NUR 24 ZEILEN (28. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
Geschichte, südliches Afrika, II. Weltkrieg, Internierung, Kurt Falk, Erika von Wietersheim, Gefangenenlager, „nur 24 Zeilen“
Was ist das Geheimnis einer großen Liebe? Wie übersteht sie Trennung und Entfernung? Was bedeutet Heimat und wo ist sie, wenn der Krieg eine Heimkehr unmöglich macht? Eine fesselnde Erzählung die einen neuen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Afrika wirft und die zeigt, wie eng verflochten die Fäden sind, die die Kriegsgeneration noch immer mit der heutigen verbinden. Erika von Wietersheim erzählt die Geschichte ihrer Eltern Hildegard und Kurt Falk .
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 4/4)
Die Beziehung in Briefen lebendig zu halten, einander an inneren und äußeren Entwicklungen teilhaben zu lassen, ist für Kurt wichtig, denn der Krieg, die Gefangenschaft, die Todeserfahrungen verursachen Verunsicherung und innere Veränderungen. Man ist sich manchmal über seine Entwicklung, sein Werden und Wachsen unklar und unsicher, schreibt er. Man hat keinen Maßstab mehr und weiß nicht, wo man steht. Auch über die gemeinsame Zukunft nachzudenken und sich darauf vorzubereiten, ist ihm ein Anliegen. Immer wieder stellt er sich vor, wie ihr erstes Zusammentreffen nach seiner Freilassung aussehen könnte. Wann würde es sein? Und wo? Würden sie einander sofort erkennen und denselben Menschen sehen wie im September 1939? Es muss nicht derselbe Mensch sein, jeder kann und soll sich sogar verändern, schreibt er, nur die innere Verbundenheit bleibt wichtig und muss die Zeit der Trennung überstehen. Nicht nur im Gedankenaustausch in seinen Briefen, auch durch ein innerliches Aneinander-Denken versucht er, die Beziehung zu der geliebten, aber ach so weit entfernten Frau aufrechtzuerhalten. Jeden Abend, wenn er die australische Sonne untergehen sieht, stellt er sich vor, wie sie gerade in Kapstadt am Vormittagshimmel steht. Er findet Trost in dieser Sonne, die über ihnen beiden scheint, wenn auch zu verschiedenen Tageszeiten.
Auch Hildegard blickt oft hinauf zum Himmel, und wenn der Postbote ihr nach Wochen endlich einen Umschlag aus Australien in die Hand drückt, klopft ihr Herz den ganzen Tag. In Kapstadt ist der Krieg weit entfernt, und doch beeinflusst und beeinträchtigt er das Leben. Die Atmosphäre am Kap erlebt sie zunehmend als deutschfeindlich, auch wenn viele Afrikaans sprechende Südafrikaner heimlich Hitler-Deutschland unterstützen. In den Geschäften darf nur noch englisch gesprochen werden, und auch in der deutschen Schule dürfen sich die Kinder in den Pausen nur noch auf Englisch unterhalten. Am Ende jeder Kinovorstellung wird „God save the Queen“ gespielt, jeden Mittag um 12 Uhr wird in der Innenstadt ein Kanonenschuss abgefeuert, alle Fußgänger in der Hauptstraße, der Adderley Street, müssen eine Minute lang stillstehen und im Gedenken an die Gefallenen schweigen. Die deutschen Nachrichten werden heimlich, jedoch regelmäßig gehört, auch wenn der Radioempfang schlecht und andauernd gestört ist. Sie beginnen jedes Mal mit Gongschlägen, deren Zahl angeblich andeutet, wie viele feindliche Schiffe die Deutschen an jenem Tag versenkt haben. Die Nachrichten aus England bringen Erfolgsmeldungen von der anderen Seite. Zahlreiche weiße und auch schwarze Südafrikaner sind inzwischen eingezogen worden und kämpfen an verschiedenen Fronten in der Welt.
