Kindererziehung: Zwischen Narzissmus und Wir-Gefühl
von Lucas Kesselhut, Windhoek
WAZon: Sie behaupten, deutsche Kinder seien verplant, überwacht und auf Leistung reduziert. Wie kommen sie auf diese geballte Negativität?
M. Fink: Was wir bei uns in Deutschland beobachten ist, dass Kinder immer stärker und länger in einer Kunstblase leben und teils sehr „ verschult“ werden. Bis zum 30. Lebensjahr sehen viele nur die Schule und Universität und leben bis dahin nur in einer Vorbereitungsphase. Sie haben gar keine Verantwortung mehr in der Gesellschaft, sie nehmen gar nicht mehr daran teil. Da werden Kinder eher zum Projekt. Wir haben den Eindruck, dass das bei uns zu einer Lähmung der Kinder führt.
R. Gronemeyer: Kinder aus der Wohlstandsgesellschaft haben es in mancher Hinsicht sehr gut. Gleichzeitig befinden sie sich aber auch in einem Gefängnis – in einer sehr von Karriere- und Erfolgsdenken geprägten Welt. Woran einige auch zerbrechen, wie wir wissen.
Das ist in Namibia anders?
M. Fink: Im südlichen Afrika werden die Kinder gebraucht, haben im ganz ernsthaften Sinne eine Aufgabe. Das führt dazu, dass die Kinder unglaublich souverän sind. Viele Kinder sind für die Geschwister verantwortlich, holen beispielsweise Wasser und kochen. Das wird bei uns in Deutschland meist als Kinderarbeit gesehen. Wir denken aber, dass es sehr positiv ist. In Deutschland werden die Kinder von jeglicher sinnvollen Tätigkeit der Eltern ausgeschlossen.
R. Gronemeyer: Ich habe keinen Zweifel daran, dass die schwarzen und weißen Eliten hier in Namibia auf dem gleichen Weg sind wie die Deutschen. Wir reden auch nicht von Kindern im absoluten Elend. Das wollen wir auf keinen Fall schönreden.
Auf welcher Erfahrungsgrundlage basieren Ihre Einschätzungen?
M. Fink: Explizit forschen wir seit drei Jahren in Kooperation mit der Deutschen Forschungsgesellschaft zur Frage, wie Namibia mit der Waisenkrise umgeht. Wir haben dazu viele Interviews geführt. So haben wir beispielsweise ländliche Regionen im Norden mit Katutura verglichen und in beiden Regionen in den über drei Jahren nun mit vielen Leuten Gespräche geführt. Und uns die Frage gestellt, was die kulturell bedingt anderen Voraussetzungen für die Kindheit hier sind.
Auf welche interessanten Gesichtspunkte sind Sie da gestoßen?
M. Fink: Wir sind auf das Phänomen der sozialen Elternschaft gestoßen. Die biologische Elternschaft spielt hier in Namibia keine sehr große Rolle. Das verändert sich auch, aber trotzdem ist es immer noch so, dass nur ein Viertel der Kinder unter 18 Jahren bei beiden biologischen Eltern lebt. Das ist einerseits bedingt durch die Waisenkrise, aber nicht nur. Es ist in Namibia mehr eine kulturelle Praxis. Das hat viele Gründe, weil sie zum Beispiel bei der Feldarbeit gebraucht werden oder weil das Stadtleben zu teuer ist. In der Owambo-Kultur wird das „Okutekulva“ genannt. Das führt dazu, dass die Kinder nicht nur eine oder zwei Bezugspersonen haben, sondern ganz viele.
R. Gronemeyer: Wir haben in Namibia Menschen besucht, die Schrottsammler waren. Die lebten im Schrott. Und dann saß mir gegenüber ein kleiner Junge, etwa drei Jahre alt, mit seiner Schwester. Beide in Lumpen gehüllt, es war ein Bild des Elends. Und der Junge saß da und holte mit einem rostigen Nagel einen Splitter aus dem Fuß. Das hat nichts von einem Vorbild. Aber das zeigte, welch Fähigkeit und Energie in den Kindern hier steckt, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Also sind Kinder in Namibia viel selbstständiger als Kinder in Deutschland?
