NUR 24 ZEILEN (30. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
DAS ZWEITE LANGE JAHR (Kapitel 10, Teil 2/4)
Im April erhält Kurt überraschend von Hildegard ein Foto. Ganz wichtig ist dieses Bild für ihn, denn es zeigt ihm sinnbildlich, was er im Kopf schon realisiert hat: Sie werden beide älter. Er ist froh über das Foto, denn es hilft ihm, nicht an alten Vorstellungen oder Bildern von Hildegard festzuhalten. Wenn eine Aufnahme Sinn gehabt hat, dann Dein Bild, schreibt er und fährt ehrlich, wenn auch wenig charmant fort: Du hast Dich verändert, oder die Zeit der Trennung hatte in mir allmählich ein anderes Bild hervorgerufen. Du bist viel älter geworden - ich weiß, daß man dies einem Mädchen nicht sagen soll! - und auf dem Bild sehr ernst.
Am 1. April schreibt Werner, der jüngste der Brüder, Kurt einen Brief aus Deutschland. Er ist gerade zu Hause, da er einen Unglücksfall im Gebirge hatte und monatelang im Krankenhaus liegen musste. Am 27. März hat er an den 30. Geburtstag seines ältesten Bruders gedacht. Wir glauben bestimmt, im nächsten Jahr einen gemeinsamen Geburtstag hier bei uns feiern zu können, schreibt er hoffnungsfroh. Er berichtet auch von seinem Bruder Fritz, der gerade seine doppelseitige Lungenentzündung überstanden hat, von seiner so früh verwitweten Schwägerin Elfriede, die wie eine Schwester für die zwei Brüder zu Hause geworden ist, und von seiner Mutter, die in den letzten Jahren viel Leid erfahren hat: den Tod ihres Sohnes und anderer junger Männer im Freundeskreis, die wirtschaftliche Not.
Noch im Mai ziehen die Internierten um in ein anderes Lager, nicht weit von dem alten Standort. Warum sie umziehen, erfährt man aus den Briefen nicht. Der Umzug bringt Abwechslung in den Lageralltag. Man muss packen, durch die Gegend fahren - oder laufen? -, sich neu einrichten, an eine neue Umgebung gewöhnen, vielleicht auch an andere Aufseher. Eine bedeutende Veränderung gibt es: Die Männer, manche noch jung, viele aber auch älter, schlafen und leben schon seit Monaten gemeinsam in großen Sälen, haben keine Privatsphäre, stehen immer unter Beobachtung. Im neuen Lager bekommen sie ganz unerwartet Einzelzimmer. Kurt empfindet dies als eine große Verbesserung - endlich kann er in Ruhe lesen, schreiben, träumen, sich auf den Unterricht vorbereiten.
Hildegard schreibt ihm weiterhin regelmäßig Briefe. Im Mai erzählt sie ihm von ihrem großen Wunsch, ein Studium zu beginnen. Kurt ermutigt sie dazu. Wenn Du weiterhin als Lehrerin arbeiten willst, dann brauchst Du auch irgendwann die theoretischen Grundlagen dafür, schreibt er. Normalerweise studiere man ja erst und gehe dann ins Berufsleben, aber vielleicht sei ihr Weg, der in normalen Zeiten gar nicht möglich gewesen wäre, sogar der sinnvollere. In Briefen vom Mai und Juni 1941 berichtet er ihr ein paar Einzelheiten aus dem Lageralltag. Zum Beispiel, wie die Zeit mit kleinen Hausarbeiten vorbeigeht: Die Männer müssen ihre Zimmer kehren und putzen, versuchen, sie mit Hilfe alter Dosen und Kisten, rostigen Nägeln und Fotos wohnlich zu gestalten, und einmal in der Woche ist großer Wasch- und Flicktag. Dann werden Strümpfe gestopft, Knöpfe angenäht und die gesamte Wäsche in einem großen Kessel herumgerührt, sodass die weiße Wäsche nicht lange weiß bleibt. Kurt nimmt auch weiterhin Unterrichtsstunden in Russisch und seit einiger Zeit in Italienisch - mit weniger Begeisterung als zu Anfang, aber, so schreibt er: Man bringt seine Zeit nutzbringender an, als wenn man gar nichts täte.
Immer wieder beobachtet Kurt neugierig seine Mitgefangenen im Lager und überlegt: Warum kommen manche mit dem Lagerleben besser zurecht als andere? Warum lassen manche sich gehen, warum fallen andere in tiefe Depressionen? Eine klare Antwort findet er nicht, aber eins fällt ihm auf: Offensichtlich fällt es denjenigen, die in jungen Jahren Mitglieder von Jugendgruppen waren, leichter, sich in die Lagergemeinschaft einzuordnen, sie respektieren auch eher die ungeschriebenen Gesetze der Kameradschaft und Freundschaft. Ihm gefällt, dass sich im Lager die meisten Männer vor der Internierung nicht kannten und deshalb gesellschaftliche Unterschiede keine Rolle spielen. Alle nennen sich beim Vornamen und fühlen sich durch ihre Lage und gemeinsame Erfahrungen miteinander verbunden. Am 30. Juni ist es genau ein Jahr her, dass die Männer aus Südafrika an Bord der Arandora Star gegangen sind, die zwei Tage später so dramatisch gesunken ist. Von den wenigen Überlebenden schreibt Kurt: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft.
