NUR 24 ZEILEN (26. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
Geschichte, südliches Afrika, II. Weltkrieg, Internierung, Kurt Falk, Erika von Wietersheim, Gefangenenlager, „nur 24 Zeilen“
Was ist das Geheimnis einer großen Liebe? Wie übersteht sie Trennung und Entfernung? Was bedeutet Heimat und wo ist sie, wenn der Krieg eine Heimkehr unmöglich macht? Eine fesselnde Erzählung die einen neuen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Afrika wirft und die zeigt, wie eng verflochten die Fäden sind, die die Kriegsgeneration noch immer mit der heutigen verbinden. Erika von Wietersheim erzählt die Geschichte ihrer Eltern Hildegard und Kurt Falk.
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 2/4)
Es wird Oktober 1940. Einen Monat sind die Internierten jetzt in Australien. Lagerkommandantur und Wachmannschaften lassen ihnen weitgehend freie Hand bei der Gestaltung ihres Lagerlebens. Sie versorgen sie mit allem, was zum Leben notwendig ist, doch was damit geschieht, überlassen sie dem Organisationstalent der gefangenen Männer. Das Essen ist gut, die Behandlung militärisch, aber sachlich, fasst Kurt die ersten Wochen im Lager zusammen. Nur die Raucher sind arm dran. Es gibt keinen Tabak, und daher sind sie oft schlecht gelaunt. Für Kurt und seine Kameraden ist dies das fünfte Lager in einem Jahr, und sie haben inzwischen Erfahrung gesammelt, wie man einigermaßen mit dem Lagerleben zurechtkommt. Sie müssen kochen oder verhungern, Latrinen leeren und säubern oder im Dreck versinken, sich eine Art Selbstverwaltung schaffen oder im Chaos untergehen, Sport und Unterhaltung organisieren oder stumpf herumsitzen. Dieser indirekte Zwang funktioniert, und sie nehmen das Lager als neues Heim in Besitz. Jeder übernimmt eine andere Aufgabe, jeder nach seinen Fähigkeiten und Interessen. Kurt gründet schon bald eine Lagerschule, an der regelmäßig Kurse in acht verschiedenen Sprachen angeboten werden sowie in Mathematik, Volkswirtschaft, Kurzschrift und Buchhaltung. Eine Schule, die sich sehen lassen kann, schreibt er. Für die Abende organisieren die Gefangenen Vorträge, an Sonntagen singen sie, manche halten Gottesdienste. Die einzigen Hilfsmittel für Unterricht, Vorträge und Gesang sind das Wissen, das Gedächtnis, die Phantasie der Männer; sie haben kein Buch, kein Papier, keinen Stift. Alles, was sie besessen haben, liegt nach dem Untergang der Arandora Star auf dem Meeresgrund oder wurde gestohlen.
Obwohl Kurt immer noch keine Nachricht von Hildegard erhalten hat, bittet er sie in einem zweiten Brief aus dem Lager, ihm eine englische und eine afrikaanse Grammatik sowie Schreibmaterial zu schicken. Diesen Brief erhält Hildegard im November. Aus einer späteren Notiz geht hervor, was sie und ihre Mutter unternehmen: „Kurt berichtete von einer Lagerschule und regelmäßigen Sprachkursen in verschiedenen Sprachen – alles ohne ein einziges Buch! Kein Papier! Kein Bleistift! Er bat mich, ihm Bleistifte, Lineale, Schreibfedern und Radierer zu schicken. Als ich dies meiner Mutter erzählte, zogen wir sofort los zum Junta Book Shop. Auch in Südafrika war inzwischen aufgrund des Krieges vieles rationiert worden, vor allem Lebensmittel, aber auch sonst wurde mancherlei knapp. Deshalb war ein Einkauf in einem Book Store nicht so einfach wie früher.
