Nigeria: Afrikas bevölkerungsreichstes Land wählt am Samstag
Wolfgang Drechsler
Nirgendwo in Afrika klaffen Anspruch und Realität so krass auseinander wie in Nigeria, dem mit rund 180 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Während seine Politiker gerade vor Wahlen wie an diesem Wochenende gerne zu Superlativen greifen, um das Potenzial des Landes zu beschreiben und zur Jahrtausendwende in einem Anflug von Größenwahn sogar ein Raumfahrtprogramm beschlossen, ist die Realität eine ganz andere. Entsprechend desillusioniert sind auch die meisten der 84 Millionen Nigerianer, die sich registriert haben, um am Samstagmorgen in der sechsten Wahl seit dem Ende der Militärherrschaft vor 20 Jahren mit ihrer Stimme die fragile Demokratie zu konsolidieren.
Die wirtschaftlichen Zahlen belegen eindrucksvoll das Versagen der gegenwärtigen Regierung um Präsident Muhammadu Buhari, die 2015 mit großer Hoffnung überraschend ins Amt gewählt worden war. Auf der einen Seite ist Nigeria der weltweit achtgrößte Ölproduzent. Auf der anderen befinden sich seine Raffinerien seit Jahren in einem derart maroden Zustand, dass der Ölstaat auf Benzineinfuhren angewiesen ist.
Um diesem absurden Zustand ein Ende zu bereiten, baut Aliko Dangote, der reichste Mann des Landes, seit einigen Jahren auf 2500 ha Sumpfland nahe Lagos eine 12 Milliarden US-Dollar teure Ölraffinerie, die Nigeria und seine hochkorrupte, mit Subventionen gepäppelte Ölbranche von Grund auf verändern könnte. Nach der Inbetriebnahme um 2020/21 soll die dann weltweit größte Raffinerie 650000 Barrel Rohöl am Tag zu Benzin verarbeiten, das Nigeria bislang mit Devisen teuer importieren musste. Schätzungen gehen davon aus, dass bislang bis zu 60 Prozent der Erdöleinnahmen in privaten Taschen verschwinden - hunderte von Milliarden Dollar seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1960. Daran hat sich auch unter Buhari (76) trotz diverser Anti-Korruption-Agenturen wenig geändert. Der jüngste Bericht von Transparency International findet jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, dass die Korruption unter Buhari zurückgegangen sei.
Ebenso ernüchternd wie der Zustand seiner Raffinerien ist, dass der selbst ernannte afrikanische Wirtschaftsriese mit einem Durchschnittseinkommen von etwa 200 Dollar im Monat noch leicht unter dem afrikanischen Durchschnitt rangiert. Rund 80 Millionen . seiner Menschen leben derzeit unter der Armutsgrenze von 1,90 $ pro Tag. Neben dem Versagen der Politik findet sich ein weiterer Grund dafür in den niedrigen Ölpreisen, die auch 60 Jahre nach der Unabhängigkeit wegen der bislang versäumten Diversifizierung der Wirtschaft noch immer 70% der Staatseinnahmen ausmachen. Obwohl das Land eine Raumfahrt-Agentur hat, kann die Regierung Nigeria nicht mit Strom versorgen. Insgesamt produziert das Land weniger als 5% des Stroms, den Brasilien für seine ungefähr ebenso große Bevölkerung erzeugt. „Die fehlende flächendeckende Stromversorgung gilt als eines der größten Hindernisse für ausländische Investitionen und ist ein großes Hemmnis für die Entwicklung des Landes“ konstatiert Christian Wessels, Geschäftsführer von Africa Venture Builders Sunray in Lagos. Er wünscht sich eine Regierung, die nicht länger am Status Quo festhält sondern endlich aktiv positive Impulse setzt.