Nach dem Eintritt Russlands in den Krieg im Juni 1941 wird den Internierten klar, dass sie noch längere Zeit hinter Stacheldraht bleiben werden. Als gefangene Seeleute sind die Männer weiterhin ständig zu knapp an Geld, um sich die notwendigsten Dinge für den Alltag besorgen zu können. Sie sind weder Kriegs- noch Zivilgefangene, haben keinen eindeutigen Status und deshalb auch keine Behörde, keine Organisation, die für sie zuständig ist, auch aus Deutschland und England bekommen sie keine finanzielle Unterstützung mehr. Die einmalige Geldsendung aus Deutschland vor vielen Monaten ist lange aufgebraucht. Die Kameraden helfen sich zwar gegenseitig mit dem, was jeder braucht, aber jetzt sind alle Kassen leer. Nach vielen Wochen kommt wieder ein Brief aus Südafrika, wie meist ist er schon fast drei Monate alt. In seinem Antwortbrief bittet er Hildegard zum ersten Mal um etwas Geld. Da sie ihm immer wieder Hilfe, auch finanzielle Hilfe, angeboten hat, nimmt er diese jetzt notgedrungen in Anspruch. Im Juli wird Kurt Leiter der Lagerschule, und schon bald läuft sogar ein Abiturkurs, zu dem sich vierzig Teilnehmer gemeldet haben und der nach dem Krieg von der Universität Straßburg anerkannt werden wird. Hildegard hat sich immer noch nicht entschieden, ob sie ihre Aushilfsstelle als Lehrerin an der deutschen Schule am Ende des Jahres kündigen soll, um ein Studium zu beginnen. Die Schule braucht sie, die Kinder brauchen sie, sie möchte sie nicht im Stich lassen. Andererseits: Wie lange wird der Krieg noch dauern? In seinem Brief vom 16. Juli versucht Kurt, sie zu beraten:
Liebe Hildegard!
Du hast vor 18 Monaten versprochen, eine Lehrkraft zu ersetzen in dem Glauben, daß der Krieg nicht allzu lange anhalten würde. Heute jedoch kann man immer noch nicht sagen, wie lange noch Krieg sein wird. Deshalb möchte ich Dir raten, Deinen Vorsatz, zu studieren, zu verwirklichen. Du bist es Dir selbst schuldig, den Weg zu gehen, der Dir gemäß und notwendig erscheint.
Im April erhält Kurt überraschend von Hildegard ein Foto. Ganz wichtig ist dieses Bild für ihn, denn es zeigt ihm sinnbildlich, was er im Kopf schon realisiert hat: Sie werden beide älter. Er ist froh über das Foto, denn es hilft ihm, nicht an alten Vorstellungen oder Bildern von Hildegard festzuhalten. Wenn eine Aufnahme Sinn gehabt hat, dann Dein Bild, schreibt er und fährt ehrlich, wenn auch wenig charmant fort: Du hast Dich verändert, oder die Zeit der Trennung hatte in mir allmählich ein anderes Bild hervorgerufen. Du bist viel älter geworden - ich weiß, daß man dies einem Mädchen nicht sagen soll! - und auf dem Bild sehr ernst.
Am 1. April schreibt Werner, der jüngste der Brüder, Kurt einen Brief aus Deutschland. Er ist gerade zu Hause, da er einen Unglücksfall im Gebirge hatte und monatelang im Krankenhaus liegen musste. Am 27. März hat er an den 30. Geburtstag seines ältesten Bruders gedacht. Wir glauben bestimmt, im nächsten Jahr einen gemeinsamen Geburtstag hier bei uns feiern zu können, schreibt er hoffnungsfroh. Er berichtet auch von seinem Bruder Fritz, der gerade seine doppelseitige Lungenentzündung überstanden hat, von seiner so früh verwitweten Schwägerin Elfriede, die wie eine Schwester für die zwei Brüder zu Hause geworden ist, und von seiner Mutter, die in den letzten Jahren viel Leid erfahren hat: den Tod ihres Sohnes und anderer junger Männer im Freundeskreis, die wirtschaftliche Not.
Noch im Mai ziehen die Internierten um in ein anderes Lager, nicht weit von dem alten Standort. Warum sie umziehen, erfährt man aus den Briefen nicht. Der Umzug bringt Abwechslung in den Lageralltag. Man muss packen, durch die Gegend fahren - oder laufen? -, sich neu einrichten, an eine neue Umgebung gewöhnen, vielleicht auch an andere Aufseher. Eine bedeutende Veränderung gibt es: Die Männer, manche noch jung, viele aber auch älter, schlafen und leben schon seit Monaten gemeinsam in großen Sälen, haben keine Privatsphäre, stehen immer unter Beobachtung. Im neuen Lager bekommen sie ganz unerwartet Einzelzimmer. Kurt empfindet dies als eine große Verbesserung - endlich kann er in Ruhe lesen, schreiben, träumen, sich auf den Unterricht vorbereiten.
