NUR 24 ZEILEN (1. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
PROLOG (Teil 1/3)
Seit meiner Kindheit habe ich unter dem Eindruck gestanden, dass zwischen meinen Eltern eine außergewöhnlich treue und unantastbare Beziehung bestand, die eine lange, verschlungene Geschichte hatte. Auch spürte ich, dass die Fröhlichkeit und der demonstrative Optimismus meines Vaters eine tiefe Traurigkeit verdeckten oder überspielten, die ihren Ursprung in den Jahren haben musste, bevor er meine Mutter geheiratet hatte. Denn den Zweiten Weltkrieg erlebte er auf eine ungewöhnliche, wenn auch nicht einzigartige Weise, die in Geschichtsbüchern selten beschrieben worden ist.
„Dein Vater war ein wunderbarer Lehrer!“ Immer wieder habe ich diese Worte gehört, wenn mir ehemalige Schüler oder Kollegen meines Vaters begegneten. Fragte ich nach dem Grund, waren die Antworten unterschiedlich, aber nie ging es um ein bestimmtes Fach oder ein bestimmtes Wissen, sondern immer um die Person Kurt Falk. Auf verschiedene Weise hat er junge Menschen gebildet und geformt – und natürlich auch uns, seine eigenen Kinder. Jetzt ist er schon siebzehn Jahre tot, und ich merke, wie ich von Jahr zu Jahr nicht weniger, sondern mehr an ihn denke und mich frage: Wer warst du? Was ist in deinem Leben eigentlich geschehen, bevor wir geboren wurden? Und was bin ich durch dich?
Ich weiß vieles über meinen Vater, aus meiner Erinnerung, aus Erzählungen, aus den zahlreichen Briefen, die er mir geschrieben und aus den kurzen Memoiren, die er mit Hilfe unserer Mutter ziemlich spät in seinem Leben aufgezeichnet hat. Doch große Teile seiner Lebensgeschichte, aus der Zeit, bevor es uns gab, blieben im Schatten, denn über bestimmte Erlebnisse, Entscheidungen und Gefühle sprach er nur in Andeutungen. Wir Kinder lauschten mit Neugier allem, was er uns erzählte, und respektierten, was er uns verschwieg.
Doch kurz nachdem meine Mutter zu uns nach Namibia gezogen war und mein Bruder Werner die elterliche Wohnung in Hamburg ausgeräumt hatte, schickte er mir einen dicken Ordner mit alten Dokumenten. Es waren über hundert Briefe meines Vaters aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Jahren danach bis zum Dezember 1949. Plötzlich hatte ich ein Puzzleteil in der Hand, das mir vielleicht Antworten auf nicht gestellte Fragen geben und Lücken in Vaters Lebensgeschichte füllen konnte.
Die Briefe waren fast alle mit der Hand in Sütterlin geschrieben. Um sie Wort für Wort zu entziffern, musste ich diese Schrift zunächst mühsam erlernen. Ich fand ein Sütterlin-Alphabet im Internet und ließ mir von meiner alten Mutter die Buchstaben aufmalen. Das Entziffern der Briefe meines Vaters ähnelte dem Dechiffrieren eines geheimen Codes – Satz für Satz, manchmal Buchstabe für Buchstabe, musste ich mich an seine Gedanken herantasten, und der Prozess wurde aufregend wie eine Detektivarbeit.
Natürlich fragte ich mich, ob ich diese Briefe, die ich als Kind und Jugendliche nie zu sehen bekommen hatte, lesen durfte. Drang ich nicht in ein intimes Gebiet ein, in einen Schattenbereich im Leben unseres Vaters, der im Dunkeln hätte bleiben sollen? Unsere Mutter war einverstanden, dass ich die Briefe lesen und abschreiben würde, aber reichte ihre Erlaubnis? Bis heute bin ich unsicher. Warum hat er diese Briefe nie erwähnt? Andererseits – warum hat er sie nicht vernichtet? Und warum waren sie säuberlich in Plastikfolien verpackt, nach Datum geordnet und in einem Aktenordner verwahrt?