Dabei hatte Buharis wirtschaftlicher Wachstumsplan zum Amtsantritt vor vier Jahren wie üblich große Ziele verfolgt. So sollte Nigerias massives Infrastrukturdefizit durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen sowie den Versuch einer stärkeren Industrialisierung mehr als 15 Millionen neue Jobs schaffen und das Wirtschaftswachstum bis 2020 auf 7% heben. Doch davon ist das Land nach Ansicht von Adekeye Adebajo, Direktor des Institutes for Pan-African Thought and Conversation in Johannesburg, meilenweit entfernt. Wenn etwas schnell wachse dann ist es die Arbeitslosigkeit, die von 8,2 % auf über 23% gestiegen sei, darunter mehr als zehn Millionen Jugendliche wie er warnt. Kein Wunder, dass die Auslandsinvestitionen drei Jahre hintereinander gefallen sind und inzwischen sogar hinter denen des viel kleineren Ghana liegen.
Ebenso schnell wie die Arbeitslosigkeit steigt nur die Bevölkerung - jährlich um etwa 2,5% und damit weit mehr als zuletzt die Wirtschaft. Inzwischen werden in Nigeria mit 7,5 Millionen Menschen mehr Menschen pro Jahr geboren als in der ganzen Europäischen Union (EU) zusammen. Im Schnitt bekommen nigerianische Frauen noch immer 5,6 Kinder - kaum weniger als 1960, als die Zahl bei etwa 6,5 Kindern lag. Als Folge davon ist die Bevölkerung extrem jung - rund die Hälfte der Nigerianer ist unter 18 Jahren alt. Demographen sprechen in dem Zusammenhang von einem Jugendüberschuss, der fast überall auf der Welt, wo er vorkommt, politische Instabilität bedingt und auch dafür verantwortlich ist, dass die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden des Landes ständig neuen Nachschub rekrutieren kann.
Wenig deutet derzeit darauf hin, dass Nigerias extremes Bevölkerungswachstum gestoppt werden könnte. Nach der jüngsten Prognose der Vereinten Nationen (UN) dürfte seine Bevölkerung bis 2050 auf 440 Mio. Menschen zulegen - und Nigeria dann hinter Indien und China weltweit auf Platz drei liegen. Niemand weiß wie diese Menschen ernährt werden sollen, zumal es schon jetzt immer wieder Hungerkrisen gibt. So benötigen gegenwärtig rund 7,7 Mill. Nigerianer humanitäre Hilfe und 2 Mill. befinden sich wegen des Terrorregimes von Boko Haram auf der Flucht.
Symptomatisch für Nigeria ist die Entwicklung der Wirtschaftsmetropole Lagos, die von 300000 Menschen in den 1950er Jahren auf jetzt geschätzte 20 Mill. förmlich explodiert ist und 2050 bereits auf 50 Mio. angeschwollen sein soll, weil viele auf dem Land nicht mehr überleben können. Die Folge: in weiten Teilen der Megacity fehlen Strom- und Wasseranschlüsse, die Verkehrsinfrastruktur steht trotz einiger neuer Projekte vor dem Kollaps. Entsprechend hoch dürfte auch der Druck auf Europa bleiben: 2017 bildeten Menschen aus Nigeria, nach den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die viertgrößte Gruppe von Asylantragsstellern in der EU. Die UN spricht in ihrem Bericht denn auch warnend davon, dass der Migrationsdruck dadurch weiter in einem bislang noch nie gesehenen Ausmaß steigen dürfte.
Von der Politik ist kaum Besserung zu erwarten; beide Kandidaten stammen aus dem muslimischen Norden und sind den Wählern hinlänglich bekannt. Der Herausforderer Abubakar, ein reicher Geschäftsmann, der einst die Zollbehörde leitete, war bei jeder Wahl seit 1999 dabei; Präsident Buhari nahm an jeder seit 2003 teil. Beide sind über 70 und stehen der Aufgabe gegenüber, eine Wählerschaft zu erreichen, die zur Hälfte junger als 18 Jahre ist und nach all den unerfüllten Versprechen der Vergangenheit tief ernüchtert ist, meint Adebajo. Und bis sich daran etwas ändere, werde Nigeria weit unter seinen Möglichkeiten bleiben.