„I would like to buy pencils, rubbers and rulers”, sagte meine Mutter. Der Verkäufer legte je ein Lineal, einen Radierer und einen Bleistift auf den Tisch, woraufhin meine Mutter rief: „No, not one, mindestens zehn von jedem! Der leicht überraschte Verkäufer antwortete: „Ich fürchte, ich darf Ihnen nur eins von jedem verkaufen. Diese Artikel sind streng rationiert. Wozu benötigen Sie so viele?“ Meine Mutter reagierte taktisch: „Oh, my word, that is bad, you know, ich möchte sie an die Männer im Camp schicken.“ Erstaunt sah der junge Mann sie an und sagte nach kurzer Überlegung: „Well, das ist natürlich etwas anderes. Für die Männer im Camp!“ Selbstverständlich dachte er an südafrikanische Soldaten, auch wenn er sich hätte wundern können, warum eine ältere Dame und kein Militär diese Einkäufe tätigte. Und so legte er je zehn Bleistifte, Radierer und so weiter auf den Tisch, packte alles sorgfältig ein und wünschte uns und den „men in the camp” alles Gute. Glückstrahlend verließen wir das Geschäft und schickten alles nach Australien, „to the men in the camp“.
Die Schreibutensilien kommen sicher in Australien an, aber es fehlt immer noch an Schreibpapier – bis eines Tages ein Internierter sieht, wie mehrere Zuckersäcke in die Lagerküche transportiert werden, jedes Kilo Zucker in eine braune Papiertüte verpackt. Nach freundlichen Verhandlungen mit dem Küchenpersonal überlässt ihnen der Koch die leeren Papiertüten. Sie reinigen sie von Zuckerkrümeln, schneiden sie in heftgroße Vierecke und nähen sie mit dickem Garn zusammen. So haben sie Notizbücher für Vokabeln, Redewendungen, Gedichte und Berechnungen.
Nach einem Monat haben sich die Internierten an das trockene, warme Klima gewöhnt, doch sie hören, dass es bald noch sehr viel heißer werden wird. Die Steppenlandschaft, in der das Lager errichtet wurde und die am Anfang noch den Reiz des Neuen hatte, empfinden die Gefangenen nur noch als entsetzlich eintönig, ein Spiegel ihres kümmerlichen Gefangenendaseins.
Im Nachbarlager sind italienische Kriegsgefangene untergebracht, denn Kurt schreibt, dass er einigen von ihnen Deutschunterricht gibt. Was mit den jüdischen Internierten der Dunera geschehen ist, wissen sie jedoch nicht. Nach späteren Berichten hat sich Folgendes ereignet: Die jüdischen Internierten kommen erst am 7. September, acht Wochen nach dem Auslaufen in Liverpool, an dem endgültigen Ziel der Dunera an: in Sydney. Die australischen Soldaten, die die Gefangenen in Empfang nehmen, reagieren erst kopfschüttelnd, dann empört auf den Umgang der Engländer mit den Internierten, denen wiederum nach acht Wochen Gebrüll und Schikane als Erstes der freundliche Ton und die korrekte Sachlichkeit der Australier auffällt. Sie werden ebenfalls in bereitstehenden Eisenbahnwaggons ins Landesinnere befördert. Ihre australischen Begleiter können es kaum fassen, als sie erfahren, dass sie keine Kriegsgefangenen, sondern jüdische Deportierte vor sich haben. Die Fahrt geht 750 Kilometer westwärts von Sydney nach Hay, wie Tatura eine Kleinstadt mitten in der Steppe im australischen Outback von New South Wales. Juden, die zum Teil schon in Deutschland in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, finden sich wieder in einem Konzentrationslager in Australien. Die Übersiedlung und Unterbringung ihrer Frauen und Kinder lehnt die australische Regierung ab. Ein sofort gegründetes Lagerparlament tut alles, um zu erreichen, dass sie so schnell wie möglich aus der ungerechten Internierung entlassen werden. Es verfasst Petitionen an die englische Regierung; Freunde und Verwandte in England werden mit Bitten überhäuft, bei der Regierung, bei der jüdischen Gemeinde oder den Parteien vorstellig zu werden und sich für die Freilassung und Rückführung der nach Australien Verschleppten einzusetzen.
