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Standpunkt: Eurokrise - ein finanzieller Tsunami im Anmarsch

Was ist passiert, wie ist es dazu gekommen? Ursprünglich, also bevor der Euro in Europa eingeführt wurde, hatte jedes Land seine eigene Zentralbank und jedes Land hat seine eigenen Staatsanleihen von Mal zu Mal an Investoren und Banken verkauft, um seine Schulden zu finanzieren. Unter den Anlegern galten Staatsanleihen im Allgemeinen als so sicher wie keine andere Geldanlage und sie wurden sehr viel bei Versicherungsgesellschaften oder Treuhandgeldanlagen, die unbedingt sicher angelegt werden müssen, als Anlage vorgeschrieben. Man wusste eben, dass selbst wenn das Land, in dessen Staatsanleihen man investiert hat, in Geldschwierigkeiten geraten sollte, kann die Zentralbank des Landes eben mal ein paar Geldnoten mehr drucken und dann ist das Land wieder flüssig und kann bezahlen. Das würde zwar zu einer größeren Inflation führen, aber man hat doch die Gewähr, dass man bezahlt wird.

Mit der Einführung der gemeinsamen Währung in den Ländern des Euroblocks (Euroland) hat sich da etwas Entscheidendes geändert, nämlich dass es nur noch eine Zentralbank für alle Länder gab, aber trotzdem jedes Land noch immer eigene Staatsanleihen ausreichen konnte. Im Allgemeinen wurden diese Staatsanleihen aller Länder als gleich sicher beurteilt, weil es sich um eine gemeinsame Währung handelte und diese von der einen europäischen Zentralbank (EZB) kontrolliert wurde. So kam es, dass viele Anleger eben auch in spanische, griechische, portugiesische und italienische Staatsanleihen ihr Geld angelegt haben. Meist war der Zinssatz nicht sehr hoch (2% bis 3%), aber man hatte ja dafür die große Sicherheit. Wer noch sicherer gehen wollte, konnte eine sogenannte Ausfallversicherung abschließen, die dann eintreten würde, wenn das Land doch irgendwie nicht die Anleihen zurückzahlen sollte. Dafür musste man dann aber natürlich eine Versicherungsprämie bezahlen, die am Anfang relativ niedrig war. Da durch die gemeinsame Eurowährung Geldanlagen in Staatsanleihen von den Investoren als gleich sicher beurteilt wurden, konnten alle Euroländer ihre Staatsanleihen auf dem Markt zu einem relativ niedrigen Zinssatz und in großen Mengen verkaufen. So kam es, dass einige Länder (besonders Griechenland, Portugal, Spanien und Italien) viel Geld aufgenommen (im Markt geliehen) haben, um die Lieblingsprojekte der Politiker zu finanzieren.

Dann kam die Griechenland-Krise und plötzlich hieß es, dass das Land in finanziellen Schwierigkeiten ist. Als sich diese Nachricht verbreitet hat, waren Anleger nicht mehr bereit, in neue Griechenland-Anleihen zu investieren, es sei denn, dass ein erheblich höheres Angebot für die Verzinsung der Staatsanleihen vom griechischen Staat gemacht wurde.

Bei Ländern, die viele Schulden haben, gibt es ein laufendes Umschuldungsprogram, dass heißt die alten Schulden werden bezahlt, aber gleichzeitig werden für denselben Betrag (oder mehr) neue Schulden aufgenommen. Wenn das Vertrauen der Anleger in die Kreditwürdigkeit des Landes abnimmt, sind Investoren nur bereit, diesen neuen Schuldschein zu kaufen, wenn ihnen als Verzinsung dieser neuen Schulden ein etwas höherer Zinssatz angeboten wird.

So kam es, dass die Zinsen auf griechische Anleihen ständig erhöht werden mussten, bis sie den Punkt erreichten, wo Jedem klar wurde, dass Griechenland langfristig diese Zinsen überhaupt gar nicht mehr zurückzahlen kann. Damit wurde die Griechenland-Krise zur Realität und es musste mit den anderen europäischen Ländern eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Die Lösung, auf die man sich geeinigt hat, ist in Wirklichkeit der Auslöser des finanziellen Tsunami, denn es wurde bei den Verhandlungen der Staaten in Brüssel auf Drängen von Bundesfinanzminister Schäuble und Kanzlerin Merkel drauf bestanden, dass die Investoren und Banken, die in griechische Staatsanleihen Geld investiert hatten, jetzt plötzlich auch "zur Kasse gebeten" werden sollten und man beschloss, dass diese Investoren und Banken freiwillig auf 50% ihres Kapitals verzichten sollten.

