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Mythos Jungfernhäutchen

Von Zweifinger-Tests und blutigen Laken
Claudia Reiter
Von C. Frentzen, A.S. Galli und R.E. Krüger, dpa

Jakarta/Neu Delhi/Johannesburg

Für frisch Vermählte geht es in der Hochzeitsnacht nicht überall so privat zu wie in Deutschland. Von Indien über Kambodscha bis zu Südseeparadiesen wie Tonga oder Kiribati wartet häufig die Verwandtschaft ungeduldig auf ein klares Zeichen, dass die Ehefrau gerade erst entjungfert wurde. Dabei gilt: Nur ein blutiges Laken ist ein gutes Laken. In Armenien heißt die Tradition „Karmir khndzor“ - roter Apfel. In Nigeria wird der frisch gebackene Ehemann mit einem weißen Taschentuch ausgestattet, das nach dem Akt (hoffentlich) blutbefleckt der Familie präsentiert wird.

„In einigen Regionen werden Frauen geschlagen, wenn sie den ‚Test‘ nicht bestehen, und ihre Angehörigen müssen der Familie des Ehemanns Bußgeld zahlen“, schreibt die Soziologin Jagriti Gangopadhyay in einem Beitrag für das indische Magazin „Down to Earth“. Selbst bei der Arbeitssuche wird mancherorts Jungfräulichkeit vorausgesetzt: Bis vor kurzem mussten sich Rekrutinnen beim indonesischen Militär und der Polizei invasiven „Zweifinger-Tests“ unterziehen, um eine Chance auf eine Aufnahme zu haben. Seit 1965 war das gängige Praxis.

„Es tut furchtbar weh“, zitierte die Zeitung „Jakarta Post“ kürzlich eine der Betroffenen. „Einige meiner Freundinnen, die die Prozedur ebenfalls über sich ergehen lassen mussten, konnten danach kaum laufen.“ Mit entblößtem Oberkörper wurden die Anwärterinnen in Reihen aufgestellt - mit offensichtlichem Unbehagen. Eine der zuständigen Militär-Ärztinnen wurde mit den Worten zitiert: „Ihr habt doch Glück. Als wir uns beworben haben, wurden wir noch von Männern untersucht.“

Nach wiederholter Kritik von Menschenrechtlern kündigte die Armee im Inselstaat nun aber an, die „Virginity Tests“ abzuschaffen. Die Marine und die Luftwaffe wollen dem Vorstoß nach eigenen Angaben folgen. Die Frauenrechtsorganisation UN Women sprach von einem „lang erwarteten Meilenstein“. Die Organisation vertraue darauf, „dass damit nun diskriminierende und schädliche Praktiken beendet und die Barrieren für die Mitarbeit von Frauen bei den Streitkräften abgebaut werden“, sagte der UN-Women-Beauftragte Jamshed M. Kazi.

Denn das Jungfernhäutchen an sich ist mehr Mythos als Realität: Es gibt gar keine Membran, die den Vaginaleingang verschließt, wie in zahlreichen Kulturen angenommen wird. Vielmehr handelt es sich bei vielen Frauen um eine Art Schleimhautsaum, der wie ein kleiner Kranz den Öffnung der Scheide umrahmt. Deshalb wird das Jungfernhäutchen auch „vaginale Korona“ genannt. „Hymen“, altgriechisch für „Häutchen“, ist ein weiteres Synonym.

Jedoch variiert die Form. Das Jungfernhäutchen ist manchmal halbmond- oder siebförmig, oder es fehlt von Geburt an gänzlich. Gibt es sie, so kann die dünne Schleimhautfalte beim ersten Geschlechtsverkehr leicht einreißen und etwas bluten, sie muss es aber nicht.

„Jungfräulichkeitstests haben keine wissenschaftliche oder klinische Grundlage“, sagte ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. „Es gibt keine Untersuchung, die nachweisen kann, dass ein Mädchen oder eine Frau Sex hatte – und das Aussehen des Jungfernhäutchens von Mädchen oder Frauen kann nicht beweisen, ob sie Geschlechtsverkehr hatten oder sexuell aktiv sind oder nicht.“ Die WHO fordert seit Jahren ein Ende der „medizinisch unnötigen und oft schmerzhaften, erniedrigenden und traumatischen Praxis“.

Dennoch: Auch in Südafrika sowie einigen Nachbarstaaten werden jedes Jahr tausende Mädchen und junge Frauen Untersuchungen zur Feststellung der Jungfräulichkeit unterzogen - eine Tradition, die den Eintritt ins Erwachsenenalter markieren soll. Freiwillige Tests in einem Alter ab 16 Jahren sind dort nicht verboten, sofern sie auch entsprechende Beratung vorsehen. Barbusig sowie mit Tanz, Gesang und traditionellem Schmuck behängt ziehen sie in der Regel zum Ort des Geschehens - wobei laut Kritikern sowohl die Freiwilligkeit wie auch die Beratung nicht immer garantiert sind.

Die Befürworter dieser Tests - bei denen die Mädchen mit gespreizten Beinen auf dem Rücken liegend von älteren Frauen begutachtet werden - sehen sie als Bestandteil der afrikanischen Tradition. Bei einem guten Ergebnis werden die Jugendlichen belohnt - etwa durch Teilnahme am jährlichen Rietgras-Fest, wie es jetzt wieder ansteht.

Um rote Laken zu garantieren und ihren Ruf zu wahren, arbeiten Frauen in Indien mittlerweile sogar mit künstlichem Blut. Etwa in Form einer Pille, die in der Hochzeitsnacht in die Vagina eingeführt wird und beim Sex rote Farbe freigibt. Oder mittels einer Zellulose-Membran in der Scheide, die nicht nur vermeintliches Blut freisetzt, sondern beim Geschlechtsverkehr auch einreißt. Denn die Angst ist groß: In dem patriarchalisch geprägten Land sollen Männer ihre Frauen schon kurz nach der Heirat wieder verlassen haben, weil die Vermutung aufkam, dass ihre Partnerinnen nicht als Jungfrau in die Ehe kamen.

In vielen Ländern gehen Frauen mittlerweile noch weiter und lassen sich in einer Operation ein künstliches Jungfernhäutchen konstruieren. In Indien kostet der Eingriff je nach Anbieter zwischen 200 bis 800 Euro. „Lange wurde es als ein Trend in größeren Städten angesehen, aber nun wollen sich auch mehr und mehr Mädchen aus kleineren Städten und Dörfern unters Messer legen“, sagte der plastische Chirurg Jayant Dash der Zeitung „Times of India“.

Immer wieder erlitten junge Frauen dabei Infektionen oder Vernarbungen an ihren empfindlichen Genitalien, so die Soziologin Jagriti Gangopadhyay. Allgemeine Richtlinien für die OP gebe es nicht. Kritiker sagen, die meisten Ärzte wollten mit der „Hymenoplastik“ nur schnelles Geld machen. Laut Dash werben einige Kliniken auf der Suche nach Kundinnen ganz offen damit, dass die OP helfe, möglicher Scham und Erniedrigung zu entgehen.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-05

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