M. Fink: Kinder in Namibia strahlen Souveränität aus. Uns ist immer wieder aufgefallen, dass gerade da, wo Kinder unter schweren Bedingungen leben müssen, keine Sozialisierungsdefizite erkennbar sind. Da begegnet man nur sehr wenigen verhaltensauffälligen Kindern. Wenn man das bei uns vergleicht, wo der Gang zum Therapeuten mehr und mehr zu Normalität wird, da fragt man sich schon, warum ist es bei uns so und hier anders? Obwohl sich die Situation der Kinder in Namibia eher verschlechtert, als verbessert.
R. Gronemeyer: Und uns ist immer aufgefallen, wie kraftvoll, stark und heiter viele dieser afrikanischen Kinder sind. Sie brauchen für den Schulweg teilweise mehr als eine Stunde. Bei uns in Deutschland sind fünf Minuten für viele Kinder schon eine körperliche Zumutung.
Souveränität und arme Kinder in Afrika – das ist kein Widerspruch?
M. Fink: In der Kunene-Region hatten wir beispielsweise ein ganz besonderes Erlebnis: Da war ein alter und blinder Mann, der von einem dreijährigem Kind geführt wurde. Dieses Kind ist dem Mann zugewiesen worden, war also dafür zuständig, ihn im Alltag zu begleiten.
R. Gronemeyer: Die hatten ein ganz zärtliches Verhältnis. Bei uns würde man sagen, da müsste man das Jugendamt benachrichtigen. Das Kind in der Kunene-Region spürte aber, dass es wichtig war. Machen unsere Kinder in Deutschland denn die Erfahrung? Die kennen meist nur „Ich bin gescheitert“ oder „Ich bin erfolgreich“, aber die Erfahrung, wichtig zu sein, die ist in unserer Gesellschaft gewichen. Also in meiner Kindheit war es so, dass wir als Kinder einkaufen gegangen sind. Wir bekamen das Geld und haben eingekauft. Und das war eine verantwortungsvolle Aufgabe. Wir sind uns wichtig vorgekommen. Heute jammern die Kinder, wenn sie einkaufen gehen müssen. Und das einfach wieder zu ändern, das ist schwierig. Das ist nicht mehr wiederherstellbar.
Da sind Sie ganz pessimistisch?
R. Gronemeyer: Ich bin skeptisch, aber ich glaube da an Wunder. An das Wunder, dass Kinder aus dem Nichts wieder etwas hinkriegen. Ich habe vor zwei Wochen mit der Ministerpräsidentin des Saarlandes ein Gespräch gehabt. Und ich war verblüfft, mit welcher Klarheit sie gesagt hat: „Wir alle wissen doch, dass es so nicht weitergeht.“ Krisen werden kommen, auf die unsere Kinder nicht vorbereitet sind. Denn werden unsere Kinder auf das, was auf sie zukommt, gut vorbereitet? Ich glaube nicht.
M. Fink: Mir fällt es schwer, optimistisch zu sein. Aber ich hoffe, dass sich Wege finden lassen. Viele Eltern sind nicht mehr in der Lage, sind verunsichert. Das sieht man an den vielen Ratgebern.
Ihr kürzlich veröffentlichtes Buch „Unsere Kinder“ ist aber kein Ratgeber, oder?
R. Gronemeyer: Nein, dort wird es keine „Rezepte“ geben. Wir wollen mit dem Buch Anstöße geben, darüber nachzudenken, was unsere Kinder wirklich brauchen. Brauchen sie noch mehr Plastikspielzeug oder brauchen sie etwas anderes? Genau diese Fragen werden im Buch behandelt. Wir können nicht zusammenleben, wenn wir nur unseren Narzissmus ausleben.
Der Narzissmus, der Kinder zu sogenannten „Ichlingen“ macht, wie Sie beschreiben?