Meine Neugier siegte über Zweifel und Bedenken. Aber es war nicht nur Neugierde. Es war auch dieser brennende Wunsch, meinen Vater besser zu verstehen und, vor allem, die wirkliche Geschichte der Beziehung meiner Eltern kennenzulernen. Außerdem wollte ich herausfinden, auf welch individuelle Weise er Mitspieler oder Widerständler in seiner Gesellschaft mit ihrer wahnsinnigen Geschichte gewesen war. Er hatte als Kind den Ersten Weltkrieg erlebt und als junger Mann die langen und schweren Jahre des Zweiten Weltkriegs. Zehn Jahre hatte er vor seiner Heirat und Familiengründung ein Leben gelebt, das rückblickend spannend und lehrreich war, aber zu seiner Zeit leidvoll und entsetzlich einsam gewesen sein muss. Wie haben die Jahre des Kriegs und seine Grenzerfahrungen seine Vorstellung von dieser und von einer verborgenen Welt geprägt? Seine Vorstellung von Glauben, Kirche und einem göttlichen Einfluss auf das Sein? Und wie hat sein Leben unsere Geschichte als weiße deutsche Afrikaner beeinflusst? Auf welche besondere Weise war er ein Deutscher, ein Europäer, ein Weltbürger, ein Afrikaner?
Blicke ich auf die ersten vierundzwanzig Lebensjahre meines Vaters zurück, auf die Zeit, bevor er seine Heimatstadt Leipzig verließ, um die Enge Deutschlands gegen die Weiten Afrikas einzutauschen, scheint besonders das Jahr 1922, das Jahr, in dem er elf Jahre alt wurde, bedeutsam gewesen zu sein.
Früh in diesem Jahr starb sein Vater. Dieser hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient und war nach vier langen Jahren unverletzt zurückgekehrt; doch im Winter 1922 rutschte er bei einem Spaziergang auf dem Glatteis aus, verletzte sich schwer und starb an einer Lungenentzündung. Über Nacht standen Kurt und seine drei jüngeren Brüder ohne Vater da. Sein Lieblingsbruder Werner war erst vier Jahre alt, die mittleren Geschwister sieben und neun.
Von diesen vier Falk-Brüdern hat nur mein Vater ein hohes Alter erreicht. Heinz starb mit sechsundzwanzig, Fritz mit neunundzwanzig und Werner mit nur dreiundzwanzig Jahren. Obwohl wir unsere Onkel nie kennengelernt haben, waren sie für uns von klein auf Teil unseres Familienbewusstseins, vor allem, weil meine Eltern unserem ältesten Bruder die Namen Heinz Fritz Werner gegeben hatten – irgendwie sollten die Toten in ihm fortleben und haben es auch getan. Wie oft haben wir, mit schwer bestimmbaren Gefühlen, das Foto der vier jungen Brüder angeschaut: Die vier Jungs sitzen, die Haare gekämmt und gescheitelt, an einem Tisch, die großen in Anzug und Schlips, die kleinen in dunklen Matrosenanzügen. Kurt schaut mit ernster Miene durch seine runde Brille in ein Buch. Die anderen drei blicken mit ahnungsloser Offenheit direkt in die Kamera.
Seine Mutter erlebte mein Vater nach dem Tod ihres Mannes nicht hilflos, sondern als eine energische, aber auch liebevolle und großherzige Frau. Mit freundlich-bestimmter Autorität zog sie ihre vier Kinder groß und nahm, um ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, ihren Beruf als Handarbeitslehrerin wieder auf. Die Falk’sche Wohnung lag in der Jägerstraße 15, im gutbürgerlichen Leipzig-Gohlis, ein Jugendstilgebäude mit einer schweren Eingangstür und einer breiten, ausgetretenen Holztreppe, die vier Stockwerke hoch führte. Mit den vier Jungs war immer Leben und Trubel im Haus. Die Mutter freute sich, wenn sie das Getrampel auf der Treppe hörte und die Söhne Freunde mitbrachten.
