In jedem Chat eine neue Spur: Die Arbeit der Missbrauchsermittler
Von Jonas-Erik Schmidt, dpa
Köln (dpa) - Manchmal hilft ein Vergleich. Vor allem, wenn es um Dinge geht, die nicht bis ins Letzte in Worte zu fassen sind. „Man kann sich das wie ein Puzzle mit vielen Tausend Teilen vorstellen“, sagt Kriminaldirektor Michael Esser über seine Arbeit. Den Rand, die ersten Teile, die habe man immer recht schnell beisammen. „Aber wenn man zur Mitte will, wird es immer schwieriger“, sagt Esser, der im Kölner Polizeipräsidium sitzt und mit seinen Leuten einen Fall aufklären soll, bei dem sich unter jedem gefundenen Teilchen ein neuer Abgrund auftun kann. Und bei dem noch gar kein Ende absehbar ist. „Wir werden auch erleben“, sagt der Polizist, „dass wir einige Steine gar nicht finden werden.“ Es geht um den Fall Bergisch Gladbach.
Die Stadt, nur wenige Kilometer von Köln entfernt, ist ungewollt zur Chiffre geworden. Für ein Geflecht von Männern, die Kinder missbrauchen und sich darüber über das Internet austauschen. Der Missbrauchskomplex bekam den Namen Bergisch Gladbach, weil von dort ein Verdächtiger stammt, der in gewisser Weise am Anfang stand. Am Montag (10. August) soll der Prozess gegen den 43-Jährigen in Köln beginnen. Das rückt die Arbeit der Polizei aufs Neue in den Vordergrund. Sie hat mittlerweile viele Erkenntnisse gesammelt.
Den Anfang markierte eine Durchsuchung im Oktober 2019 bei dem Familienvater. Ermittler waren im Zuge eines anderen Verfahrens wegen Kinderpornografie auf ihn gestoßen. Als sie die Räume absuchen, finden sie Tausende Bilder und Videos, riesige Datenmengen. Und vor allem: digitale Spuren zu Chatpartnern. Davon ausgehend kommen sie nach und nach immer mehr Verdächtigen auf die Spur. Wie sich herausstellt, hatten sie nur das erste Puzzleteil in der Hand.
Heute sprechen die Ermittler von einer neuen Dimension. Längst haben sich die Ermittlungen auf ganz Deutschland ausgeweitet. Fast 50 Kinder wurden identifiziert und aus den Fängen der Täter befreit. „Kindesmissbrauch hat es auch schon vorher gegeben“, sagt Esser, der die Ermittlungsgruppe „Berg“ leitet. Das Besondere sei das brutale Vorgehen, das man festgestellt habe. „Wenn man in die Chats schaut und liest, was dort geschrieben wird, hat man früher vielleicht gedacht: Da trägt einer dick auf. Aber wir stellen fest: Was gesagt wurde, ist auch tatsächlich eingetreten.“ Etwa der Austausch von Kindern zum Missbrauch. Einen besonderen „Täter-Typus“ könne er dabei bislang nicht beschreiben. „Das ist ein Querschnitt der Gesellschaft.“
Für die Polizei hat der Fall mehrere Herausforderungen. Die eine ist psychischer Natur: Das Material muss angeschaut werden. Die sogenannten Auswerter sitzen in Köln in einem großen Raum zusammen, „damit sie gegenseitig auf sich aufpassen können“. Auch Psychologen und Seelsorger stehen ihnen zur Seite. „Diese Fotos, Videos und vor allem die Aussagen in Chats machen die Seele krank, wenn man sie nicht be- und verarbeitet“, sagt Esser.
Die andere Herausforderung ist die Enttarnung der Täter, die sich in einer Parallelwelt im Internet bewegen und hinter Pseudonymen verbergen. Mit jeder Durchsuchung kommen neue hinzu. „Wir reden von 30 000 unbekannten Tatverdächtigen“, erläutert Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime NRW (ZAC NRW). Die Zahl klingt so unglaublich wie erschreckend hoch. Eine ganze mittelgroße Stadt voller möglicher Täter? An der ZAC ist eine Taskforce damit beschäftigt, den Pseudonymen echte Namen zuzuordnen.
Natürlich gebe es dabei Unschärfen, sagt Oberstaatsanwalt Hartmann - nicht hinter jeder der 30 000 „digitalen Identitäten“ stehe auch exakt ein Tatverdächtiger. Vielleicht hat einer mehrere Identitäten, vielleicht gibt es in einem Forum Karteileichen. „Aber im Regelfall legen es die Täter in diesen Foren auf eine gewisse Reputation an“, sagt Hartmann. „Wer eine bestimmte Art Material anbietet, bekommt selbst mehr Zugriff auf andere Bereiche.“ Man gehe davon aus, „eher einen geringen“ Abschlag machen zu müssen. „Das ist keine Mini-Szene“, sagt Hartmann. „Das ist eine deutschlandweite und europavernetzte Szene.“
Innerhalb dieser Szene finden die Täter einen Resonanzraum, in denen ihre Taten ganz selbstverständlich besprochen werden. Hartmann nennt es eine „Wechselwirkung von Tatgeschehen und Kommunikation“. „Soll heißen: Wenn Leute eine Neigung zum Kindesmissbrauch haben, aber sich nicht auskennen, wie sie es in die Tat umsetzen sollen - dann finden sie im Internet Gesprächsgruppen, in denen sie das lernen.“
Dass am Ende 30 000 Anklagen erhoben werden, gilt wegen der technischen und rechtlichen Gegebenheiten als utopisch. Dennoch sei die ganze Arbeit ungemein wichtig, sagt Hartmann. „Weil es erstmals gelingt, bei Leuten, die sich offensichtlich über Jahre hinweg sicher gefühlt haben, ein Preisschild an die Tätigkeit zu machen.“
Köln (dpa) - Manchmal hilft ein Vergleich. Vor allem, wenn es um Dinge geht, die nicht bis ins Letzte in Worte zu fassen sind. „Man kann sich das wie ein Puzzle mit vielen Tausend Teilen vorstellen“, sagt Kriminaldirektor Michael Esser über seine Arbeit. Den Rand, die ersten Teile, die habe man immer recht schnell beisammen. „Aber wenn man zur Mitte will, wird es immer schwieriger“, sagt Esser, der im Kölner Polizeipräsidium sitzt und mit seinen Leuten einen Fall aufklären soll, bei dem sich unter jedem gefundenen Teilchen ein neuer Abgrund auftun kann. Und bei dem noch gar kein Ende absehbar ist. „Wir werden auch erleben“, sagt der Polizist, „dass wir einige Steine gar nicht finden werden.“ Es geht um den Fall Bergisch Gladbach.
