NUR 24 ZEILEN (31. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
DAS ZWEITE LANGE JAHR (Kapitel 10, Teil 3/4)
Anfang August ziehen die Lagerinsassen schon wieder um. Wiederum erfährt man keinen Grund. In dem neuen Lager leben sie nicht mehr mit italienischen Internierten zusammen, dafür haben sie neue Nachbarn: Australiendeutsche, die auch bei Kriegsanfang interniert wurden. Nach ein paar Wochen wird zu diesem Nachbarlager ein Verbindungsweg geschaffen, sodass die Gefangenen sich gegenseitig besuchen können. Sie lernen neue Menschen kennen, erhalten neue Anregungen. In diesem Lager ist es allerdings vorbei mit den Einzelzimmern, und die Männer leben wieder zusammen in großen Sälen. Am 29. August 1941 schreibt Kurt nach Südafrika:
Liebe Hildegard!
Wir sind wieder einmal umgezogen. Das hat eine Woche Abwechslung und Aufregung gegeben. Nun sind wir wieder in großen Hütten in einem geräumigen Lager untergebracht. Nach allen Seiten haben wir eine schöne Aussicht, und da unser neues Lager noch kurz vorher bewohnt gewesen ist, haben wir hier die schönsten Blumenbeete und Steingärten angetroffen. Bei uns kehren die ersten Vorboten des Frühlings ein. In unsere Stube sind heute ein paar Blütenäste des Eukalyptus gekommen und verbreiten einen süßen, starken Duft durch den ganzen Raum, der mich auch an Busch und Heide in Südafrika erinnert. Drei Briefe erhielt ich von zu Hause. Bis Mai war alles wohl.
Zu Hause ist jedoch nicht alles wohl. Während Kurt diesen Brief schreibt, liegt sein jüngster Bruder Werner Tag und Nacht in einem selbst geschaufelten Erdbunker, 300 Meter hinter der russischen Front. Ständig rauschen schwere Granaten über ihn hinweg oder schlagen unmittelbar neben ihm ein. Hitler hat im August ohne Vorwarnung Truppen in das Gebiet der Sowjetunion geschickt, völlig überraschend für die russische Bevölkerung, die an ein Bündnis mit Deutschland geglaubt hatte. Es beginnt einer der folgenschwersten Kriege der deutschen Geschichte, und schon in den ersten Kriegsmonaten werden Tausende deutsche und russische Soldaten getötet und verwundet. Gemeinsam mit seinem Kriegskameraden Manfred Kolb, von dem ein Brief über diese Tage erhalten ist, liegt Werner in bröckeligen Erdlöchern und wartet auf Befehle zum Angriff oder Rückzug. Um sich die Zeit zu vertreiben, führen die jungen Männer lange philosophische Gespräche - über Shakespeares Hamlet, 28. August. Doch auch wenn diese Gespräche sie weit weg in eine Welt der Gedanken und Dichtung führen - es ist Krieg. Und der zerstört auch die „heiligsten Stunden“. Früh am nächsten Morgen findet Manfred Kolb seinen Freund nicht weit von ihrem Erdbunker erschossen auf der Erde.
Im Lager geht das Leben Monat für Monat friedlich seinen Gang. Post zu erhalten gehört zu den Höhepunkten eines Monats. Und immer wieder gibt es Jahrestage: den Tag der Gefangennahme im Oktober 1939 in Freetown, den Tag des Untergangs der Arandora Star, den Tag der Ankunft in Australien. Im September ist das erste Jahr in australischer Gefangenschaft vorbei.
Meine liebe Hildegard!
Das alles erleben wir nun schon zum zweiten Mal - und viele haben es sich letzten Sommer nicht träumen lassen, daß sie auf diesem Kontinent Australien so lange wohnen müssten. Viele von uns hoffen von Woche zu Woche auf ein Kriegsende und werden böse, wenn man ihren Träumen keinen Glauben schenkt. Ich habe jedoch von Anfang an versucht, mich innerlich auf eine längere Internierung einzurichten. Die Freude über eine vorzeitige Rückkehr wäre für mich dann umso größer. Ich habe zu arbeiten, zu lesen und zu lernen. Zu einer Arbeit habe ich mich allerdings noch nicht entschlossen: zur Gartenarbeit. Dazu gehört eine gewisse Beschaulichkeit und Geduld, die ich noch nicht aufbringen konnte.