Was ist das Geheimnis einer großen Liebe? Wie übersteht sie Trennung und Entfernung? Was bedeutet Heimat und wo ist sie, wenn der Krieg eine Heimkehr unmöglich macht? Eine fesselnde Erzählung die einen neuen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Afrika wirft und die zeigt, wie eng verflochten die Fäden sind, die die Kriegsgeneration noch immer mit der heutigen verbinden. Erika von Wietersheim erzählt die Geschichte ihrer Eltern Hildegard und Kurt Falk.
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 2/4)
Es wird Oktober 1940. Einen Monat sind die Internierten jetzt in Australien. Lagerkommandantur und Wachmannschaften lassen ihnen weitgehend freie Hand bei der Gestaltung ihres Lagerlebens. Sie versorgen sie mit allem, was zum Leben notwendig ist, doch was damit geschieht, überlassen sie dem Organisationstalent der gefangenen Männer. Das Essen ist gut, die Behandlung militärisch, aber sachlich, fasst Kurt die ersten Wochen im Lager zusammen. Nur die Raucher sind arm dran. Es gibt keinen Tabak, und daher sind sie oft schlecht gelaunt. Für Kurt und seine Kameraden ist dies das fünfte Lager in einem Jahr, und sie haben inzwischen Erfahrung gesammelt, wie man einigermaßen mit dem Lagerleben zurechtkommt. Sie müssen kochen oder verhungern, Latrinen leeren und säubern oder im Dreck versinken, sich eine Art Selbstverwaltung schaffen oder im Chaos untergehen, Sport und Unterhaltung organisieren oder stumpf herumsitzen. Dieser indirekte Zwang funktioniert, und sie nehmen das Lager als neues Heim in Besitz. Jeder übernimmt eine andere Aufgabe, jeder nach seinen Fähigkeiten und Interessen. Kurt gründet schon bald eine Lagerschule, an der regelmäßig Kurse in acht verschiedenen Sprachen angeboten werden sowie in Mathematik, Volkswirtschaft, Kurzschrift und Buchhaltung. Eine Schule, die sich sehen lassen kann, schreibt er. Für die Abende organisieren die Gefangenen Vorträge, an Sonntagen singen sie, manche halten Gottesdienste. Die einzigen Hilfsmittel für Unterricht, Vorträge und Gesang sind das Wissen, das Gedächtnis, die Phantasie der Männer; sie haben kein Buch, kein Papier, keinen Stift. Alles, was sie besessen haben, liegt nach dem Untergang der Arandora Star auf dem Meeresgrund oder wurde gestohlen.
Obwohl Kurt immer noch keine Nachricht von Hildegard erhalten hat, bittet er sie in einem zweiten Brief aus dem Lager, ihm eine englische und eine afrikaanse Grammatik sowie Schreibmaterial zu schicken. Diesen Brief erhält Hildegard im November. Aus einer späteren Notiz geht hervor, was sie und ihre Mutter unternehmen: „Kurt berichtete von einer Lagerschule und regelmäßigen Sprachkursen in verschiedenen Sprachen – alles ohne ein einziges Buch! Kein Papier! Kein Bleistift! Er bat mich, ihm Bleistifte, Lineale, Schreibfedern und Radierer zu schicken. Als ich dies meiner Mutter erzählte, zogen wir sofort los zum Junta Book Shop. Auch in Südafrika war inzwischen aufgrund des Krieges vieles rationiert worden, vor allem Lebensmittel, aber auch sonst wurde mancherlei knapp. Deshalb war ein Einkauf in einem Book Store nicht so einfach wie früher.
