NUR 24 ZEILEN (59. Folge)
Eine wahre Geschichte über den Krieg, die Liebe und den langen Weg zurück nach Afrika
DANN STAND SIE VOR MIR (Kapitel 18, Teil 1/2)
Kurt sucht weiterhin verzweifelt nach einem Schiff, das ihn nach Südafrika bringt. Das Geld für die Passage hat er zusammengespart, jeden Kollegen, jeden Freund, jeden Bekannten bittet er um Hilfe auf der Suche nach einem Dampfer in Richtung südliches Afrika. Im März bekommt er endlich einen Platz auf einem indischen Schiff. Die Pemba fährt bis nach Mosambik.
Am 22. März 1949 verlässt Kurt für immer den Kontinent Australien. Fast neun Jahre hat er dort gelebt. Sieben davon hinter Stacheldraht. Die Schiffsreise dauert gute zwei Wochen. Nach siebzehn Tagen ankert die Pemba vor Lourenço Marques, der Stadt, die er im November 1939 mit so viel Hoffnung als Kohlentrimmer auf der Uhenfels verlassen hat. Sie hat sich wenig verändert, aber er schaut sich nicht lange um, steigt sofort in den nächsten Zug Richtung Westen.
Vier Tage ist Kurt unterwegs, dann erreicht er endlich Lüderitzbucht, die kleine Hafenstadt im ehemaligen Südwestafrika, an der rauen Atlantikküste. Mit einem mulmigen Gefühl, voller Zweifel und Fragen.
Er schaut sich die Schule an, seinen neuen Arbeitsplatz, schlendert durch die Gänge des Internats, wo er in einem kleinen Zimmer untergebracht ist, blickt in die traurigen Augen des kleinen Jungen, der schon mit sechs Jahren weit von zu Hause zur Schule gehen muss, schaut aus dem Fenster auf das graue Meer, läuft durch das Städtchen am Rand der Namibwüste ohne Bäume und Blumen, ohne jegliches Grün – und hat nur diesen einen Gedanken: Wie soll ich Hildegard bloß an diesen Ort locken? In diese graue Stadt? Sie, die in der schönsten Stadt Afrikas arbeitet und jedes Wochenende bei ihren Eltern auf der grünen Farm am Helderberg verbringt? Wie oft hat sie in ihren Briefen von den farbenfrohen Blumenständen in der Adderley Street geschrieben, von den üppigen Mandel- und Pfirsichbäumen auf der Farm! Von ihren Wanderungen auf den Tafelberg, von wo aus sie den Kapstädter Hafen mit seinen stolzen Fracht- und Passagierschiffen sehen konnte!
Am Abend spricht Kurt mit einem Lehrer, einem zukünftigen Kollegen. Acht Jahre hat dieser seine Frau und seine zehn- und elfjährigen Söhne nicht gesehen, jetzt ist er zurückgekehrt.
„Ich habe meine Kinder nicht erkannt“, sagt er. „Meine Familie ist mir völlig fremd geworden. Aber mit gutem Willen auf beiden Seiten bauen wir langsam wieder etwas auf.“
„Und Ihre Briefe? Haben die geholfen?“
„Ja. Aber nach dem sechsten Jahr war die Entfremdung endgültig. Ich habe brieflich nichts mehr erreichen können, und Briefe können auch leicht zu Missverständnissen führen. Eine halbe Stunde Aussprache, das ist meine Erfahrung, ersetzt alles Geschriebene. Wissen Sie, Herr Falk, auch wenn sich zwei Menschen innig lieben – eine Trennung von mehr als sechs Jahren kann man kaum durchhalten.“
Als er wieder in seinem Zimmer ist, holt Kurt das Bild aus der Schublade, das er vor ein paar Tagen in der Buchhandlung gekauft hat, schiebt seine Brille auf die Stirn und sucht die kleinen grünen Tupfer zwischen den vertrockneten Zweigen des Weißdorns. Zumindest bin ich jetzt wieder in Afrika, denkt er. Endlich liegt kein Ozean mehr zwischen uns. Nur diese entsetzlich langen Jahre. Und die Briefe, die oft monatelang unterwegs waren, bis sie dann gar nicht mehr kamen. Anderthalb Jahre hat er nichts mehr von ihr gehört. Gibt es tatsächlich noch Hoffnung? Nach so langer Zeit?