In diesem Oktobermonat befiehlt Hitler den Angriff auf Moskau. Doch es bricht ein frühzeitiger und extrem kalter Winter herein, der Panzer und Menschen lahmlegt, die Temperaturen sinken bis auf minus 40 Grad. Hitler verbietet den Rückzug, und die deutschen Truppen schaffen es nicht, bis nach Moskau vorzudringen. Zigtausende deutsche und russische Soldaten sterben in diesem Jahr in Russland - ausgerechnet in diesem selben Oktober erlebt Kurt etwas außergewöhnlich Schönes. Wie es der Zufall will, ist der Chor der Wiener Sängerknaben gerade auf einer Auslandsreise in Australien, als der Krieg ausbricht. Was mit den Kindern geschehen ist, erfährt man nicht, doch der Dirigent und der Chorleiter sind sofort interniert worden, und zwar im neuen Nachbarlager von Kurts Kamp. Dort stellen sie sofort einen Männerchor und sogar ein Orchester von dreißig Mann zusammen und dürfen ein Jahr später ein Sinfoniekonzert im Nachbarlager geben. Dieser Abend war das Schönste, was ich seit meiner Internierung erlebt hatte. Sie spielten die 8. Sinfonie von Beethoven und die Sinfonie Nr. 31 von Mozart. Zum ersten Mal vergaß ich, daß ich im Internierungslager saß.
Im Lager, nach über zwei Jahren der Trennung, möchte Kurt über Worte hinaus seine Zuneigung gegenüber seiner Freundin ausdrücken, ihr etwas schenken. Aber was? Kaufen kann er ihr nichts, also muss er etwas selber machen und hat eine Idee. Er lässt sich von einem Lagerkameraden das Knüpfen beibringen, übt wochenlang, und zwar mit Bindfäden, etwas anderes gibt es nicht. Dann bittet er Hildegard, ihm ihr Gürtelmaß mitzuteilen, und ist erstaunt, wie schlank sie ist!
Nachdem Du mir Dein Gürtelmaß so schnell mitteilen konntest, bin ich schnell mit dem Gürtel fertig geworden, schreibt er. Ich hätte ihn länger gemacht und daran kannst Du sehen, wie wenig Erfahrung und Wissen ich auf diesem Gebiet habe! Ich habe den Gürtel genau 28 Zoll gearbeitet mit einer Schnalle, die den Gürtel zusammenhalten soll. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich sowohl mit dem Muster als auch mit der Form nicht die gegenwärtige Mode getroffen hab. Aber im letzten ist es ganz gleich, ob Du den Gürtel wirklich trägst oder nicht; er ist seit langer Zeit die erste und einzige Möglichkeit, Dir etwas zu schenken.
Mitte November schickt er den Gürtel ab. Da er lange keine Bestätigung seines Geschenks bekommt, nimmt er nach einer Weile an, dass er auf dem Grunde des Atlantischen Ozeans von Getier und Gewürm in seine Bestandteile zerlegt worden ist.
Langeweile kommt im Lager weiterhin nicht auf. Die Gefangenen bauen sich einen Tennisplatz, das bedeutet große Erdbewegungen, da das Lager an einen Hügel gelehnt ist. Sie bekommen neuerdings sogar für Arbeiten, die der Verschönerung des Lagers dienen, etwas bezahlt: zwei Pence die Stunde. Damit können sie sich wieder Rasierklingen, Seife und Zigaretten selbst kaufen. Russischunterricht gibt jetzt ein Baltendeutscher, der fließend Russisch spricht. Er ist entsetzt, als er ihre Aussprache hört, da sie sich bisher ihre Russischkenntnisse nur über ein Buch angeeignet haben.