R. Gronemeyer: Viele Kinder in Deutschland kommen ans Ende, haben keine Kraft mehr. Keinesfalls passt diese negative Beschreibung auf alle. Bei uns gibt es auch wundervolle Kinder. Aber es gibt eben auch die, bei denen man sieht, dass die Lebenskraft versiegt ist, bevor sie überhaupt entstehen konnte.
M. Fink: …diejenigen, die bei uns auf Leistung und Konsum reduziert werden.
Wie wird es in Deutschland denn mit der Erziehung weitergehen?
R. Gronemeyer: Ich glaube, dass der von Leistungsdruck geprägte Bildungsapparat die Entwicklung in Deutschland an die Wand fährt. Und das geht so nicht. Also die Wahrscheinlichkeit, dass es so weitergeht wie bisher, ist sehr hoch. Aber es ist nicht alles finster in Deutschland. Es gibt ja sehr viele Aufbrüche. Es gibt eine große Sehnsucht nach einer neuen Nachdenklichkeit. Immer mehr Menschen entscheiden sich gegen eine 80-Stunden-Woche. Sie wollen nämlich mehr Zeit für sich, für ihre Familie und für ihre Freunde haben. Das ist viel zukunftsorientierter als die Jungs, die mit ihrem Schlips an der Börse spekulieren.
M. Fink: Und das ist der Beweis, dass sich das Lebendige nicht ausrotten lässt.
Und wie geht es mit der Erziehung in Namibia weiter?
R. Gronemeyer: Wir können nicht vorschreiben, was die Leute in Namibia machen sollen. Aber wir nehmen es zur Kenntnis, dass da manchmal etwas versäumt wird. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Mitarbeiter des Ministeriums für Geschlechtergleichheit und Kinderfürsorge sehr engagiert arbeiten. Aber sie haben es in Namibia auch mit immer größer werdenden Problemen zu tun. Wir wollen keine allgemeine Europäer-Schelte auf Namibia geben, sondern sehen, wie viel in Namibia getan und trotzdem zerfleddert wird.
M. Fink: Die Armut in Namibia ist dramatisch. Ich würde nicht sagen, dass sich das in den nächsten 20 Jahren ändert. Momentan scheint es eher so, dass sich die Situation durchaus verschärft. Dass die Menschen einerseits unter einem großen Modernisierungsdruck stehen, aber nur die Wenigsten die Chancen haben, an der Moderne teilzuhaben.
Sollte sich dann nicht eher Namibia etwas von Deutschland abgucken?
R. Gronemeyer: Eine Gesellschaft, die nur aus Gleichem besteht, ist nicht existenzfähig. Wir brauchen die Unterschiedlichkeit. Und Namibia hat eine unglaublich unterschiedliche kulturelle Tradition. Wäre es traumhaft, wenn in Namibia irgendwann Tausende von Einzelkindern in ihren Einzelzimmern, vollgestopft mit Plastikspielzeug leben müssten? Das kann es nicht sein. Aber die Frage ist, was dann? Und das müssen die Namibier beantworten und nicht wir.
Vielen Dank für das Gespräch!
Reimer Gronemeyer, geb. 1939 in Hamburg, Dr. theol. und Dr. rer. soc., Professor em. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeiten zu: Konflikte zwischen den Generationen, Hospizarbeit und Demenz sowie zur Entwicklung im südlichen Afrika. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Namibia, Botswana, Zimbabwe, Malawi, Sudan. Forschungsprojekte zum Thema Waisen und Kinder in schwierigen Lebenssituationen, Mangelernährung bei Kindern. Reimer Gronemeyer ist Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins " Pallium e.V." , der sich für Kinder-Projekte in Namibia engagiert.
Michaela Fink, geboren 1973, Dr. phil., Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeiten zu: Kindheit und Waisenschaft im südlichen Afrika sowie die Institutionalisierung der Sterbebegleitung in der Hospizbewegung und Palliative Care. Bis 2012 Aufbau und Leitung des Ambulanten Kinderhospizdienstes Gießen, seit 2015 freie Gutachterin für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ); seit 2004 ehrenamtliches Gründungs- und Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Pallium - e.V.“.
