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Liebe auf den ersten Schritt

Ab jetzt gibt es genau zwei Wege hier heraus: Entweder ihr freut euch mit mir über fünf Tage heißen Sand, glühende Schmerzen und brennende Füße oder ihr ruft den Helikopter. Und glaubt mir, Leute, den Helikopter könnt ihr euch nicht leisten."
Eigentlich fand ich Jacques' Hang zur Dramatik immer sehr unterhaltsam. An diesem eisigen Morgen tief unten im Fischfluss jedoch, legten seine Worte mir eine zweite Schicht Gänsehaut über den frierenden Rücken.

Fünf Tage Gewaltmarsch durch den zweitgrößten Canyon der Erde standen mir bevor: Insgesamt 160 km Länge, 27 km Breite und bis zu 600 m schroffe Tiefe bietet die Felsenwüste. Wanderungen sind nur von April bis September genehmigt. Zu viele Todesfälle haben sich in den brütenden Sommermonaten hier unten ereignet. Unser Trupp startete Ende Juni. Da waren die Nächte schon empfindlich kühl, aber tagsüber brannte die Sonne immer noch gnadenlos auf den Fischfluss.
Als ich Jacques, meinen Nachbarn, zwei Wochen zuvor in unserm Lieblingscafe im südafrikanischen Groot Marico getroffen hatte, hörte sich das Unternehmen noch wie ein großer Spaß an. Eine Handvoll Freunde plante eine Woche lauschiges Ferienvergnügen.
"Gehst du gerne wandern?", fragten sie mich.

"Ja", antwortete ich vollkommen unbedarft und dachte dabei an die schönen Sonntagsausflüge mit der Familie in den bayrischen Wald.
Und dann stand ich mit 18 kg Marschgepäck auf dem gekrümmten Rücken am Abgrund von Hiker's View mitten im /Ai-/Ais Richtersveld Transfrontier Park.
Kein Pool, kein Pay TV, keine Hotelbar. Nur ich, die Felsen und der Fluss.


Der Abstieg dauerte über zwei Stunden. Zu groß war die Müdigkeit von der langen Anreise, zu unterschiedlich das Tempo der Wanderer und zu heiß die Wintersonne, die an dem steilen, ungesicherten Abhang seit dem frühen Nachmittag ohne Mitleid über uns glühte.
Wie unter Hypnose trat ich in die Fußstapfen meines Vorgängers Taco. Und siehe da - dieses läuferische Mantra beruhigte meinen aufgebrachten Geist. Ich hatte meinen Takt gefunden. Plötzlich konnte ich realisieren, wo ich tatsächlich war: an einem der farbenprächtigsten und schimmerndsten Orte der Welt. Die Abendsonne spiegelte sich im seichten Wasser des Flusses und warf ihr Licht in Orange, Violett- und Rottönen zurück an die rauen Felsen.

Meine anfängliche Panik wurde weiterhin beruhigt von der heiteren Ausgelassenheit meiner Wandergefährten. Ein bunter Kreis aus Naturliebhabern hatte sich für diesen Treck zusammengefunden: Im Zentrum natürlich Jacques, der rüstige Mittfünfziger, mit seiner vergötterten Partnerin Louise. Selbst am frühen Morgen, nach kargem Frühstück und fehlender Dusche, hörte man die beiden turteln: "Come over here my angel. I want to smell your sweet Fish River breath!"
Neben ihnen ein befreundetes Ehepaar aus Pretoria. Nicht mehr ganz so frisch verliebt und nicht ganz so Stress-resistent im Angesicht des Canyons: "Honey, if you don't turn back on the track right now, I'll guarantee for nothing!"