„I would like to buy pencils, rubbers and rulers”, sagte meine Mutter. Der Verkäufer legte je ein Lineal, einen Radierer und einen Bleistift auf den Tisch, woraufhin meine Mutter rief: „No, not one, mindestens zehn von jedem! Der leicht überraschte Verkäufer antwortete: „Ich fürchte, ich darf Ihnen nur eins von jedem verkaufen. Diese Artikel sind streng rationiert. Wozu benötigen Sie so viele?“ Meine Mutter reagierte taktisch: „Oh, my word, that is bad, you know, ich möchte sie an die Männer im Camp schicken.“ Erstaunt sah der junge Mann sie an und sagte nach kurzer Überlegung: „Well, das ist natürlich etwas anderes. Für die Männer im Camp!“ Selbstverständlich dachte er an südafrikanische Soldaten, auch wenn er sich hätte wundern können, warum eine ältere Dame und kein Militär diese Einkäufe tätigte. Und so legte er je zehn Bleistifte, Radierer und so weiter auf den Tisch, packte alles sorgfältig ein und wünschte uns und den „men in the camp” alles Gute. Glückstrahlend verließen wir das Geschäft und schickten alles nach Australien, „to the men in the camp“.
Die Schreibutensilien kommen sicher in Australien an, aber es fehlt immer noch an Schreibpapier – bis eines Tages ein Internierter sieht, wie mehrere Zuckersäcke in die Lagerküche transportiert werden, jedes Kilo Zucker in eine braune Papiertüte verpackt. Nach freundlichen Verhandlungen mit dem Küchenpersonal überlässt ihnen der Koch die leeren Papiertüten. Sie reinigen sie von Zuckerkrümeln, schneiden sie in heftgroße Vierecke und nähen sie mit dickem Garn zusammen. So haben sie Notizbücher für Vokabeln, Redewendungen, Gedichte und Berechnungen.
Nach einem Monat haben sich die Internierten an das trockene, warme Klima gewöhnt, doch sie hören, dass es bald noch sehr viel heißer werden wird. Die Steppenlandschaft, in der das Lager errichtet wurde und die am Anfang noch den Reiz des Neuen hatte, empfinden die Gefangenen nur noch als entsetzlich eintönig, ein Spiegel ihres kümmerlichen Gefangenendaseins.
Im Nachbarlager sind italienische Kriegsgefangene untergebracht, denn Kurt schreibt, dass er einigen von ihnen Deutschunterricht gibt. Was mit den jüdischen Internierten der Dunera geschehen ist, wissen sie jedoch nicht. Nach späteren Berichten hat sich Folgendes ereignet: Die jüdischen Internierten kommen erst am 7. September, acht Wochen nach dem Auslaufen in Liverpool, an dem endgültigen Ziel der Dunera an: in Sydney. Die australischen Soldaten, die die Gefangenen in Empfang nehmen, reagieren erst kopfschüttelnd, dann empört auf den Umgang der Engländer mit den Internierten, denen wiederum nach acht Wochen Gebrüll und Schikane als Erstes der freundliche Ton und die korrekte Sachlichkeit der Australier auffällt. Sie werden ebenfalls in bereitstehenden Eisenbahnwaggons ins Landesinnere befördert. Ihre australischen Begleiter können es kaum fassen, als sie erfahren, dass sie keine Kriegsgefangenen, sondern jüdische Deportierte vor sich haben. Die Fahrt geht 750 Kilometer westwärts von Sydney nach Hay, wie Tatura eine Kleinstadt mitten in der Steppe im australischen Outback von New South Wales. Juden, die zum Teil schon in Deutschland in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, finden sich wieder in einem Konzentrationslager in Australien. Die Übersiedlung und Unterbringung ihrer Frauen und Kinder lehnt die australische Regierung ab. Ein sofort gegründetes Lagerparlament tut alles, um zu erreichen, dass sie so schnell wie möglich aus der ungerechten Internierung entlassen werden. Es verfasst Petitionen an die englische Regierung; Freunde und Verwandte in England werden mit Bitten überhäuft, bei der Regierung, bei der jüdischen Gemeinde oder den Parteien vorstellig zu werden und sich für die Freilassung und Rückführung der nach Australien Verschleppten einzusetzen.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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