Mutter Mereis setzt sich nach wie vor für die Internierten und ihre Familien in Südafrika ein. Sie backt Kuchen und Brot, spinnt Wolle an ihrem Spinnrad, schickt weiterhin Pakete in die Lager und bringt den vaterlosen Familien in Kapstadt Lebensmittelpakete und Geld. Als Dank schicken ihr die Gefangenen selbst gefertigte Geschenke – Figuren, Becher, Kästchen, einige aus Holz geschnitzt, andere aus Stein gemeißelt. Alle hoffen, dass der Krieg spätestens im Dezember zu Ende sein wird.
Im Lager in Australien hat sich mittlerweile eine feste Routine etabliert; sie gibt dem Leben der Gefangenen ein Gerüst, einem Leben, das ansonsten nur durch Tag und Nacht und drei Mahlzeiten täglich bestimmt wäre. Inzwischen haben die Lagerinsassen sogar ein paar Sportgeräte erhalten und sie dürfen zweimal in der Woche irgendwo schwimmen gehen. Ob es einen Swimmingpool im Lager gibt? Die Briefe sind immer so kurz, dass vieles unerklärt bleibt. Ende November gibt es sogar eine Kunstausstellung im Lager. Die Lagerinsassen haben Schiffsmodelle gebaut, kunstvolle Schachfiguren, Leuchter und Schnitzereien hergestellt sowie Karikaturen vom Lagerleben gezeichnet. Das hört sich alles gar nicht so langweilig an, im Gegenteil, fast nach einem Ferienlager, diesen Eindruck könnte man bekommen. Und in diesen ersten Monaten in Australien scheint es den meisten Lagerinsassen tatsächlich gut zu gehen. Sie haben genug zu essen, können Sport treiben und es gibt Unterricht und Unterhaltung. Selbst die Gesundheitsversorgung ist hervorragend. Zum Beispiel meint der Lagerarzt eines Tages bei einer Routineuntersuchung, dass bei Kurt ein Bein kürzer sei als das andere (Hildegard und ihrem Vater war es bereits 1938 in Kapstadt aufgefallen!), und er wird zum Röntgen in ein Krankenhaus außerhalb des Lagers gebracht. Zum Glück zeigen die Röntgenstrahlen an: zwei gesunde, gleich lange Beine. Spannender als dieses Ergebnis ist für Kurt jedoch, dass er nach fünf langen Monaten durch den Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal wieder mit der Außenwelt in Verbindung treten kann: Ich habe neugierig wie ein kleines Kind die Augen aufgerissen. Schulkinder kamen gerade aus einer Schule gesprungen, ein Anblick, den ich ein Jahr nicht mehr gehabt habe. Mädchen und Frauen kamen mir wie Menschen aus einer anderen Welt vor, jedem Auto sah ich sehnsüchtig nach – und zuletzt am Abend der Katzenjammer, als ich in unser einsames Kamp zurückkam.
Im November wird es, obwohl eigentlich schon Hochsommer, noch einmal kalt und unfreundlich. Tagelang zieht ein scharfer Wind durch die Steppe – Sand, Wolken und Regen vor sich hertreibend. Die Männer verkriechen sich in ihren Hütten unter ihren dünnen Bettdecken und hoffen auf bessere Zeiten. Im Dezember wird es jedoch wieder warm, Weihnachten kommt näher, und in Gedanken an dieses so deutsche Familienfest wächst die Sehnsucht nach zu Hause.
Von seiner Mutter aus Deutschland hat Kurt immer noch kein einziges Lebenszeichen seit seiner Ankunft in Australien erhalten. Er wünscht sich so sehr, dass sie weiß, dass er in Sicherheit ist und dass es ihm gut geht. Erst kurz vor Weihnachten bekommt er endlich einen Brief aus Leipzig, von einem Freund: Seiner Mutter und seinem Bruder Fritz gehe es gut. Sein jüngster Bruder jedoch, sein Lieblingsbruder Werner, sei irgendwo in Rußland und es gebe keine Nachricht von ihm.
Die Männer im Lager geben sich Mühe, trotz aller Einschränkungen ein schönes Weihnachtsfest zu gestalten. Sie planen eine Feier, die Seeleute unter ihnen basteln einen Weihnachtsbaum aus einem Besenstiel und Schiffstau, sie singen Weihnachtslieder. Ende 1940 sind alle Gefangenen voller Hoffnung und viele sogar fest davon überzeugt, dass sie das kommende Weihnachten in Frieden zu Hause feiern werden.