Nirgendwo in Afrika klaffen Anspruch und Realität so krass auseinander wie in Nigeria, dem mit rund 180 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Während seine Politiker gerade vor Wahlen wie an diesem Wochenende gerne zu Superlativen greifen, um das Potenzial des Landes zu beschreiben und zur Jahrtausendwende in einem Anflug von Größenwahn sogar ein Raumfahrtprogramm beschlossen, ist die Realität eine ganz andere. Entsprechend desillusioniert sind auch die meisten der 84 Millionen Nigerianer, die sich registriert haben, um am Samstagmorgen in der sechsten Wahl seit dem Ende der Militärherrschaft vor 20 Jahren mit ihrer Stimme die fragile Demokratie zu konsolidieren.
Die wirtschaftlichen Zahlen belegen eindrucksvoll das Versagen der gegenwärtigen Regierung um Präsident Muhammadu Buhari, die 2015 mit großer Hoffnung überraschend ins Amt gewählt worden war. Auf der einen Seite ist Nigeria der weltweit achtgrößte Ölproduzent. Auf der anderen befinden sich seine Raffinerien seit Jahren in einem derart maroden Zustand, dass der Ölstaat auf Benzineinfuhren angewiesen ist.
Um diesem absurden Zustand ein Ende zu bereiten, baut Aliko Dangote, der reichste Mann des Landes, seit einigen Jahren auf 2500 ha Sumpfland nahe Lagos eine 12 Milliarden US-Dollar teure Ölraffinerie, die Nigeria und seine hochkorrupte, mit Subventionen gepäppelte Ölbranche von Grund auf verändern könnte. Nach der Inbetriebnahme um 2020/21 soll die dann weltweit größte Raffinerie 650000 Barrel Rohöl am Tag zu Benzin verarbeiten, das Nigeria bislang mit Devisen teuer importieren musste. Schätzungen gehen davon aus, dass bislang bis zu 60 Prozent der Erdöleinnahmen in privaten Taschen verschwinden - hunderte von Milliarden Dollar seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1960. Daran hat sich auch unter Buhari (76) trotz diverser Anti-Korruption-Agenturen wenig geändert. Der jüngste Bericht von Transparency International findet jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, dass die Korruption unter Buhari zurückgegangen sei.
Ebenso ernüchternd wie der Zustand seiner Raffinerien ist, dass der selbst ernannte afrikanische Wirtschaftsriese mit einem Durchschnittseinkommen von etwa 200 Dollar im Monat noch leicht unter dem afrikanischen Durchschnitt rangiert. Rund 80 Millionen . seiner Menschen leben derzeit unter der Armutsgrenze von 1,90 $ pro Tag. Neben dem Versagen der Politik findet sich ein weiterer Grund dafür in den niedrigen Ölpreisen, die auch 60 Jahre nach der Unabhängigkeit wegen der bislang versäumten Diversifizierung der Wirtschaft noch immer 70% der Staatseinnahmen ausmachen. Obwohl das Land eine Raumfahrt-Agentur hat, kann die Regierung Nigeria nicht mit Strom versorgen. Insgesamt produziert das Land weniger als 5% des Stroms, den Brasilien für seine ungefähr ebenso große Bevölkerung erzeugt. „Die fehlende flächendeckende Stromversorgung gilt als eines der größten Hindernisse für ausländische Investitionen und ist ein großes Hemmnis für die Entwicklung des Landes“ konstatiert Christian Wessels, Geschäftsführer von Africa Venture Builders Sunray in Lagos. Er wünscht sich eine Regierung, die nicht länger am Status Quo festhält sondern endlich aktiv positive Impulse setzt.