Aber bevor er aufgibt, muss er sie noch einmal sehen! Wenigstens ein einziges Mal! Dafür ist er noch einmal um die halbe Welt gereist. Und es gibt nur eine Möglichkeit: Er muss noch einmal von Lüderitz nach Kapstadt fahren, noch einmal 1.200 Meilen mit dem Zug. Und zwar so bald wie möglich, denn die Zeit wird knapp. Er hat nicht nur erfahren, dass Hildegard im Juni mit ihrem afrikaansen Freund eine Fahrt nach Durban machen will, sondern dass sie sich inzwischen sogar mit ihm verlobt hat! Unruhig läuft er in seinem Zimmer hin und her, tritt immer wieder ans Fenster, schaut auf den weiten Atlantischen Ozean, der sich bis zum Kap der Guten Hoffnung erstreckt. Er könnte frühestens fahren, wenn die Ferien beginnen, am 18. Juni. Drei Tage würde die Bahnfahrt dauern. Aber würde sie dann noch da sein?
Mit schnellen Schritten verlässt er sein Zimmer, geht den langen Gang entlang zum Büro des Schülerheims, die Tür steht offen, zum Glück ist es leer, auf einem hohen Hocker steht das schwarze Telefon. Er dreht die kleine Kurbel, hebt den Hörer von der Gabel, eine weibliche Stimme vom Postamt meldet sich. Als er Hildegards Telefonnummer durchgibt, rast sein Herz. Der erste Anruf nach fast zehn Jahren.
Als das Telefon in Hildegards Zimmer klingelt, ist sie völlig ahnungslos. Wie oft hat sie zuvor, wenn es läutete, vermutet, gehofft, irgendwann vielleicht sogar gefürchtet, dass Kurt in der Leitung sein könnte. Aber an diesem Tag denkt sie an nichts. Es war auch gut so, schreibt sie später, denn wenn ich es gewußt hätte, weiß ich nicht, ob ich ans Telefon gegangen wäre ... Sie hört seinen Namen, seine Stimme, kriegt mit, dass er an einem Donnerstag ankommen wird. Und ob sie ihn am Bahnhof abholen könne. An mehr erinnert sie sich nicht.
Kurt sucht weiterhin verzweifelt nach einem Schiff, das ihn nach Südafrika bringt. Das Geld für die Passage hat er zusammengespart, jeden Kollegen, jeden Freund, jeden Bekannten bittet er um Hilfe auf der Suche nach einem Dampfer in Richtung südliches Afrika. Im März bekommt er endlich einen Platz auf einem indischen Schiff. Die Pemba fährt bis nach Mosambik.
Am 22. März 1949 verlässt Kurt für immer den Kontinent Australien. Fast neun Jahre hat er dort gelebt. Sieben davon hinter Stacheldraht. Die Schiffsreise dauert gute zwei Wochen. Nach siebzehn Tagen ankert die Pemba vor Lourenço Marques, der Stadt, die er im November 1939 mit so viel Hoffnung als Kohlentrimmer auf der Uhenfels verlassen hat. Sie hat sich wenig verändert, aber er schaut sich nicht lange um, steigt sofort in den nächsten Zug Richtung Westen.
Vier Tage ist Kurt unterwegs, dann erreicht er endlich Lüderitzbucht, die kleine Hafenstadt im ehemaligen Südwestafrika, an der rauen Atlantikküste. Mit einem mulmigen Gefühl, voller Zweifel und Fragen.
Er schaut sich die Schule an, seinen neuen Arbeitsplatz, schlendert durch die Gänge des Internats, wo er in einem kleinen Zimmer untergebracht ist, blickt in die traurigen Augen des kleinen Jungen, der schon mit sechs Jahren weit von zu Hause zur Schule gehen muss, schaut aus dem Fenster auf das graue Meer, läuft durch das Städtchen am Rand der Namibwüste ohne Bäume und Blumen, ohne jegliches Grün – und hat nur diesen einen Gedanken: Wie soll ich Hildegard bloß an diesen Ort locken? In diese graue Stadt? Sie, die in der schönsten Stadt Afrikas arbeitet und jedes Wochenende bei ihren Eltern auf der grünen Farm am Helderberg verbringt? Wie oft hat sie in ihren Briefen von den farbenfrohen Blumenständen in der Adderley Street geschrieben, von den üppigen Mandel- und Pfirsichbäumen auf der Farm! Von ihren Wanderungen auf den Tafelberg, von wo aus sie den Kapstädter Hafen mit seinen stolzen Fracht- und Passagierschiffen sehen konnte!