Die Stadt, nur wenige Kilometer von Köln entfernt, ist ungewollt zur Chiffre geworden. Für ein Geflecht von Männern, die Kinder missbrauchen und sich darüber über das Internet austauschen. Der Missbrauchskomplex bekam den Namen Bergisch Gladbach, weil von dort ein Verdächtiger stammt, der in gewisser Weise am Anfang stand. Am Montag (10. August) soll der Prozess gegen den 43-Jährigen in Köln beginnen. Das rückt die Arbeit der Polizei aufs Neue in den Vordergrund. Sie hat mittlerweile viele Erkenntnisse gesammelt.
Den Anfang markierte eine Durchsuchung im Oktober 2019 bei dem Familienvater. Ermittler waren im Zuge eines anderen Verfahrens wegen Kinderpornografie auf ihn gestoßen. Als sie die Räume absuchen, finden sie Tausende Bilder und Videos, riesige Datenmengen. Und vor allem: digitale Spuren zu Chatpartnern. Davon ausgehend kommen sie nach und nach immer mehr Verdächtigen auf die Spur. Wie sich herausstellt, hatten sie nur das erste Puzzleteil in der Hand.
Heute sprechen die Ermittler von einer neuen Dimension. Längst haben sich die Ermittlungen auf ganz Deutschland ausgeweitet. Fast 50 Kinder wurden identifiziert und aus den Fängen der Täter befreit. „Kindesmissbrauch hat es auch schon vorher gegeben“, sagt Esser, der die Ermittlungsgruppe „Berg“ leitet. Das Besondere sei das brutale Vorgehen, das man festgestellt habe. „Wenn man in die Chats schaut und liest, was dort geschrieben wird, hat man früher vielleicht gedacht: Da trägt einer dick auf. Aber wir stellen fest: Was gesagt wurde, ist auch tatsächlich eingetreten.“ Etwa der Austausch von Kindern zum Missbrauch. Einen besonderen „Täter-Typus“ könne er dabei bislang nicht beschreiben. „Das ist ein Querschnitt der Gesellschaft.“
Für die Polizei hat der Fall mehrere Herausforderungen. Die eine ist psychischer Natur: Das Material muss angeschaut werden. Die sogenannten Auswerter sitzen in Köln in einem großen Raum zusammen, „damit sie gegenseitig auf sich aufpassen können“. Auch Psychologen und Seelsorger stehen ihnen zur Seite. „Diese Fotos, Videos und vor allem die Aussagen in Chats machen die Seele krank, wenn man sie nicht be- und verarbeitet“, sagt Esser.
Die andere Herausforderung ist die Enttarnung der Täter, die sich in einer Parallelwelt im Internet bewegen und hinter Pseudonymen verbergen. Mit jeder Durchsuchung kommen neue hinzu. „Wir reden von 30 000 unbekannten Tatverdächtigen“, erläutert Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime NRW (ZAC NRW). Die Zahl klingt so unglaublich wie erschreckend hoch. Eine ganze mittelgroße Stadt voller möglicher Täter? An der ZAC ist eine Taskforce damit beschäftigt, den Pseudonymen echte Namen zuzuordnen.
Natürlich gebe es dabei Unschärfen, sagt Oberstaatsanwalt Hartmann - nicht hinter jeder der 30 000 „digitalen Identitäten“ stehe auch exakt ein Tatverdächtiger. Vielleicht hat einer mehrere Identitäten, vielleicht gibt es in einem Forum Karteileichen. „Aber im Regelfall legen es die Täter in diesen Foren auf eine gewisse Reputation an“, sagt Hartmann. „Wer eine bestimmte Art Material anbietet, bekommt selbst mehr Zugriff auf andere Bereiche.“ Man gehe davon aus, „eher einen geringen“ Abschlag machen zu müssen. „Das ist keine Mini-Szene“, sagt Hartmann. „Das ist eine deutschlandweite und europavernetzte Szene.“
Innerhalb dieser Szene finden die Täter einen Resonanzraum, in denen ihre Taten ganz selbstverständlich besprochen werden. Hartmann nennt es eine „Wechselwirkung von Tatgeschehen und Kommunikation“. „Soll heißen: Wenn Leute eine Neigung zum Kindesmissbrauch haben, aber sich nicht auskennen, wie sie es in die Tat umsetzen sollen - dann finden sie im Internet Gesprächsgruppen, in denen sie das lernen.“
Dass am Ende 30 000 Anklagen erhoben werden, gilt wegen der technischen und rechtlichen Gegebenheiten als utopisch. Dennoch sei die ganze Arbeit ungemein wichtig, sagt Hartmann. „Weil es erstmals gelingt, bei Leuten, die sich offensichtlich über Jahre hinweg sicher gefühlt haben, ein Preisschild an die Tätigkeit zu machen.“
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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