Anfang August ziehen die Lagerinsassen schon wieder um. Wiederum erfährt man keinen Grund. In dem neuen Lager leben sie nicht mehr mit italienischen Internierten zusammen, dafür haben sie neue Nachbarn: Australiendeutsche, die auch bei Kriegsanfang interniert wurden. Nach ein paar Wochen wird zu diesem Nachbarlager ein Verbindungsweg geschaffen, sodass die Gefangenen sich gegenseitig besuchen können. Sie lernen neue Menschen kennen, erhalten neue Anregungen. In diesem Lager ist es allerdings vorbei mit den Einzelzimmern, und die Männer leben wieder zusammen in großen Sälen. Am 29. August 1941 schreibt Kurt nach Südafrika:
Liebe Hildegard!
Wir sind wieder einmal umgezogen. Das hat eine Woche Abwechslung und Aufregung gegeben. Nun sind wir wieder in großen Hütten in einem geräumigen Lager untergebracht. Nach allen Seiten haben wir eine schöne Aussicht, und da unser neues Lager noch kurz vorher bewohnt gewesen ist, haben wir hier die schönsten Blumenbeete und Steingärten angetroffen. Bei uns kehren die ersten Vorboten des Frühlings ein. In unsere Stube sind heute ein paar Blütenäste des Eukalyptus gekommen und verbreiten einen süßen, starken Duft durch den ganzen Raum, der mich auch an Busch und Heide in Südafrika erinnert. Drei Briefe erhielt ich von zu Hause. Bis Mai war alles wohl.
Zu Hause ist jedoch nicht alles wohl. Während Kurt diesen Brief schreibt, liegt sein jüngster Bruder Werner Tag und Nacht in einem selbst geschaufelten Erdbunker, 300 Meter hinter der russischen Front. Ständig rauschen schwere Granaten über ihn hinweg oder schlagen unmittelbar neben ihm ein. Hitler hat im August ohne Vorwarnung Truppen in das Gebiet der Sowjetunion geschickt, völlig überraschend für die russische Bevölkerung, die an ein Bündnis mit Deutschland geglaubt hatte. Es beginnt einer der folgenschwersten Kriege der deutschen Geschichte, und schon in den ersten Kriegsmonaten werden Tausende deutsche und russische Soldaten getötet und verwundet. Gemeinsam mit seinem Kriegskameraden Manfred Kolb, von dem ein Brief über diese Tage erhalten ist, liegt Werner in bröckeligen Erdlöchern und wartet auf Befehle zum Angriff oder Rückzug. Um sich die Zeit zu vertreiben, führen die jungen Männer lange philosophische Gespräche - über Shakespeares Hamlet, 28. August. Doch auch wenn diese Gespräche sie weit weg in eine Welt der Gedanken und Dichtung führen - es ist Krieg. Und der zerstört auch die „heiligsten Stunden“. Früh am nächsten Morgen findet Manfred Kolb seinen Freund nicht weit von ihrem Erdbunker erschossen auf der Erde.
Im Lager geht das Leben Monat für Monat friedlich seinen Gang. Post zu erhalten gehört zu den Höhepunkten eines Monats. Und immer wieder gibt es Jahrestage: den Tag der Gefangennahme im Oktober 1939 in Freetown, den Tag des Untergangs der Arandora Star, den Tag der Ankunft in Australien. Im September ist das erste Jahr in australischer Gefangenschaft vorbei.
Meine liebe Hildegard!
Das alles erleben wir nun schon zum zweiten Mal - und viele haben es sich letzten Sommer nicht träumen lassen, daß sie auf diesem Kontinent Australien so lange wohnen müssten. Viele von uns hoffen von Woche zu Woche auf ein Kriegsende und werden böse, wenn man ihren Träumen keinen Glauben schenkt. Ich habe jedoch von Anfang an versucht, mich innerlich auf eine längere Internierung einzurichten. Die Freude über eine vorzeitige Rückkehr wäre für mich dann umso größer. Ich habe zu arbeiten, zu lesen und zu lernen. Zu einer Arbeit habe ich mich allerdings noch nicht entschlossen: zur Gartenarbeit. Dazu gehört eine gewisse Beschaulichkeit und Geduld, die ich noch nicht aufbringen konnte.
