NUR 24 ZEILEN (4. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
IN DER WÜSTE
Der Zug rattert durch die einsame Landschaft und Kurt wird immer mulmiger zumute. Rechts der Schienen, links der Schienen nichts als weißer Sand, aus dem hier und da ein scharfkantiger Fels ragt. Kein Baum, kein Strauch – nur die Telefonleitung, die sich von Pfahl zu Pfahl neben der Bahnlinie entlangzieht, gibt ihm die Gewissheit, dass hier irgendwo auch Menschen leben. Als sie nur noch wenige Kilometer von der Küste entfernt sind, wird die Landschaft felsiger, die Luft kühler. Ein eisiger Wind fegt den feinen Sand über die Schienen. Anscheinend werden sie regelmäßig freigeschaufelt, denn neben der Strecke liegen Sandhaufen wie kleine Dünen.
Vier Tage ist Kurt jetzt unterwegs, ist quer durch den afrikanischen Kontinent gefahren, von Lourenço Marques am Indischen Ozean, bis er gleich in Lüderitzbucht, einer kleinen Hafenstadt im ehemaligen Südwestafrika, an der rauen Atlantikküste, ankommen wird. Vor fast zehn Jahren hat er überstürzt und heimlich Südafrika verlassen – jetzt fährt er wieder über afrikanische Erde. Und doch, wie anders ist es hier als am lieblichen Kap, wo er damals angekommen war. Am Bahnhof empfängt ihn der Schulleiter der Deutschen Schule, Herbert Nöckler, und bringt ihn zu seinem neuen Zuhause, zum Schülerheim, wie man hier sagt. Dort sind die Kinder von Farmern untergebracht, die weit entfernt im Inland mit Rindern und Karakulschafen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Viele Monate leben die Kinder hier getrennt von ihren Eltern, die jüngsten sind sechs Jahre alt. Kurt bekommt ein Zimmer, mehr nicht, essen muss er mit den Schülern. Aber das Zimmer hat ein Fenster mit Blick auf den Hafen und das Meer. Und er freut sich, dass er wieder unterrichten kann, ein Gehalt bekommt und Kinder um sich hat.
Nachdem Kurt seine wenigen Sachen ausgepackt hat, tritt er ans Fenster und das mulmige Gefühl in seinem Magen verstärkt sich. Zumindest liegt Lüderitz auch am Meer, aber die Küste ist felsig, das Meer wirkt abweisend. Als wäre es schlechter Laune, wirft es seine Wellen donnernd gegen die Klippen, die Gischt spritzt auf und fällt zurück ins sprudelnde Wasser. Die wenigen Fischerboote im Hafen drehen sich willenlos im Wind.
Kurzentschlossen verlässt Kurt sein Zimmer und macht einen Rundgang durch sein neues Zuhause. In den Schlafräumen hört er Kinder reden und lachen, in der Küche stapeln zwei Frauen Geschirr übereinander, im Speisesaal ist noch alles ruhig. Es ist Ostersonntag und auf den Esstischen stehen Vasen mit Weißdornzweigen, an denen bunt bemalte Ostereier hängen. Ostersonntag, denkt er, Tag der Auferstehung, Neuanfang. Gelten diese Symbole noch? So viele Lebenspläne sind zerstört, so viele geliebte Menschen leben nicht mehr, und auch er ist hier ganz allein.
Plötzlich bemerkt er, dass auf einer Fensterbank ein kleiner weißblonder Junge sitzt. Die Arme fest um die Beine geschlungen, starrt er nach draußen. „Na, was machst du denn hier?“ Der Junge rührt sich nicht. Erst als Kurt fast vor ihm steht, dreht er sich um und schaut ihn mit leeren Augen an. Sanft streicht Kurt ihm übers Haar. Beiden, dem erwachsenen Mann und dem verlassenen Kind, steigen Tränen in die Augen.
Zwei Tage später geht Kurt in die Stadt, eigentlich ist Lüderitz nur ein Dorf mit wenigen Geschäften, die meisten im deutschen Kolonialstil erbaut. Der Südwestwind weht ohne Pause und rüttelt an allem, was nicht festgezurrt ist, verweht die Spuren der Autos und Menschen auf den sandigen Straßen, reibt den Putz von den Mauern, die Farbe von den Dächern, gibt der Stadt ein unbewohntes Aussehen. Und auch im Dorf: kein Gras, keine Blume, kein Baum, geschweige denn ein Park! Das Wasser ist teuer, hat ihn Nöckler informiert, denn die Stadt muss es aus dem Meerwasser kondensieren.
In der einzigen Buchhandlung des Dorfs gibt es nur wenige Bücher, und der Inhaber zeigt ihm ein paar Bilder, die zum Verkauf stehen. „Diese Zeichnung ist ein besonderes Stück“, sagt er und hält ein Bild hoch, „eine Originalradierung des bekannten Südwester Künstlers Johannes Blatt.“ Kurt sieht nur trockene Gräser und Büsche, in der Mitte einen Weißdorn mit schwarzem Stamm und einem Gewirr kahler Äste und Zweige. Erst als er seine Brille hochschiebt und das Bild selbst in die Hand nimmt, entdeckt er leuchtend grüne Tupfer, winzige Blätter zwischen den weißen Dornen.
Er kauft das Bild, legt es, zurück in seinem Zimmer, auf seinen Schreibtisch. In all der Härte des Lebens blüht immer wieder Hoffnung auf, scheint es ihm sagen zu wollen, auch hier, in diesem trockenen Land. Hoffnung: dieses Unkraut, das nicht vergeht. Die letzte Stütze menschlicher Planung in all den langen Jahren. Diese Hoffnung braucht er jetzt nötiger denn je zuvor.