Seit meiner Kindheit habe ich unter dem Eindruck gestanden, dass zwischen meinen Eltern eine außergewöhnlich treue und unantastbare Beziehung bestand, die eine lange, verschlungene Geschichte hatte. Auch spürte ich, dass die Fröhlichkeit und der demonstrative Optimismus meines Vaters eine tiefe Traurigkeit verdeckten oder überspielten, die ihren Ursprung in den Jahren haben musste, bevor er meine Mutter geheiratet hatte. Denn den Zweiten Weltkrieg erlebte er auf eine ungewöhnliche, wenn auch nicht einzigartige Weise, die in Geschichtsbüchern selten beschrieben worden ist.
„Dein Vater war ein wunderbarer Lehrer!“ Immer wieder habe ich diese Worte gehört, wenn mir ehemalige Schüler oder Kollegen meines Vaters begegneten. Fragte ich nach dem Grund, waren die Antworten unterschiedlich, aber nie ging es um ein bestimmtes Fach oder ein bestimmtes Wissen, sondern immer um die Person Kurt Falk. Auf verschiedene Weise hat er junge Menschen gebildet und geformt – und natürlich auch uns, seine eigenen Kinder. Jetzt ist er schon siebzehn Jahre tot, und ich merke, wie ich von Jahr zu Jahr nicht weniger, sondern mehr an ihn denke und mich frage: Wer warst du? Was ist in deinem Leben eigentlich geschehen, bevor wir geboren wurden? Und was bin ich durch dich?
Ich weiß vieles über meinen Vater, aus meiner Erinnerung, aus Erzählungen, aus den zahlreichen Briefen, die er mir geschrieben und aus den kurzen Memoiren, die er mit Hilfe unserer Mutter ziemlich spät in seinem Leben aufgezeichnet hat. Doch große Teile seiner Lebensgeschichte, aus der Zeit, bevor es uns gab, blieben im Schatten, denn über bestimmte Erlebnisse, Entscheidungen und Gefühle sprach er nur in Andeutungen. Wir Kinder lauschten mit Neugier allem, was er uns erzählte, und respektierten, was er uns verschwieg.
Doch kurz nachdem meine Mutter zu uns nach Namibia gezogen war und mein Bruder Werner die elterliche Wohnung in Hamburg ausgeräumt hatte, schickte er mir einen dicken Ordner mit alten Dokumenten. Es waren über hundert Briefe meines Vaters aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Jahren danach bis zum Dezember 1949. Plötzlich hatte ich ein Puzzleteil in der Hand, das mir vielleicht Antworten auf nicht gestellte Fragen geben und Lücken in Vaters Lebensgeschichte füllen konnte.
Die Briefe waren fast alle mit der Hand in Sütterlin geschrieben. Um sie Wort für Wort zu entziffern, musste ich diese Schrift zunächst mühsam erlernen. Ich fand ein Sütterlin-Alphabet im Internet und ließ mir von meiner alten Mutter die Buchstaben aufmalen. Das Entziffern der Briefe meines Vaters ähnelte dem Dechiffrieren eines geheimen Codes – Satz für Satz, manchmal Buchstabe für Buchstabe, musste ich mich an seine Gedanken herantasten, und der Prozess wurde aufregend wie eine Detektivarbeit.
Natürlich fragte ich mich, ob ich diese Briefe, die ich als Kind und Jugendliche nie zu sehen bekommen hatte, lesen durfte. Drang ich nicht in ein intimes Gebiet ein, in einen Schattenbereich im Leben unseres Vaters, der im Dunkeln hätte bleiben sollen? Unsere Mutter war einverstanden, dass ich die Briefe lesen und abschreiben würde, aber reichte ihre Erlaubnis? Bis heute bin ich unsicher. Warum hat er diese Briefe nie erwähnt? Andererseits – warum hat er sie nicht vernichtet? Und warum waren sie säuberlich in Plastikfolien verpackt, nach Datum geordnet und in einem Aktenordner verwahrt?