Hildegard schreibt ihm weiterhin regelmäßig Briefe. Im Mai erzählt sie ihm von ihrem großen Wunsch, ein Studium zu beginnen. Kurt ermutigt sie dazu. Wenn Du weiterhin als Lehrerin arbeiten willst, dann brauchst Du auch irgendwann die theoretischen Grundlagen dafür, schreibt er. Normalerweise studiere man ja erst und gehe dann ins Berufsleben, aber vielleicht sei ihr Weg, der in normalen Zeiten gar nicht möglich gewesen wäre, sogar der sinnvollere. In Briefen vom Mai und Juni 1941 berichtet er ihr ein paar Einzelheiten aus dem Lageralltag. Zum Beispiel, wie die Zeit mit kleinen Hausarbeiten vorbeigeht: Die Männer müssen ihre Zimmer kehren und putzen, versuchen, sie mit Hilfe alter Dosen und Kisten, rostigen Nägeln und Fotos wohnlich zu gestalten, und einmal in der Woche ist großer Wasch- und Flicktag. Dann werden Strümpfe gestopft, Knöpfe angenäht und die gesamte Wäsche in einem großen Kessel herumgerührt, sodass die weiße Wäsche nicht lange weiß bleibt. Kurt nimmt auch weiterhin Unterrichtsstunden in Russisch und seit einiger Zeit in Italienisch - mit weniger Begeisterung als zu Anfang, aber, so schreibt er: Man bringt seine Zeit nutzbringender an, als wenn man gar nichts täte.
Immer wieder beobachtet Kurt neugierig seine Mitgefangenen im Lager und überlegt: Warum kommen manche mit dem Lagerleben besser zurecht als andere? Warum lassen manche sich gehen, warum fallen andere in tiefe Depressionen? Eine klare Antwort findet er nicht, aber eins fällt ihm auf: Offensichtlich fällt es denjenigen, die in jungen Jahren Mitglieder von Jugendgruppen waren, leichter, sich in die Lagergemeinschaft einzuordnen, sie respektieren auch eher die ungeschriebenen Gesetze der Kameradschaft und Freundschaft. Ihm gefällt, dass sich im Lager die meisten Männer vor der Internierung nicht kannten und deshalb gesellschaftliche Unterschiede keine Rolle spielen. Alle nennen sich beim Vornamen und fühlen sich durch ihre Lage und gemeinsame Erfahrungen miteinander verbunden. Am 30. Juni ist es genau ein Jahr her, dass die Männer aus Südafrika an Bord der Arandora Star gegangen sind, die zwei Tage später so dramatisch gesunken ist. Von den wenigen Überlebenden schreibt Kurt: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft.
Nach dem Eintritt Russlands in den Krieg im Juni 1941 wird den Internierten klar, dass sie noch längere Zeit hinter Stacheldraht bleiben werden. Als gefangene Seeleute sind die Männer weiterhin ständig zu knapp an Geld, um sich die notwendigsten Dinge für den Alltag besorgen zu können. Sie sind weder Kriegs- noch Zivilgefangene, haben keinen eindeutigen Status und deshalb auch keine Behörde, keine Organisation, die für sie zuständig ist, auch aus Deutschland und England bekommen sie keine finanzielle Unterstützung mehr. Die einmalige Geldsendung aus Deutschland vor vielen Monaten ist lange aufgebraucht. Die Kameraden helfen sich zwar gegenseitig mit dem, was jeder braucht, aber jetzt sind alle Kassen leer. Nach vielen Wochen kommt wieder ein Brief aus Südafrika, wie meist ist er schon fast drei Monate alt. In seinem Antwortbrief bittet er Hildegard zum ersten Mal um etwas Geld. Da sie ihm immer wieder Hilfe, auch finanzielle Hilfe, angeboten hat, nimmt er diese jetzt notgedrungen in Anspruch. Im Juli wird Kurt Leiter der Lagerschule, und schon bald läuft sogar ein Abiturkurs, zu dem sich vierzig Teilnehmer gemeldet haben und der nach dem Krieg von der Universität Straßburg anerkannt werden wird. Hildegard hat sich immer noch nicht entschieden, ob sie ihre Aushilfsstelle als Lehrerin an der deutschen Schule am Ende des Jahres kündigen soll, um ein Studium zu beginnen. Die Schule braucht sie, die Kinder brauchen sie, sie möchte sie nicht im Stich lassen. Andererseits: Wie lange wird der Krieg noch dauern? In seinem Brief vom 16. Juli versucht Kurt, sie zu beraten:
Liebe Hildegard!
Du hast vor 18 Monaten versprochen, eine Lehrkraft zu ersetzen in dem Glauben, daß der Krieg nicht allzu lange anhalten würde. Heute jedoch kann man immer noch nicht sagen, wie lange noch Krieg sein wird. Deshalb möchte ich Dir raten, Deinen Vorsatz, zu studieren, zu verwirklichen. Du bist es Dir selbst schuldig, den Weg zu gehen, der Dir gemäß und notwendig erscheint.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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