WAZon: Sie behaupten, deutsche Kinder seien verplant, überwacht und auf Leistung reduziert. Wie kommen sie auf diese geballte Negativität?
M. Fink: Was wir bei uns in Deutschland beobachten ist, dass Kinder immer stärker und länger in einer Kunstblase leben und teils sehr „ verschult“ werden. Bis zum 30. Lebensjahr sehen viele nur die Schule und Universität und leben bis dahin nur in einer Vorbereitungsphase. Sie haben gar keine Verantwortung mehr in der Gesellschaft, sie nehmen gar nicht mehr daran teil. Da werden Kinder eher zum Projekt. Wir haben den Eindruck, dass das bei uns zu einer Lähmung der Kinder führt.
R. Gronemeyer: Kinder aus der Wohlstandsgesellschaft haben es in mancher Hinsicht sehr gut. Gleichzeitig befinden sie sich aber auch in einem Gefängnis – in einer sehr von Karriere- und Erfolgsdenken geprägten Welt. Woran einige auch zerbrechen, wie wir wissen.
Das ist in Namibia anders?
M. Fink: Im südlichen Afrika werden die Kinder gebraucht, haben im ganz ernsthaften Sinne eine Aufgabe. Das führt dazu, dass die Kinder unglaublich souverän sind. Viele Kinder sind für die Geschwister verantwortlich, holen beispielsweise Wasser und kochen. Das wird bei uns in Deutschland meist als Kinderarbeit gesehen. Wir denken aber, dass es sehr positiv ist. In Deutschland werden die Kinder von jeglicher sinnvollen Tätigkeit der Eltern ausgeschlossen.
R. Gronemeyer: Ich habe keinen Zweifel daran, dass die schwarzen und weißen Eliten hier in Namibia auf dem gleichen Weg sind wie die Deutschen. Wir reden auch nicht von Kindern im absoluten Elend. Das wollen wir auf keinen Fall schönreden.
Auf welcher Erfahrungsgrundlage basieren Ihre Einschätzungen?
M. Fink: Explizit forschen wir seit drei Jahren in Kooperation mit der Deutschen Forschungsgesellschaft zur Frage, wie Namibia mit der Waisenkrise umgeht. Wir haben dazu viele Interviews geführt. So haben wir beispielsweise ländliche Regionen im Norden mit Katutura verglichen und in beiden Regionen in den über drei Jahren nun mit vielen Leuten Gespräche geführt. Und uns die Frage gestellt, was die kulturell bedingt anderen Voraussetzungen für die Kindheit hier sind.
Auf welche interessanten Gesichtspunkte sind Sie da gestoßen?
M. Fink: Wir sind auf das Phänomen der sozialen Elternschaft gestoßen. Die biologische Elternschaft spielt hier in Namibia keine sehr große Rolle. Das verändert sich auch, aber trotzdem ist es immer noch so, dass nur ein Viertel der Kinder unter 18 Jahren bei beiden biologischen Eltern lebt. Das ist einerseits bedingt durch die Waisenkrise, aber nicht nur. Es ist in Namibia mehr eine kulturelle Praxis. Das hat viele Gründe, weil sie zum Beispiel bei der Feldarbeit gebraucht werden oder weil das Stadtleben zu teuer ist. In der Owambo-Kultur wird das „Okutekulva“ genannt. Das führt dazu, dass die Kinder nicht nur eine oder zwei Bezugspersonen haben, sondern ganz viele.
R. Gronemeyer: Wir haben in Namibia Menschen besucht, die Schrottsammler waren. Die lebten im Schrott. Und dann saß mir gegenüber ein kleiner Junge, etwa drei Jahre alt, mit seiner Schwester. Beide in Lumpen gehüllt, es war ein Bild des Elends. Und der Junge saß da und holte mit einem rostigen Nagel einen Splitter aus dem Fuß. Das hat nichts von einem Vorbild. Aber das zeigte, welch Fähigkeit und Energie in den Kindern hier steckt, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Also sind Kinder in Namibia viel selbstständiger als Kinder in Deutschland?