Was ist das Geheimnis einer großen Liebe? Wie übersteht sie Trennung und Entfernung? Was bedeutet Heimat und wo ist sie, wenn der Krieg eine Heimkehr unmöglich macht? Eine fesselnde Erzählung die einen neuen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Afrika wirft und die zeigt, wie eng verflochten die Fäden sind, die die Kriegsgeneration noch immer mit der heutigen verbinden. Erika von Wietersheim erzählt die Geschichte ihrer Eltern Hildegard und Kurt Falk .
IN AUSTRALIEN (Kapitel 9, Teil 4/4)
Die Beziehung in Briefen lebendig zu halten, einander an inneren und äußeren Entwicklungen teilhaben zu lassen, ist für Kurt wichtig, denn der Krieg, die Gefangenschaft, die Todeserfahrungen verursachen Verunsicherung und innere Veränderungen. Man ist sich manchmal über seine Entwicklung, sein Werden und Wachsen unklar und unsicher, schreibt er. Man hat keinen Maßstab mehr und weiß nicht, wo man steht. Auch über die gemeinsame Zukunft nachzudenken und sich darauf vorzubereiten, ist ihm ein Anliegen. Immer wieder stellt er sich vor, wie ihr erstes Zusammentreffen nach seiner Freilassung aussehen könnte. Wann würde es sein? Und wo? Würden sie einander sofort erkennen und denselben Menschen sehen wie im September 1939? Es muss nicht derselbe Mensch sein, jeder kann und soll sich sogar verändern, schreibt er, nur die innere Verbundenheit bleibt wichtig und muss die Zeit der Trennung überstehen. Nicht nur im Gedankenaustausch in seinen Briefen, auch durch ein innerliches Aneinander-Denken versucht er, die Beziehung zu der geliebten, aber ach so weit entfernten Frau aufrechtzuerhalten. Jeden Abend, wenn er die australische Sonne untergehen sieht, stellt er sich vor, wie sie gerade in Kapstadt am Vormittagshimmel steht. Er findet Trost in dieser Sonne, die über ihnen beiden scheint, wenn auch zu verschiedenen Tageszeiten.
Auch Hildegard blickt oft hinauf zum Himmel, und wenn der Postbote ihr nach Wochen endlich einen Umschlag aus Australien in die Hand drückt, klopft ihr Herz den ganzen Tag. In Kapstadt ist der Krieg weit entfernt, und doch beeinflusst und beeinträchtigt er das Leben. Die Atmosphäre am Kap erlebt sie zunehmend als deutschfeindlich, auch wenn viele Afrikaans sprechende Südafrikaner heimlich Hitler-Deutschland unterstützen. In den Geschäften darf nur noch englisch gesprochen werden, und auch in der deutschen Schule dürfen sich die Kinder in den Pausen nur noch auf Englisch unterhalten. Am Ende jeder Kinovorstellung wird „God save the Queen“ gespielt, jeden Mittag um 12 Uhr wird in der Innenstadt ein Kanonenschuss abgefeuert, alle Fußgänger in der Hauptstraße, der Adderley Street, müssen eine Minute lang stillstehen und im Gedenken an die Gefallenen schweigen. Die deutschen Nachrichten werden heimlich, jedoch regelmäßig gehört, auch wenn der Radioempfang schlecht und andauernd gestört ist. Sie beginnen jedes Mal mit Gongschlägen, deren Zahl angeblich andeutet, wie viele feindliche Schiffe die Deutschen an jenem Tag versenkt haben. Die Nachrichten aus England bringen Erfolgsmeldungen von der anderen Seite. Zahlreiche weiße und auch schwarze Südafrikaner sind inzwischen eingezogen worden und kämpfen an verschiedenen Fronten in der Welt.
Mutter Mereis setzt sich nach wie vor für die Internierten und ihre Familien in Südafrika ein. Sie backt Kuchen und Brot, spinnt Wolle an ihrem Spinnrad, schickt weiterhin Pakete in die Lager und bringt den vaterlosen Familien in Kapstadt Lebensmittelpakete und Geld. Als Dank schicken ihr die Gefangenen selbst gefertigte Geschenke – Figuren, Becher, Kästchen, einige aus Holz geschnitzt, andere aus Stein gemeißelt. Alle hoffen, dass der Krieg spätestens im Dezember zu Ende sein wird.