Der Älteste im Team war Taco. Der Rentner aus den Niederlanden, dessen ruhiger Schritt mir meinen Rhythmus beschert hatte. Ungeachtet seiner knapp siebzig Jahre ein wahrer Ausbund an Fitness. Jeden Abend lauschte er mit Belustigung dem erschöpften Gestöhne der anwesenden Mittdreißiger, ihres Zeichens aktive Mountainbiker und Dauerläufer.
Denn zu meiner freudigen Überraschung hatten sich auch zwei meiner Altersgenossen dem Trupp angeschlossen: James und Peter, zwei junge Angestellte im staatlichen Naturschutz Südafrikas wollten mit Führer Jacques "den Fisch" bezwingen.
Eine herrliche Gesellschaft.
Rund zwanzig Kilometer hatten wir jeden Tag zu bewältigen. Glatte Felswände, schroffe Klippenvorsprünge und ungesicherte Geröllhalden hätten schon jedem Tagestouristen eine harte Zeit beschert. Mir hat diese Strecke, auf der jeder Schritt potenziell der letzte sein kann, ganz deutlich die Grenzen meiner körperlichen Fähigkeiten offenbart.
Mit zittrigen Knien und zuckenden Oberschenkeln kroch ich auch noch am zweiten Abend in mein Nachtlager.
Gerne würde ich berichten, dass es jeden Tag einfacher wurde. Aber sobald wir gelernt hatten, eine Schikane zu meistern, kam das nächste schwierige Terrain auf uns zu. Morgens Stapfen im losen Sand, gegen Mittag "Boulder-Hopping" von Kiesel zu Kiesel und auf dem Weg zum Nachtlager, die steile Abkürzung über den Fels-Pass.
Zu Muskelkater und Erschöpfung kamen schnell handtellergroße Blasen und Schürfwunden. Wie es mir dabei ging? Wunderbar! Wandergenosse James und ich waren jeden Abend am Lagerfeuer ein Stückchen näher gerückt. Tagsüber ließ mich der Gedanke an eine weitere romantische Nacht unter Namibias prächtigem Sternenhimmel jeden Schmerz und jedes Unbehagen munter überspringen.
Unser Glück war perfekt. Nach einer turbulent-schwankenden Flussüberquerung badeten wir in den heißen Schwefelquellen von Palm Springs. Nach einem steinig-gefahrvollen Aufstieg genossen wir Arm in Arm das atemberaubende Panorama des "Drei Schwestern"-Massivs. Ein Küsschen vor den "Pavianbergen", noch eins am "Vierfingerfels" und schließlich eine Massage des malträtierten Rückens bei der Rast an Leutnant Trothas Grab.
Nicht immer so perfekt war die Stimmung im Team. Mit steigendem Kräfteverfall nahm die Dramatik des Unternehmens zu. Eine Episode vom letzten Tag der Wanderung illustriert die Atmosphäre recht treffend:
Im Zuge einer von Jacques' berüchtigten "Abkürzungen" kamen wir gegen Mittag immer höher in die Berge. Nach kurzer Zeit war kein Busch und kein Zweig mehr zu sehen. So weit das Auge reichte nur Klippen, Sand und Gestein. Es schien, als könne man problemlos tagelang in jede Himmelsrichtung marschieren, ohne je etwas anderes zu erblicken.

Das Beunruhigende daran war, dass Jacques tatsächlich alle Himmelsrichtungen für unser Weiterkommen in Betracht zog. Der Kompass wollte einfach nicht auf die Karte passen.
Immer öfter blieb der Treck stehen. Mit den Händen auf die Knie gestützt spendeten die riesigen Rucksäcke über unseren schnaufenden Köpfen etwas Schatten.
Als die ersten Wasservorräte zur Neige gingen, brach die Meuterei los. Tinus, ausgestattet mit dreißig Kilogramm Marschgepäck voll neuester Militärausrüstung aus südafrikanischen Armeebeständen, war der Erste, der die Gefolgschaft verweigerte.

Entnervt von den Pfadfindern der alten Schule suchte er sich ein GPS-Signal und verließ kurze Zeit später die Gruppe in entgegengesetzter Richtung. Das Protestgeschrei der Kapitäns-Treuen, die Hitze und die Anstrengung ließen seine Frau in Tränen ausbrechen. Die Alphatiere Jacques und Tinus brüllten sich wüste Beschimpfungen quer durch die Wüste zu. Die Ausgedürsteten hatten immer weniger Verständnis für den langen Aufenthalt in der prallen Sonne. Über uns zogen schon die Kapgeier ihre Kreise. Und noch immer war kein Wasser in Sicht.

Bekanntlich ist die Nacht am dunkelsten kurz vor der Dämmerung. Nur Minuten nach dem Ausbruch tauchte am Horizont ein Dornengestrüpp auf. Dann ein Busch, viele Büsche, kleine grüne Sträucher und schließlich sahen wir unten im Tal unseren alten Freund, den Fischfluss.Versöhnt mit der Welt füllten wir unsere Wasserflaschen und wenige Stunden später schlichtete die Ankunft in Ai/ Ais/ endgültig allen Streit. Tinus empfing Jacques vor dem Camp mit einer Flasche eiskaltem Windhoek Lager und einer großen Entschuldigung. Die Technik hatte ihn nicht im Stich gelassen und er war fast eine Stunde früher als wir im Ziel eingelaufen. Jacques war zwar noch immer ein wenig in seiner Ehre als Herdenführer gekränkt, aber er akzeptierte. Der neu gewonnene Frieden ebnete den Weg für ein prächtiges Abschiedsessen in bester Stimmung.

Ai/ Ais/ bedeutet in der Sprache der Nama so viel wie "kochendes Wasser". Erfreulicherweise war am Abend auch der Pool der Anlage frisch betankt mit heißem Quellwasser.
Ich habe keine Worte zu beschreiben, wie gut es sich anfühlt, nach einer schmerzensreichen Woche schließlich mit einem saftigen Steak im Bauch in einem Schwimmbad voll Thermalwasser zu liegen. Besonders wenn man die Quelle im Arm eines attraktiven Naturburschen genießen kann.
James werde ich schon bald in Pretoria wieder sehen. Was den Canyon angeht, habe ich ein anderes Versprechen gegeben.
In Rom sagt man den Touristen, sie sollen eine Münze in den Trevi-Brunnen werfen, um zu versichern, dass sie zurückkehren. Dem "Fish" habe ich meine letzten zehn Namibia Dollar unter einen Kiesel geklemmt. Es ist also abgemacht - ich komme zurück


Mona Braun, Berlin

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-23

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