NUR 24 ZEILEN (47. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
IN EINER FREMDEN WELT (Kapitel 15, Teil 3/6)
Schon am 31. Dezember 1946 schreibt Hildegard einen weiteren Brief.
Mein lieber Kurt!
Es ist der letzte Tag des Jahres, und wie anders ist dieses doch für Dich, nicht mehr ist da der Stacheldraht, ein neues Leben und eine neue Zukunft tun sich vor Dir auf, und meine besten und innigsten Wünsche gehen zu Dir. Sieben Jahre waren eine lange Zeit!
Heute hatte ich Zeit und Muße nachzudenken und vieles fiel mir wieder ein von der Zeit vor September 1939. Es war auf einmal, als seien die Jahre dazwischen nie gewesen, oder jedenfalls nicht so lang. Ich sah, wie wir zusammen lachten, ich erinnerte mich an Gespräche, die wir geführt haben. Und dann kam der Krieg. Die Ereignisse folgten so schnell aufeinander, daß ich kein klares Bild mehr habe. Ich erinnere mich jedoch noch deutlich an die ersten Wochen danach – Wochen des Wartens und Hoffens und dann das sich einschleichende Gefühl einer großen Hoffnungslosigkeit und Leere und des Alleinseins. Als ich dann anfing zu unterrichten und zu studieren, ging die Zeit schnell vorüber, vieles fiel in Vergessenheit – teils unbewußt, teils aber auch bewußt. Und es war besser so.
Ich kann Dir mitteilen, daß die Möglichkeit, daß Du hierher kommen kannst, gut ist. Erledige nur die Formulare, die Du erhalten wirst, recht bald, und setze Dich getrost schon mit der südafrikanischen Gesandtschaft in Verbindung. Als Adresse für eine Unterkunft kannst Du selbstverständlich unsere angeben.
In Hildegards Familie hat es wenige Wochen zuvor, am 18. Dezember, einen Einschnitt gegeben. Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, ist gestorben. Dreiundachtzig Jahre alt ist sie geworden. Hildegard hatte Kurt, als er noch in Südafrika war, von ihr erzählt, und er hatte sie auch einmal getroffen, als sie zu Besuch in Kapstadt gewesen war, ansonsten lebte sie auf ihrer Farm in Natal. Sie war eine resolute und zugleich verträumte Frau, die sich schwertat mit ihrem Leben in Afrika. Hildegard hatte ihm mal ihr „Kochbuch“ gezeigt, das die Großmutter immer mit sich geführt hatte, da es eher ein Tagebuch war. Es standen nur wenige Rezepte darin, dafür umso mehr Gedichte, einige von ihr selbst verfasst – Verse über die afrikanische Landschaft um sie herum, über den Tugela-Fluss, über Wasserfälle und Berge, Wassernixen und Wichtel. Aber sie klingen eher wie Gedichte über ihre schlesische Heimat und erinnern an die Wandbemalungen in ihrem Elternhaus –dort hatte ihr Vater Motive aus dem Riesengebirge malen lassen, von Bächen und Fichtenwäldern, von Rübezahl, Zwergen und weißen Hirschen.
Kurt kennt die Geschichte dieser Großmutter, Hildegard hat sie ihm damals erzählt. Und er erinnert sich daran, warum sie nach Afrika ausgewandert war. Auswandern musste. Denn sie hatte ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Wenn er bedenkt, dass ihre Familie politische Verfolgung und Vertreibung überlebt und sich mühsam über viele Jahrzehnte eine neue Heimat in Deutschland geschaffen hatte, kann er die erzwungene Auswanderung der jungen Else schwer verstehen. Ihre Vorfahren waren Hugenotten aus Frankreich gewesen, die seit dem 16. Jahrhundert aufgrund ihres protestantischen Glaubens grausam verfolgt worden waren. Im 17. Jahrhundert flohen allein 50000 Hugenotten, darunter Hildegards Vorfahren, nach Deutschland, unter anderem nach Brandenburg. Dort wurde ihr Urahn ein prominenter Vertreter der vertriebenen Franzosen.