Im Lager in Australien hat sich mittlerweile eine feste Routine etabliert; sie gibt dem Leben der Gefangenen ein Gerüst, einem Leben, das ansonsten nur durch Tag und Nacht und drei Mahlzeiten täglich bestimmt wäre. Inzwischen haben die Lagerinsassen sogar ein paar Sportgeräte erhalten und sie dürfen zweimal in der Woche irgendwo schwimmen gehen. Ob es einen Swimmingpool im Lager gibt? Die Briefe sind immer so kurz, dass vieles unerklärt bleibt. Ende November gibt es sogar eine Kunstausstellung im Lager. Die Lagerinsassen haben Schiffsmodelle gebaut, kunstvolle Schachfiguren, Leuchter und Schnitzereien hergestellt sowie Karikaturen vom Lagerleben gezeichnet. Das hört sich alles gar nicht so langweilig an, im Gegenteil, fast nach einem Ferienlager, diesen Eindruck könnte man bekommen. Und in diesen ersten Monaten in Australien scheint es den meisten Lagerinsassen tatsächlich gut zu gehen. Sie haben genug zu essen, können Sport treiben und es gibt Unterricht und Unterhaltung. Selbst die Gesundheitsversorgung ist hervorragend. Zum Beispiel meint der Lagerarzt eines Tages bei einer Routineuntersuchung, dass bei Kurt ein Bein kürzer sei als das andere (Hildegard und ihrem Vater war es bereits 1938 in Kapstadt aufgefallen!), und er wird zum Röntgen in ein Krankenhaus außerhalb des Lagers gebracht. Zum Glück zeigen die Röntgenstrahlen an: zwei gesunde, gleich lange Beine. Spannender als dieses Ergebnis ist für Kurt jedoch, dass er nach fünf langen Monaten durch den Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal wieder mit der Außenwelt in Verbindung treten kann: Ich habe neugierig wie ein kleines Kind die Augen aufgerissen. Schulkinder kamen gerade aus einer Schule gesprungen, ein Anblick, den ich ein Jahr nicht mehr gehabt habe. Mädchen und Frauen kamen mir wie Menschen aus einer anderen Welt vor, jedem Auto sah ich sehnsüchtig nach – und zuletzt am Abend der Katzenjammer, als ich in unser einsames Kamp zurückkam.
Im November wird es, obwohl eigentlich schon Hochsommer, noch einmal kalt und unfreundlich. Tagelang zieht ein scharfer Wind durch die Steppe – Sand, Wolken und Regen vor sich hertreibend. Die Männer verkriechen sich in ihren Hütten unter ihren dünnen Bettdecken und hoffen auf bessere Zeiten. Im Dezember wird es jedoch wieder warm, Weihnachten kommt näher, und in Gedanken an dieses so deutsche Familienfest wächst die Sehnsucht nach zu Hause.
Von seiner Mutter aus Deutschland hat Kurt immer noch kein einziges Lebenszeichen seit seiner Ankunft in Australien erhalten. Er wünscht sich so sehr, dass sie weiß, dass er in Sicherheit ist und dass es ihm gut geht. Erst kurz vor Weihnachten bekommt er endlich einen Brief aus Leipzig, von einem Freund: Seiner Mutter und seinem Bruder Fritz gehe es gut. Sein jüngster Bruder jedoch, sein Lieblingsbruder Werner, sei irgendwo in Rußland und es gebe keine Nachricht von ihm.
Die Männer im Lager geben sich Mühe, trotz aller Einschränkungen ein schönes Weihnachtsfest zu gestalten. Sie planen eine Feier, die Seeleute unter ihnen basteln einen Weihnachtsbaum aus einem Besenstiel und Schiffstau, sie singen Weihnachtslieder. Ende 1940 sind alle Gefangenen voller Hoffnung und viele sogar fest davon überzeugt, dass sie das kommende Weihnachten in Frieden zu Hause feiern werden.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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