Dabei hatte Buharis wirtschaftlicher Wachstumsplan zum Amtsantritt vor vier Jahren wie üblich große Ziele verfolgt. So sollte Nigerias massives Infrastrukturdefizit durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen sowie den Versuch einer stärkeren Industrialisierung mehr als 15 Millionen neue Jobs schaffen und das Wirtschaftswachstum bis 2020 auf 7% heben. Doch davon ist das Land nach Ansicht von Adekeye Adebajo, Direktor des Institutes for Pan-African Thought and Conversation in Johannesburg, meilenweit entfernt. Wenn etwas schnell wachse dann ist es die Arbeitslosigkeit, die von 8,2 % auf über 23% gestiegen sei, darunter mehr als zehn Millionen Jugendliche wie er warnt. Kein Wunder, dass die Auslandsinvestitionen drei Jahre hintereinander gefallen sind und inzwischen sogar hinter denen des viel kleineren Ghana liegen.
Ebenso schnell wie die Arbeitslosigkeit steigt nur die Bevölkerung - jährlich um etwa 2,5% und damit weit mehr als zuletzt die Wirtschaft. Inzwischen werden in Nigeria mit 7,5 Millionen Menschen mehr Menschen pro Jahr geboren als in der ganzen Europäischen Union (EU) zusammen. Im Schnitt bekommen nigerianische Frauen noch immer 5,6 Kinder - kaum weniger als 1960, als die Zahl bei etwa 6,5 Kindern lag. Als Folge davon ist die Bevölkerung extrem jung - rund die Hälfte der Nigerianer ist unter 18 Jahren alt. Demographen sprechen in dem Zusammenhang von einem Jugendüberschuss, der fast überall auf der Welt, wo er vorkommt, politische Instabilität bedingt und auch dafür verantwortlich ist, dass die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden des Landes ständig neuen Nachschub rekrutieren kann.
Wenig deutet derzeit darauf hin, dass Nigerias extremes Bevölkerungswachstum gestoppt werden könnte. Nach der jüngsten Prognose der Vereinten Nationen (UN) dürfte seine Bevölkerung bis 2050 auf 440 Mio. Menschen zulegen - und Nigeria dann hinter Indien und China weltweit auf Platz drei liegen. Niemand weiß wie diese Menschen ernährt werden sollen, zumal es schon jetzt immer wieder Hungerkrisen gibt. So benötigen gegenwärtig rund 7,7 Mill. Nigerianer humanitäre Hilfe und 2 Mill. befinden sich wegen des Terrorregimes von Boko Haram auf der Flucht.
Symptomatisch für Nigeria ist die Entwicklung der Wirtschaftsmetropole Lagos, die von 300000 Menschen in den 1950er Jahren auf jetzt geschätzte 20 Mill. förmlich explodiert ist und 2050 bereits auf 50 Mio. angeschwollen sein soll, weil viele auf dem Land nicht mehr überleben können. Die Folge: in weiten Teilen der Megacity fehlen Strom- und Wasseranschlüsse, die Verkehrsinfrastruktur steht trotz einiger neuer Projekte vor dem Kollaps. Entsprechend hoch dürfte auch der Druck auf Europa bleiben: 2017 bildeten Menschen aus Nigeria, nach den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die viertgrößte Gruppe von Asylantragsstellern in der EU. Die UN spricht in ihrem Bericht denn auch warnend davon, dass der Migrationsdruck dadurch weiter in einem bislang noch nie gesehenen Ausmaß steigen dürfte.
Von der Politik ist kaum Besserung zu erwarten; beide Kandidaten stammen aus dem muslimischen Norden und sind den Wählern hinlänglich bekannt. Der Herausforderer Abubakar, ein reicher Geschäftsmann, der einst die Zollbehörde leitete, war bei jeder Wahl seit 1999 dabei; Präsident Buhari nahm an jeder seit 2003 teil. Beide sind über 70 und stehen der Aufgabe gegenüber, eine Wählerschaft zu erreichen, die zur Hälfte junger als 18 Jahre ist und nach all den unerfüllten Versprechen der Vergangenheit tief ernüchtert ist, meint Adebajo. Und bis sich daran etwas ändere, werde Nigeria weit unter seinen Möglichkeiten bleiben.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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