Zweihundert Jahre später war Großmutter Elses Vater, Baron Ulrich Le Tanneux von St. Paul, Hofmarschall am kaiserlichen Hof in Berlin und viele Jahre Korvettenkapitän in der ersten Deutschen Kriegsmarine. In dieser Zeit lernte er die afrikanischen Kolonien kennen und wird zu Hause viel von Afrika erzählt haben. Später ließ sich die Familie von St. Paul in dem schlesischen Ort Fischbach nieder, wo der Vater ein prächtiges Herrenhaus bauen ließ und einen botanischen Garten mit exotischen Pflanzen anlegte. Dort wuchs Else auf, ritt gern aus und schrieb schon damals Gedichte und Geschichten. Durch ihre Liebe zu den Pferden kam sie in Kontakt mit dem Stallmeister Hermann Mereis, der auf dem Landgut der Familie von St. Paul für die Pferdeställe zuständig war. Vielleicht auf gemeinsamen Ausflügen, vielleicht beim Striegeln der Pferde im Stall lernten die beiden sich näher kennen, verliebten sich ineinander und waren fest entschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Wie erwartet, stießen sie auf den erbitterten Widerstand des Vaters. Einer Ehe seiner Tochter mit einem Nichtadeligen wollte er auf keinen Fall zustimmen. Irgendwie schaffte es Else jedoch, ihren Vater umzustimmen. Sie durfte unter ihrem Stand heiraten, doch unter einer unfasslich harten Bedingung: Sie musste aus dem Blickfeld ihrer Familie verschwinden und ihre Heimat für mindestens zehn Jahre verlassen. Diese Vorgabe war für Else ein harter Schlag, denn sie liebte ihr Zuhause und ihr Leben im schönen Schlesien. Doch die Liebe zu ihrem Mann war größer. Ihre Wahl fiel auf das ferne Südafrika als neue Heimat, und im Jahr 1893 wanderten sie dorthin aus.
In Natal, in der Nähe des Dorfes Wartburg, kauften sie eine kleine Farm und nannten sie Illaire nach der deutschfranzösischen Urgroßmutter. Der verschmähte Hermann Mereis kehrte nie wieder nach Deutschland zurück und wurde ein erfolgreicher südafrikanischer Farmer. Die Großmutter hielt jedoch die Beziehung zu Deutschland aufrecht, schickte ihre drei Söhne, der älteste wird Hildegards Vater, in Deutschland auf die Schule und schwärmte ihr Leben lang von ihrer schönen deutschen Heimat, die sie wegen der Liebe verlassen musste.
Diese Großmutter hatte einen großen Einfluss auf Hildegard, eigentlich auf die ganze Familie Mereis. Sie war die Gründerin ihrer afrikanischen Familie, aber auch jene Frau, die ihr Leben lang den inneren Bezug zu Deutschland lebendig hielt, ihre in Afrika geborenen Kinder und Enkelkinder emotional an Deutschland band. Für sie war Afrika Exil und nie Heimat.
Mit dem Tod dieser Großmutter geht eine Ära zu Ende, schreibt Hildegard. Alles Deutsche in der Familie Mereis ist jetzt nur noch Kultur aus zweiter Hand. Sie war die letzte unserer Familie, die noch direkte Verbindung mit Deutschland hatte. Ihr Tod ist mehr als nur ihr Hinscheiden – mit ihr geht eine Welt verloren und nun müssen wir eine neue aufbauen.
Schon am 31. Dezember 1946 schreibt Hildegard einen weiteren Brief.
Mein lieber Kurt!
Es ist der letzte Tag des Jahres, und wie anders ist dieses doch für Dich, nicht mehr ist da der Stacheldraht, ein neues Leben und eine neue Zukunft tun sich vor Dir auf, und meine besten und innigsten Wünsche gehen zu Dir. Sieben Jahre waren eine lange Zeit!
Heute hatte ich Zeit und Muße nachzudenken und vieles fiel mir wieder ein von der Zeit vor September 1939. Es war auf einmal, als seien die Jahre dazwischen nie gewesen, oder jedenfalls nicht so lang. Ich sah, wie wir zusammen lachten, ich erinnerte mich an Gespräche, die wir geführt haben. Und dann kam der Krieg. Die Ereignisse folgten so schnell aufeinander, daß ich kein klares Bild mehr habe. Ich erinnere mich jedoch noch deutlich an die ersten Wochen danach – Wochen des Wartens und Hoffens und dann das sich einschleichende Gefühl einer großen Hoffnungslosigkeit und Leere und des Alleinseins. Als ich dann anfing zu unterrichten und zu studieren, ging die Zeit schnell vorüber, vieles fiel in Vergessenheit – teils unbewußt, teils aber auch bewußt. Und es war besser so.
Ich kann Dir mitteilen, daß die Möglichkeit, daß Du hierher kommen kannst, gut ist. Erledige nur die Formulare, die Du erhalten wirst, recht bald, und setze Dich getrost schon mit der südafrikanischen Gesandtschaft in Verbindung. Als Adresse für eine Unterkunft kannst Du selbstverständlich unsere angeben.
In Hildegards Familie hat es wenige Wochen zuvor, am 18. Dezember, einen Einschnitt gegeben. Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, ist gestorben. Dreiundachtzig Jahre alt ist sie geworden. Hildegard hatte Kurt, als er noch in Südafrika war, von ihr erzählt, und er hatte sie auch einmal getroffen, als sie zu Besuch in Kapstadt gewesen war, ansonsten lebte sie auf ihrer Farm in Natal. Sie war eine resolute und zugleich verträumte Frau, die sich schwertat mit ihrem Leben in Afrika. Hildegard hatte ihm mal ihr „Kochbuch“ gezeigt, das die Großmutter immer mit sich geführt hatte, da es eher ein Tagebuch war. Es standen nur wenige Rezepte darin, dafür umso mehr Gedichte, einige von ihr selbst verfasst – Verse über die afrikanische Landschaft um sie herum, über den Tugela-Fluss, über Wasserfälle und Berge, Wassernixen und Wichtel. Aber sie klingen eher wie Gedichte über ihre schlesische Heimat und erinnern an die Wandbemalungen in ihrem Elternhaus –dort hatte ihr Vater Motive aus dem Riesengebirge malen lassen, von Bächen und Fichtenwäldern, von Rübezahl, Zwergen und weißen Hirschen.