M. Fink: Kinder in Namibia strahlen Souveränität aus. Uns ist immer wieder aufgefallen, dass gerade da, wo Kinder unter schweren Bedingungen leben müssen, keine Sozialisierungsdefizite erkennbar sind. Da begegnet man nur sehr wenigen verhaltensauffälligen Kindern. Wenn man das bei uns vergleicht, wo der Gang zum Therapeuten mehr und mehr zu Normalität wird, da fragt man sich schon, warum ist es bei uns so und hier anders? Obwohl sich die Situation der Kinder in Namibia eher verschlechtert, als verbessert.
R. Gronemeyer: Und uns ist immer aufgefallen, wie kraftvoll, stark und heiter viele dieser afrikanischen Kinder sind. Sie brauchen für den Schulweg teilweise mehr als eine Stunde. Bei uns in Deutschland sind fünf Minuten für viele Kinder schon eine körperliche Zumutung.
Souveränität und arme Kinder in Afrika – das ist kein Widerspruch?
M. Fink: In der Kunene-Region hatten wir beispielsweise ein ganz besonderes Erlebnis: Da war ein alter und blinder Mann, der von einem dreijährigem Kind geführt wurde. Dieses Kind ist dem Mann zugewiesen worden, war also dafür zuständig, ihn im Alltag zu begleiten.
R. Gronemeyer: Die hatten ein ganz zärtliches Verhältnis. Bei uns würde man sagen, da müsste man das Jugendamt benachrichtigen. Das Kind in der Kunene-Region spürte aber, dass es wichtig war. Machen unsere Kinder in Deutschland denn die Erfahrung? Die kennen meist nur „Ich bin gescheitert“ oder „Ich bin erfolgreich“, aber die Erfahrung, wichtig zu sein, die ist in unserer Gesellschaft gewichen. Also in meiner Kindheit war es so, dass wir als Kinder einkaufen gegangen sind. Wir bekamen das Geld und haben eingekauft. Und das war eine verantwortungsvolle Aufgabe. Wir sind uns wichtig vorgekommen. Heute jammern die Kinder, wenn sie einkaufen gehen müssen. Und das einfach wieder zu ändern, das ist schwierig. Das ist nicht mehr wiederherstellbar.
Da sind Sie ganz pessimistisch?
R. Gronemeyer: Ich bin skeptisch, aber ich glaube da an Wunder. An das Wunder, dass Kinder aus dem Nichts wieder etwas hinkriegen. Ich habe vor zwei Wochen mit der Ministerpräsidentin des Saarlandes ein Gespräch gehabt. Und ich war verblüfft, mit welcher Klarheit sie gesagt hat: „Wir alle wissen doch, dass es so nicht weitergeht.“ Krisen werden kommen, auf die unsere Kinder nicht vorbereitet sind. Denn werden unsere Kinder auf das, was auf sie zukommt, gut vorbereitet? Ich glaube nicht.
M. Fink: Mir fällt es schwer, optimistisch zu sein. Aber ich hoffe, dass sich Wege finden lassen. Viele Eltern sind nicht mehr in der Lage, sind verunsichert. Das sieht man an den vielen Ratgebern.
Ihr kürzlich veröffentlichtes Buch „Unsere Kinder“ ist aber kein Ratgeber, oder?
R. Gronemeyer: Nein, dort wird es keine „Rezepte“ geben. Wir wollen mit dem Buch Anstöße geben, darüber nachzudenken, was unsere Kinder wirklich brauchen. Brauchen sie noch mehr Plastikspielzeug oder brauchen sie etwas anderes? Genau diese Fragen werden im Buch behandelt. Wir können nicht zusammenleben, wenn wir nur unseren Narzissmus ausleben.
Der Narzissmus, der Kinder zu sogenannten „Ichlingen“ macht, wie Sie beschreiben?
