NUR 24 ZEILEN (2. Folge)

PROLOG (Teil 2/3) Ich habe diese lebenstüchtige sächsische Großmutter nie kennengelernt, aber es gibt ein paar Fotos von ihr: Ein wenig füllig war sie, hatte ein rundes, weiches Gesicht mit einem Doppelkinn, die braunen, welligen Haare trug sie am Hinterkopf zusammengesteckt, am auffälligsten waren ihre fast schwarzen Augen. Auf einem Foto steht sie neben ihrem Mann, auch er hat dunkle Augen, einen kecken Schnauzbart, und mit der lässig in der linken Hand gehaltenen Zigarre hat er, von Beruf Lehrer, eher etwas Lebemännisches als Schulmeisterliches an sich. Aber vielleicht machte man sich damals für Fotos so zurecht. Die dunklen Haare, die braunen Augen und die rundlichen Gesichter in unserer Familie – sie kommen eindeutig aus dieser sächsischen Familie; die blonden Haare, die blauen Augen und die schmalen Nasen haben wir aus der Familie unserer in Afrika geborenen Mutter. Der plötzliche Tod des Vaters muss traumatisch gewesen sein. Was Kurt damals als Elfjähriger empfand, wie er, seine Mutter und seine drei Brüder mit dem Verlust des Vaters und Ernährers der Familie zurechtkamen, darüber hat er nie gesprochen. Vielleicht war es gerade dieser Bruch in seinem Leben, der den Anstoß gab, außerhalb der Familie Anschluss zu suchen. Wie zahlreiche andere Schüler und Studenten aus bürgerlichem Haus wurde er Mitglied der eigenwilligen Bewegung der Wandervögel. Diese hatte zahlreiche Untergruppierungen und Facetten, und es ist nicht bekannt, zu welcher Gruppe Kurt gehörte. Aus Erzählungen ist mir jedoch in Erinnerung geblieben, dass es eine reine Jungengruppe war, die das Leben in der Natur dem Leben in der Stadt vorzog, gerne wanderte, deutsche Volkslieder sang, ein einfaches Leben führte, ohne Anpassung an gesellschaftliche Normen. Und dass sie ganz und gar unpolitisch war. „Wir waren Kinder der Nachkriegszeit, wollten anders sein als die ältere Generation“, erklärte mein Vater einmal. „Wir wehrten uns gegen jede Bevormundung – durch die Schule, den Staat, das Elternhaus. Individuelle Freiheit, das war für uns das Wichtigste, unsere Ideale waren Freundschaft, Kameradschaft, Menschlichkeit.“ Die Gruppe unternahm Fahrten in den Böhmerwald, ins Riesengebirge, in den Schwarzwald, nach Ostpreußen, ins Erzgebirge und in die Alpen. Es gibt einen Bericht dieser Wandergruppe über eine „Große Fahrt“ im Sommer des Jahres 1929. Zehn Seiten ist er lang, eng auf Schreibmaschine mit Durchschlägen getippt, jeden Tag war ein anderer dran, tagebuchartige Aufzeichnungen zu machen, vielleicht die damalige Variante des heutigen Facebook. Man wollte nicht nur erleben, sondern auch beschreiben, was man erlebt hatte, und andere daran teilhaben lassen. Wohin die Fahrt geht, erfährt man auf den ersten Seiten nicht, aber offensichtlich führt sie aus Deutschland hinaus, denn gleich bei der Beschreibung des ersten Tages liest man, dass ein gewisser Kurt Falk nicht nur seinen Reisepass, sondern auch seine abgestempelten Fahrpreisermäßigungsscheine vergessen hat. Den Pass muss jemand per Post nachschicken, nach den gestempelten Scheinen fragt niemand. Die Jungs haben Geigen, Mandolinen und Lauten im Gepäck, Schokolade und Bonbons für die Wanderpausen und offensichtlich auch Fotoapparate, mit denen sie regelmäßig Gruppenaufnahmen machen. Ab Schwarzenbach geht die Wanderung zu Fuß weiter, zu Quellen, Seen und durch „gewaltige Wälder“, am Abend wird gezeltet – morgens um sechs Uhr wecken! Die zweite Nacht verbringen die jungen Männer in der Scheune eines Bauern, die dritte im Abstellraum eines Gasthofs, abends singen sie Lieder, trinken „Rülpswasser“, besonders gern singt man „Zogen einst fünf wilde Schwäne“, ein Anti-Kriegslied. Es wird ein Leben lang das Lieblingslied meines Vaters bleiben, obwohl er damals nicht ahnen kann, dass es zum Leitmotiv seines eigenen jungen