In diesem Oktobermonat befiehlt Hitler den Angriff auf Moskau. Doch es bricht ein frühzeitiger und extrem kalter Winter herein, der Panzer und Menschen lahmlegt, die Temperaturen sinken bis auf minus 40 Grad. Hitler verbietet den Rückzug, und die deutschen Truppen schaffen es nicht, bis nach Moskau vorzudringen. Zigtausende deutsche und russische Soldaten sterben in diesem Jahr in Russland - ausgerechnet in diesem selben Oktober erlebt Kurt etwas außergewöhnlich Schönes. Wie es der Zufall will, ist der Chor der Wiener Sängerknaben gerade auf einer Auslandsreise in Australien, als der Krieg ausbricht. Was mit den Kindern geschehen ist, erfährt man nicht, doch der Dirigent und der Chorleiter sind sofort interniert worden, und zwar im neuen Nachbarlager von Kurts Kamp. Dort stellen sie sofort einen Männerchor und sogar ein Orchester von dreißig Mann zusammen und dürfen ein Jahr später ein Sinfoniekonzert im Nachbarlager geben. Dieser Abend war das Schönste, was ich seit meiner Internierung erlebt hatte. Sie spielten die 8. Sinfonie von Beethoven und die Sinfonie Nr. 31 von Mozart. Zum ersten Mal vergaß ich, daß ich im Internierungslager saß.
Im Lager, nach über zwei Jahren der Trennung, möchte Kurt über Worte hinaus seine Zuneigung gegenüber seiner Freundin ausdrücken, ihr etwas schenken. Aber was? Kaufen kann er ihr nichts, also muss er etwas selber machen und hat eine Idee. Er lässt sich von einem Lagerkameraden das Knüpfen beibringen, übt wochenlang, und zwar mit Bindfäden, etwas anderes gibt es nicht. Dann bittet er Hildegard, ihm ihr Gürtelmaß mitzuteilen, und ist erstaunt, wie schlank sie ist!
Nachdem Du mir Dein Gürtelmaß so schnell mitteilen konntest, bin ich schnell mit dem Gürtel fertig geworden, schreibt er. Ich hätte ihn länger gemacht und daran kannst Du sehen, wie wenig Erfahrung und Wissen ich auf diesem Gebiet habe! Ich habe den Gürtel genau 28 Zoll gearbeitet mit einer Schnalle, die den Gürtel zusammenhalten soll. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich sowohl mit dem Muster als auch mit der Form nicht die gegenwärtige Mode getroffen hab. Aber im letzten ist es ganz gleich, ob Du den Gürtel wirklich trägst oder nicht; er ist seit langer Zeit die erste und einzige Möglichkeit, Dir etwas zu schenken.
Mitte November schickt er den Gürtel ab. Da er lange keine Bestätigung seines Geschenks bekommt, nimmt er nach einer Weile an, dass er auf dem Grunde des Atlantischen Ozeans von Getier und Gewürm in seine Bestandteile zerlegt worden ist.
Langeweile kommt im Lager weiterhin nicht auf. Die Gefangenen bauen sich einen Tennisplatz, das bedeutet große Erdbewegungen, da das Lager an einen Hügel gelehnt ist. Sie bekommen neuerdings sogar für Arbeiten, die der Verschönerung des Lagers dienen, etwas bezahlt: zwei Pence die Stunde. Damit können sie sich wieder Rasierklingen, Seife und Zigaretten selbst kaufen. Russischunterricht gibt jetzt ein Baltendeutscher, der fließend Russisch spricht. Er ist entsetzt, als er ihre Aussprache hört, da sie sich bisher ihre Russischkenntnisse nur über ein Buch angeeignet haben.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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