Der Zug rattert durch die einsame Landschaft und Kurt wird immer mulmiger zumute. Rechts der Schienen, links der Schienen nichts als weißer Sand, aus dem hier und da ein scharfkantiger Fels ragt. Kein Baum, kein Strauch – nur die Telefonleitung, die sich von Pfahl zu Pfahl neben der Bahnlinie entlangzieht, gibt ihm die Gewissheit, dass hier irgendwo auch Menschen leben. Als sie nur noch wenige Kilometer von der Küste entfernt sind, wird die Landschaft felsiger, die Luft kühler. Ein eisiger Wind fegt den feinen Sand über die Schienen. Anscheinend werden sie regelmäßig freigeschaufelt, denn neben der Strecke liegen Sandhaufen wie kleine Dünen.
Vier Tage ist Kurt jetzt unterwegs, ist quer durch den afrikanischen Kontinent gefahren, von Lourenço Marques am Indischen Ozean, bis er gleich in Lüderitzbucht, einer kleinen Hafenstadt im ehemaligen Südwestafrika, an der rauen Atlantikküste, ankommen wird. Vor fast zehn Jahren hat er überstürzt und heimlich Südafrika verlassen – jetzt fährt er wieder über afrikanische Erde. Und doch, wie anders ist es hier als am lieblichen Kap, wo er damals angekommen war. Am Bahnhof empfängt ihn der Schulleiter der Deutschen Schule, Herbert Nöckler, und bringt ihn zu seinem neuen Zuhause, zum Schülerheim, wie man hier sagt. Dort sind die Kinder von Farmern untergebracht, die weit entfernt im Inland mit Rindern und Karakulschafen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Viele Monate leben die Kinder hier getrennt von ihren Eltern, die jüngsten sind sechs Jahre alt. Kurt bekommt ein Zimmer, mehr nicht, essen muss er mit den Schülern. Aber das Zimmer hat ein Fenster mit Blick auf den Hafen und das Meer. Und er freut sich, dass er wieder unterrichten kann, ein Gehalt bekommt und Kinder um sich hat.
Nachdem Kurt seine wenigen Sachen ausgepackt hat, tritt er ans Fenster und das mulmige Gefühl in seinem Magen verstärkt sich. Zumindest liegt Lüderitz auch am Meer, aber die Küste ist felsig, das Meer wirkt abweisend. Als wäre es schlechter Laune, wirft es seine Wellen donnernd gegen die Klippen, die Gischt spritzt auf und fällt zurück ins sprudelnde Wasser. Die wenigen Fischerboote im Hafen drehen sich willenlos im Wind.
Kurzentschlossen verlässt Kurt sein Zimmer und macht einen Rundgang durch sein neues Zuhause. In den Schlafräumen hört er Kinder reden und lachen, in der Küche stapeln zwei Frauen Geschirr übereinander, im Speisesaal ist noch alles ruhig. Es ist Ostersonntag und auf den Esstischen stehen Vasen mit Weißdornzweigen, an denen bunt bemalte Ostereier hängen. Ostersonntag, denkt er, Tag der Auferstehung, Neuanfang. Gelten diese Symbole noch? So viele Lebenspläne sind zerstört, so viele geliebte Menschen leben nicht mehr, und auch er ist hier ganz allein.
Plötzlich bemerkt er, dass auf einer Fensterbank ein kleiner weißblonder Junge sitzt. Die Arme fest um die Beine geschlungen, starrt er nach draußen. „Na, was machst du denn hier?“ Der Junge rührt sich nicht. Erst als Kurt fast vor ihm steht, dreht er sich um und schaut ihn mit leeren Augen an. Sanft streicht Kurt ihm übers Haar. Beiden, dem erwachsenen Mann und dem verlassenen Kind, steigen Tränen in die Augen.
Zwei Tage später geht Kurt in die Stadt, eigentlich ist Lüderitz nur ein Dorf mit wenigen Geschäften, die meisten im deutschen Kolonialstil erbaut. Der Südwestwind weht ohne Pause und rüttelt an allem, was nicht festgezurrt ist, verweht die Spuren der Autos und Menschen auf den sandigen Straßen, reibt den Putz von den Mauern, die Farbe von den Dächern, gibt der Stadt ein unbewohntes Aussehen. Und auch im Dorf: kein Gras, keine Blume, kein Baum, geschweige denn ein Park! Das Wasser ist teuer, hat ihn Nöckler informiert, denn die Stadt muss es aus dem Meerwasser kondensieren.
In der einzigen Buchhandlung des Dorfs gibt es nur wenige Bücher, und der Inhaber zeigt ihm ein paar Bilder, die zum Verkauf stehen. „Diese Zeichnung ist ein besonderes Stück“, sagt er und hält ein Bild hoch, „eine Originalradierung des bekannten Südwester Künstlers Johannes Blatt.“ Kurt sieht nur trockene Gräser und Büsche, in der Mitte einen Weißdorn mit schwarzem Stamm und einem Gewirr kahler Äste und Zweige. Erst als er seine Brille hochschiebt und das Bild selbst in die Hand nimmt, entdeckt er leuchtend grüne Tupfer, winzige Blätter zwischen den weißen Dornen.
Er kauft das Bild, legt es, zurück in seinem Zimmer, auf seinen Schreibtisch. In all der Härte des Lebens blüht immer wieder Hoffnung auf, scheint es ihm sagen zu wollen, auch hier, in diesem trockenen Land. Hoffnung: dieses Unkraut, das nicht vergeht. Die letzte Stütze menschlicher Planung in all den langen Jahren. Diese Hoffnung braucht er jetzt nötiger denn je zuvor.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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