Am Abend spricht Kurt mit einem Lehrer, einem zukünftigen Kollegen. Acht Jahre hat dieser seine Frau und seine zehn- und elfjährigen Söhne nicht gesehen, jetzt ist er zurückgekehrt.
„Ich habe meine Kinder nicht erkannt“, sagt er. „Meine Familie ist mir völlig fremd geworden. Aber mit gutem Willen auf beiden Seiten bauen wir langsam wieder etwas auf.“
„Und Ihre Briefe? Haben die geholfen?“
„Ja. Aber nach dem sechsten Jahr war die Entfremdung endgültig. Ich habe brieflich nichts mehr erreichen können, und Briefe können auch leicht zu Missverständnissen führen. Eine halbe Stunde Aussprache, das ist meine Erfahrung, ersetzt alles Geschriebene. Wissen Sie, Herr Falk, auch wenn sich zwei Menschen innig lieben – eine Trennung von mehr als sechs Jahren kann man kaum durchhalten.“
Als er wieder in seinem Zimmer ist, holt Kurt das Bild aus der Schublade, das er vor ein paar Tagen in der Buchhandlung gekauft hat, schiebt seine Brille auf die Stirn und sucht die kleinen grünen Tupfer zwischen den vertrockneten Zweigen des Weißdorns. Zumindest bin ich jetzt wieder in Afrika, denkt er. Endlich liegt kein Ozean mehr zwischen uns. Nur diese entsetzlich langen Jahre. Und die Briefe, die oft monatelang unterwegs waren, bis sie dann gar nicht mehr kamen. Anderthalb Jahre hat er nichts mehr von ihr gehört. Gibt es tatsächlich noch Hoffnung? Nach so langer Zeit?
Aber bevor er aufgibt, muss er sie noch einmal sehen! Wenigstens ein einziges Mal! Dafür ist er noch einmal um die halbe Welt gereist. Und es gibt nur eine Möglichkeit: Er muss noch einmal von Lüderitz nach Kapstadt fahren, noch einmal 1.200 Meilen mit dem Zug. Und zwar so bald wie möglich, denn die Zeit wird knapp. Er hat nicht nur erfahren, dass Hildegard im Juni mit ihrem afrikaansen Freund eine Fahrt nach Durban machen will, sondern dass sie sich inzwischen sogar mit ihm verlobt hat! Unruhig läuft er in seinem Zimmer hin und her, tritt immer wieder ans Fenster, schaut auf den weiten Atlantischen Ozean, der sich bis zum Kap der Guten Hoffnung erstreckt. Er könnte frühestens fahren, wenn die Ferien beginnen, am 18. Juni. Drei Tage würde die Bahnfahrt dauern. Aber würde sie dann noch da sein?
Mit schnellen Schritten verlässt er sein Zimmer, geht den langen Gang entlang zum Büro des Schülerheims, die Tür steht offen, zum Glück ist es leer, auf einem hohen Hocker steht das schwarze Telefon. Er dreht die kleine Kurbel, hebt den Hörer von der Gabel, eine weibliche Stimme vom Postamt meldet sich. Als er Hildegards Telefonnummer durchgibt, rast sein Herz. Der erste Anruf nach fast zehn Jahren.
Als das Telefon in Hildegards Zimmer klingelt, ist sie völlig ahnungslos. Wie oft hat sie zuvor, wenn es läutete, vermutet, gehofft, irgendwann vielleicht sogar gefürchtet, dass Kurt in der Leitung sein könnte. Aber an diesem Tag denkt sie an nichts. Es war auch gut so, schreibt sie später, denn wenn ich es gewußt hätte, weiß ich nicht, ob ich ans Telefon gegangen wäre ... Sie hört seinen Namen, seine Stimme, kriegt mit, dass er an einem Donnerstag ankommen wird. Und ob sie ihn am Bahnhof abholen könne. An mehr erinnert sie sich nicht.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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