihr Fehlverhalten eine Mitschuld trug.
Weitreichende Konsequenzen gab es bisher nicht. Anfang des Monats endete der Gerichtsprozess gegen David Duckenfield, der sich wegen fahrlässiger Tötung in 95 Fällen verantworten musste, ergebnislos. Die Jury am Preston Crown Court teilte mit, sie sei zu keinem Urteil gekommen. Die britische Staatsanwaltschaft kündigte umgehend ein Wiederaufnahmeverfahren gegen den 74-Jährigen an. Duckenfield sieht sich hingegen als Sündenbock, der für eine zu kurzfristige Planung und fehleranfällige Infrastruktur geradestehen müsse.
Die Anklage gegen einen weiteren Polizeibeamten war im August 2018 fallen gelassen worden, weil es laut Generalstaatsanwaltschaft keine realistische Aussicht auf eine Verurteilung gegeben habe. Immerhin gab es für die Angehörigen der Opfer nun einen kleinen Teilerfolg: Graham Mackrell (69), damals Geschäftsführer von Sheffield Wednesday, wurde wegen Missachtung der Sicherheitsvorschriften im Stadion für schuldig befunden. Es war der erste Schuldspruch nach Hillsborough.
Sicherheitsbedenken gegen die hohen Zäune, die als Maßnahme gegen Hooliganismus und Platzstürme damals in vielen englischen Stadien standen, hatte es schon länger gegeben. Nach mehreren brenzligen Zwischenfällen in den Vorjahren, bei denen es auch Verletzte gab, sollen sich mehrere Fans sogar schriftlich an die Behörden gewandt und vor den Gefahren in Sheffield gewarnt haben - ohne Erfolg.
Womöglich hätte das Schlimmste verhindert werden können, wenn nur die Fluchttore zum Platz sofort geöffnet worden wären. Doch die Beamten zögerten, wohl weil die Angst vor einem Platzsturm größer war als die Sorge um die Gesundheit der Fans. Weitere schwere Versäumnisse soll es bei der medizinischen Versorgung der Opfer gegeben haben.
Die Liste mutmaßlicher Verfehlungen rund um das Unglück ist lang. Für Entrüstung sorgte wenige Tage danach die britische Boulevard-Zeitung „The Sun“. Unter der Überschrift „Die Wahrheit“ erhob sie schwere Anschuldigungen gegen Fußballfans. Sie hätten die Opfer bestohlen, auf die Toten uriniert und die Polizei angegriffen. Die Berichte stellten sich im Nachhinein als unwahr heraus. Eine Entschuldigung kam erst spät. In Liverpool wird die „Sun“ bis heute von vielen Bürgern und Geschäften boykottiert.
„Wenn wir die „Sun“ verkaufen würden, dann würden die Leute hier nicht mehr einkaufen“, sagt Adam, Verkäufer in einem Zeitschriftenladen in der Great George Street. Im Fenster des Geschäfts klebt ein Anti-„Sun“-Sticker. «Die Kunden haben entschieden, dass es dieses Scheißblatt hier nicht mehr gibt», sagt Adam. „Es wurden damals so viele Lügen in der Sun verbreitet, keiner in Liverpool nimmt dieses Blatt mehr in die Hand.“ Auch 30 Jahre nach der Hillsborough-Tragödie sind die seelischen Wunden noch lange nicht verheilt.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-25

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