R. Gronemeyer: Viele Kinder in Deutschland kommen ans Ende, haben keine Kraft mehr. Keinesfalls passt diese negative Beschreibung auf alle. Bei uns gibt es auch wundervolle Kinder. Aber es gibt eben auch die, bei denen man sieht, dass die Lebenskraft versiegt ist, bevor sie überhaupt entstehen konnte.
M. Fink: …diejenigen, die bei uns auf Leistung und Konsum reduziert werden.
Wie wird es in Deutschland denn mit der Erziehung weitergehen?
R. Gronemeyer: Ich glaube, dass der von Leistungsdruck geprägte Bildungsapparat die Entwicklung in Deutschland an die Wand fährt. Und das geht so nicht. Also die Wahrscheinlichkeit, dass es so weitergeht wie bisher, ist sehr hoch. Aber es ist nicht alles finster in Deutschland. Es gibt ja sehr viele Aufbrüche. Es gibt eine große Sehnsucht nach einer neuen Nachdenklichkeit. Immer mehr Menschen entscheiden sich gegen eine 80-Stunden-Woche. Sie wollen nämlich mehr Zeit für sich, für ihre Familie und für ihre Freunde haben. Das ist viel zukunftsorientierter als die Jungs, die mit ihrem Schlips an der Börse spekulieren.
M. Fink: Und das ist der Beweis, dass sich das Lebendige nicht ausrotten lässt.
Und wie geht es mit der Erziehung in Namibia weiter?
R. Gronemeyer: Wir können nicht vorschreiben, was die Leute in Namibia machen sollen. Aber wir nehmen es zur Kenntnis, dass da manchmal etwas versäumt wird. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Mitarbeiter des Ministeriums für Geschlechtergleichheit und Kinderfürsorge sehr engagiert arbeiten. Aber sie haben es in Namibia auch mit immer größer werdenden Problemen zu tun. Wir wollen keine allgemeine Europäer-Schelte auf Namibia geben, sondern sehen, wie viel in Namibia getan und trotzdem zerfleddert wird.
M. Fink: Die Armut in Namibia ist dramatisch. Ich würde nicht sagen, dass sich das in den nächsten 20 Jahren ändert. Momentan scheint es eher so, dass sich die Situation durchaus verschärft. Dass die Menschen einerseits unter einem großen Modernisierungsdruck stehen, aber nur die Wenigsten die Chancen haben, an der Moderne teilzuhaben.
Sollte sich dann nicht eher Namibia etwas von Deutschland abgucken?
R. Gronemeyer: Eine Gesellschaft, die nur aus Gleichem besteht, ist nicht existenzfähig. Wir brauchen die Unterschiedlichkeit. Und Namibia hat eine unglaublich unterschiedliche kulturelle Tradition. Wäre es traumhaft, wenn in Namibia irgendwann Tausende von Einzelkindern in ihren Einzelzimmern, vollgestopft mit Plastikspielzeug leben müssten? Das kann es nicht sein. Aber die Frage ist, was dann? Und das müssen die Namibier beantworten und nicht wir.
Vielen Dank für das Gespräch!
Reimer Gronemeyer, geb. 1939 in Hamburg, Dr. theol. und Dr. rer. soc., Professor em. für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeiten zu: Konflikte zwischen den Generationen, Hospizarbeit und Demenz sowie zur Entwicklung im südlichen Afrika. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Namibia, Botswana, Zimbabwe, Malawi, Sudan. Forschungsprojekte zum Thema Waisen und Kinder in schwierigen Lebenssituationen, Mangelernährung bei Kindern. Reimer Gronemeyer ist Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins " Pallium e.V." , der sich für Kinder-Projekte in Namibia engagiert.
Michaela Fink, geboren 1973, Dr. phil., Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeiten zu: Kindheit und Waisenschaft im südlichen Afrika sowie die Institutionalisierung der Sterbebegleitung in der Hospizbewegung und Palliative Care. Bis 2012 Aufbau und Leitung des Ambulanten Kinderhospizdienstes Gießen, seit 2015 freie Gutachterin für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ); seit 2004 ehrenamtliches Gründungs- und Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „Pallium - e.V.“.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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