Lebens werden soll. Fast jeden Tag besteigt die Wandergruppe einen Berg, am Gipfelkreuz machen sie ein Gruppenfoto, zwischendurch suchen sie Heidelbeeren in den Wäldern, ignorieren Verbotsschilder an Wiesenrändern, verlieren einander und finden sich wieder. Die meisten schreiben regelmäßig Postkarten nach Hause und an Freunde – Freundinnen werden nicht erwähnt –, und in jedem größeren Dorf führt der erste Weg zur Post, wo man die inzwischen eingetroffenen Briefe, manchmal sogar Pakete, abholt. Die Reise ist gut organisiert, es gibt Gruppenleiter, Schatzmeister und Tagespläne. Der Zusammenhalt der Gruppe ist wichtig, das Bestehen gemeinsamer Strapazen und Abenteuer stärkt das Gemeinschaftsgefühl; es gibt ungeschriebene Gesetze, an die sich jeder hält. Bei so viel Individualismus und Freiheitsdrang ist das vermutlich auch nötig. Zwischen den Zeilen spürt man eine gewisse Überspanntheit, einen Gefühlsüberschwang, auch einen großen Lebenshunger. Heute frage ich mich, wie die Wandervogelbewegung die politische Haltung der jungen Männer beeinflusst hat, insbesondere ihre Einstellung zum Nationalsozialismus. Mein Vater hat darüber wenig gesprochen – leider haben wir auch zu wenig gefragt –, und in dem Fahrtenbericht gibt es keine einzige politische Andeutung oder Reflexion. Offenbar waren die Wandervögel zu der Zeit in der Tat eine bewusst apolitische Bewegung, die sich aus dem Parteienstreit der Weimarer Republik heraushalten wollte. Auf die eigene innere Stimme zu hören, zu tun, was einem „gemäß“ war, nach eigenen inneren Regeln und Gesetzen zu leben – das passte nicht zu parteipolitischen Parolen, zum Marschieren nach gebellten Befehlen. Aber zurück ins Jahr 1922. Vater verbrachte seine Kindheit und Jugend vorwiegend in männlicher Gesellschaft. Zu Hause waren sie vier Brüder, das Gymnasium war eine Jungenschule, und auch die Jugendgruppe bestand nur aus jungen Männern. Kein Wunder, dass er eine eher verklärte Vorstellung von Frauen und Mädchen hatte; sie waren geheimnisvolle Wesen, die schön und unnahbar oder, wie seine Mutter, außergewöhnlich stark und lebenstüchtig waren. Die romantische Vorstellung von der Liebe und den Frauen und das Suchen nach starken Gefühlen hatte vielleicht zu dem eigenartigen Erlebnis geführt, das er uns Kindern einmal erzählte und dessen Wahrheitsgehalt er auf unsere ungläubige Frage – „Ist das wirklich wahr?“ – nur mit einem verlegenen Lächeln bestätigte. Er behauptete nämlich, dass er an seinem elften Geburtstag, also am 27. März 1922, gespürt, ja sogar die Gewissheit gehabt habe, dass gerade jetzt, irgendwo auf der Welt, seine zukünftige Frau geboren werde. Da wir ihn eigentlich als einen rationalen Menschen kannten, der zwar an die Kraft der Ideen, auch des Unbewussten, glaubte, aber kritisch gegenüber jeglichem Hokuspokus eingestellt war, faszinierte uns diese übersinnliche Erfahrung. Und so war 1922 in der Tat ein bedeutendes Jahr: der Tod des Vaters, der Eintritt in die freiheitsliebende Gruppe der Wandervögel und eine Vision von der vorherbestimmten Liebe. Die Zeit bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr verbrachte mein Vater in seiner Heimatstadt Leipzig. Er wurde in der berühmten Thomaskirche getauft und konfirmiert; der evangelisch-lutherische Glaube hat seine ersten Lebensjahre beeinflusst, er bildete die Grundlage für seine Beziehung zu Kirche und Religion, vor allem Luthers Auffassung von einer persönlichen Beziehung zu Gott. Und auch für seine Ablehnung von Dogma und kirchlicher Autorität.

NUR 24 ZEILEN (2. Folge)

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-26

Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu hinterlassen

NUR 24 ZEILEN (2. Folge)

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-26

Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu hinterlassen

ANMELDUNG