Meine Neugier siegte über Zweifel und Bedenken. Aber es war nicht nur Neugierde. Es war auch dieser brennende Wunsch, meinen Vater besser zu verstehen und, vor allem, die wirkliche Geschichte der Beziehung meiner Eltern kennenzulernen. Außerdem wollte ich herausfinden, auf welch individuelle Weise er Mitspieler oder Widerständler in seiner Gesellschaft mit ihrer wahnsinnigen Geschichte gewesen war. Er hatte als Kind den Ersten Weltkrieg erlebt und als junger Mann die langen und schweren Jahre des Zweiten Weltkriegs. Zehn Jahre hatte er vor seiner Heirat und Familiengründung ein Leben gelebt, das rückblickend spannend und lehrreich war, aber zu seiner Zeit leidvoll und entsetzlich einsam gewesen sein muss. Wie haben die Jahre des Kriegs und seine Grenzerfahrungen seine Vorstellung von dieser und von einer verborgenen Welt geprägt? Seine Vorstellung von Glauben, Kirche und einem göttlichen Einfluss auf das Sein? Und wie hat sein Leben unsere Geschichte als weiße deutsche Afrikaner beeinflusst? Auf welche besondere Weise war er ein Deutscher, ein Europäer, ein Weltbürger, ein Afrikaner?
Blicke ich auf die ersten vierundzwanzig Lebensjahre meines Vaters zurück, auf die Zeit, bevor er seine Heimatstadt Leipzig verließ, um die Enge Deutschlands gegen die Weiten Afrikas einzutauschen, scheint besonders das Jahr 1922, das Jahr, in dem er elf Jahre alt wurde, bedeutsam gewesen zu sein.
Früh in diesem Jahr starb sein Vater. Dieser hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient und war nach vier langen Jahren unverletzt zurückgekehrt; doch im Winter 1922 rutschte er bei einem Spaziergang auf dem Glatteis aus, verletzte sich schwer und starb an einer Lungenentzündung. Über Nacht standen Kurt und seine drei jüngeren Brüder ohne Vater da. Sein Lieblingsbruder Werner war erst vier Jahre alt, die mittleren Geschwister sieben und neun.
Von diesen vier Falk-Brüdern hat nur mein Vater ein hohes Alter erreicht. Heinz starb mit sechsundzwanzig, Fritz mit neunundzwanzig und Werner mit nur dreiundzwanzig Jahren. Obwohl wir unsere Onkel nie kennengelernt haben, waren sie für uns von klein auf Teil unseres Familienbewusstseins, vor allem, weil meine Eltern unserem ältesten Bruder die Namen Heinz Fritz Werner gegeben hatten – irgendwie sollten die Toten in ihm fortleben und haben es auch getan. Wie oft haben wir, mit schwer bestimmbaren Gefühlen, das Foto der vier jungen Brüder angeschaut: Die vier Jungs sitzen, die Haare gekämmt und gescheitelt, an einem Tisch, die großen in Anzug und Schlips, die kleinen in dunklen Matrosenanzügen. Kurt schaut mit ernster Miene durch seine runde Brille in ein Buch. Die anderen drei blicken mit ahnungsloser Offenheit direkt in die Kamera.
Seine Mutter erlebte mein Vater nach dem Tod ihres Mannes nicht hilflos, sondern als eine energische, aber auch liebevolle und großherzige Frau. Mit freundlich-bestimmter Autorität zog sie ihre vier Kinder groß und nahm, um ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, ihren Beruf als Handarbeitslehrerin wieder auf. Die Falk’sche Wohnung lag in der Jägerstraße 15, im gutbürgerlichen Leipzig-Gohlis, ein Jugendstilgebäude mit einer schweren Eingangstür und einer breiten, ausgetretenen Holztreppe, die vier Stockwerke hoch führte. Mit den vier Jungs war immer Leben und Trubel im Haus. Die Mutter freute sich, wenn sie das Getrampel auf der Treppe hörte und die Söhne Freunde mitbrachten.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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