Kurt kennt die Geschichte dieser Großmutter, Hildegard hat sie ihm damals erzählt. Und er erinnert sich daran, warum sie nach Afrika ausgewandert war. Auswandern musste. Denn sie hatte ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Wenn er bedenkt, dass ihre Familie politische Verfolgung und Vertreibung überlebt und sich mühsam über viele Jahrzehnte eine neue Heimat in Deutschland geschaffen hatte, kann er die erzwungene Auswanderung der jungen Else schwer verstehen. Ihre Vorfahren waren Hugenotten aus Frankreich gewesen, die seit dem 16. Jahrhundert aufgrund ihres protestantischen Glaubens grausam verfolgt worden waren. Im 17. Jahrhundert flohen allein 50000 Hugenotten, darunter Hildegards Vorfahren, nach Deutschland, unter anderem nach Brandenburg. Dort wurde ihr Urahn ein prominenter Vertreter der vertriebenen Franzosen.
Zweihundert Jahre später war Großmutter Elses Vater, Baron Ulrich Le Tanneux von St. Paul, Hofmarschall am kaiserlichen Hof in Berlin und viele Jahre Korvettenkapitän in der ersten Deutschen Kriegsmarine. In dieser Zeit lernte er die afrikanischen Kolonien kennen und wird zu Hause viel von Afrika erzählt haben. Später ließ sich die Familie von St. Paul in dem schlesischen Ort Fischbach nieder, wo der Vater ein prächtiges Herrenhaus bauen ließ und einen botanischen Garten mit exotischen Pflanzen anlegte. Dort wuchs Else auf, ritt gern aus und schrieb schon damals Gedichte und Geschichten. Durch ihre Liebe zu den Pferden kam sie in Kontakt mit dem Stallmeister Hermann Mereis, der auf dem Landgut der Familie von St. Paul für die Pferdeställe zuständig war. Vielleicht auf gemeinsamen Ausflügen, vielleicht beim Striegeln der Pferde im Stall lernten die beiden sich näher kennen, verliebten sich ineinander und waren fest entschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Wie erwartet, stießen sie auf den erbitterten Widerstand des Vaters. Einer Ehe seiner Tochter mit einem Nichtadeligen wollte er auf keinen Fall zustimmen. Irgendwie schaffte es Else jedoch, ihren Vater umzustimmen. Sie durfte unter ihrem Stand heiraten, doch unter einer unfasslich harten Bedingung: Sie musste aus dem Blickfeld ihrer Familie verschwinden und ihre Heimat für mindestens zehn Jahre verlassen. Diese Vorgabe war für Else ein harter Schlag, denn sie liebte ihr Zuhause und ihr Leben im schönen Schlesien. Doch die Liebe zu ihrem Mann war größer. Ihre Wahl fiel auf das ferne Südafrika als neue Heimat, und im Jahr 1893 wanderten sie dorthin aus.
In Natal, in der Nähe des Dorfes Wartburg, kauften sie eine kleine Farm und nannten sie Illaire nach der deutschfranzösischen Urgroßmutter. Der verschmähte Hermann Mereis kehrte nie wieder nach Deutschland zurück und wurde ein erfolgreicher südafrikanischer Farmer. Die Großmutter hielt jedoch die Beziehung zu Deutschland aufrecht, schickte ihre drei Söhne, der älteste wird Hildegards Vater, in Deutschland auf die Schule und schwärmte ihr Leben lang von ihrer schönen deutschen Heimat, die sie wegen der Liebe verlassen musste.
Diese Großmutter hatte einen großen Einfluss auf Hildegard, eigentlich auf die ganze Familie Mereis. Sie war die Gründerin ihrer afrikanischen Familie, aber auch jene Frau, die ihr Leben lang den inneren Bezug zu Deutschland lebendig hielt, ihre in Afrika geborenen Kinder und Enkelkinder emotional an Deutschland band. Für sie war Afrika Exil und nie Heimat.
Mit dem Tod dieser Großmutter geht eine Ära zu Ende, schreibt Hildegard. Alles Deutsche in der Familie Mereis ist jetzt nur noch Kultur aus zweiter Hand. Sie war die letzte unserer Familie, die noch direkte Verbindung mit Deutschland hatte. Ihr Tod ist mehr als nur ihr Hinscheiden – mit ihr geht eine Welt verloren und nun müssen wir eine neue aufbauen.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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