Solch eine Regelung gab es vorher noch nie. Besonders hart ist diese Regelung, weil weiterhin beschlossen wurde, dass die Investoren auf ihren Anteil des Kapitals "freiwillig" verzichten müssen. Das bedeutet aber, dass die Investoren, die eine Ausfallversicherung abgeschlossen hatten, diese nicht für den entstehenden Verlust in Anspruch nehmen konnten, denn die Versicherungsgesellschaft würde dann sagen: Ihr habt ja freiwillig auf den 50%-Anteil Eurer Investition verzichtet, also ist das kein Fall, in dem wir als Versicherer auszahlen."

Diese Entscheidung der Eurostaaten, die in Brüssel getroffen wurde, bleibt natürlich bei Anlegern in Staatsanleihen nicht ohne Konsequenzen. Jeder sagt sich: Was in Griechenland passiert ist, kann auch in jedem anderen Land der Eurozone passieren. Mit anderen Worten, wenn es so aussieht, als ob ein Land die Staatsanleihen, die das Land ausgegeben hat, nicht mehr zurück zahlen kann, entsteht die Frage, ob auch den Anlegern, wenn es hart auf hart kommt, die Auflage gemacht wird, auf 50% des angelegten Kapitals "freiwillig" zu verzichten.

Der Markt reagiert. Der Markt sind etwa hunderttausend Menschen, die sich alle eine eigene Meinung bilden, aber von Entscheidungen und Umständen, die sie natürlich alle genau beobachten, beeinflusst werden und somit oft im Laufe der Zeit zu ähnlichen oder denselben Schlussfolgerungen kommen. Nicht Alle treffen die gleiche Entscheidung in demselben Augenblick, aber meist gibt es durch viele tausend Einzelentscheidungen eine sich anbahnende Entwicklung, die dann zu den Gebaren des Marktes führt, über das man in den Medien berichtet. So werden also einige Anleger, wenn sie sehen, dass ein Land zu hoch verschuldet ist, beschließen, dass sie nicht gerne die Letzten sein wollen, die immer noch auf den Staatsanleihen dieses Landes sitzen bleiben, wenn dann wohl möglich wieder von den Politikern die Entscheidung getroffen wird, dass sie auf 50% des Vermögens verzichten sollen. Also beschließen diese Anleger, lieber aus den entsprechenden Euro-Anleihen dieses Staates auszusteigen. Sie bieten ihre Staatsanleihepapiere zum Kauf an. Das wiederum drückt die Preise auf dem Markt, mit anderen Worten: Wenn es mehr Verkäufer als Käufer von Staatsanleihen eines Landes gibt, dann geht der Preis dieser Anleihen runter. Dann braucht man nur noch 90% des ursprünglichen Ausgabepreises der Anleihe bezahlen und später vielleicht nur 80% oder 70%.

Gleichzeitig wird beobachtet, wie sich die Zinsen der Anleihen entwickeln. Der Staat, der diese vielen Schulden hat, muss diese immer wieder umschulden. Wenn die potenziellen Investoren beim Verkaufsangebot dieser umgeschuldeten neuen Anleihen nur dann bereit sind zu kaufen, wenn die Anleihen mit einem höheren Zins/Coupon angeboten werden, dann entwickelt sich der Zinssatz, den der Staat für diese neuen Anleihen bezahlen muss, immer höher, was wiederum mit sich bringt, dass alle bestehenden Anleihen im Preis sinken. Denn wenn die neuen Anleihen mit einem Zinssatz von bspw. 6% ausgegeben werden, dann wird natürlich jemand, der alte Anleihen mit einem Zinssatz/Coupon von nur 3% hat und diese verkaufen will, nicht mehr den Preis bekommen, den er ursprünglich dafür bezahlt hat, sondern er muss dann zufrieden sein mit einem niedrigeren Preis, der bei einem 3%-Zins/Coupon dem neuen Käufer ebenfalls eine Rendite von 6% ermöglicht.

Das heißt: So wie die Zinsen der neu ausgegebenen Anleihen hoch gehen, so gehen die Werte der alten Anleihen runter. Das wiederum bringt mit sich, dass mehr und mehr Investoren, die den Verlust des Wertes in den Anleihen beobachten, sich dafür entscheiden, lieber aus den Anleihen des Landes aussteigen und sie zum Verkauf anbieten. So entwickelt sich eine immer schneller drehende Spirale nach unten: Der Wert aller Anleihen des Landes fällt und der Zinssatz der neu angebotenen Anleihen steigt, um dadurch überhaupt noch ein paar Anleger zu locken, die Anleihen des Staates kaufen und so dem Staat überhaupt die Umschuldung möglich zu machen. Höhere Zinsen bedeuten also eigentlich nicht, dass die Anleger habgierig sind, wie es Herr Schäuble interpretiert hat (und entsprechend seiner Meinung diese Anleger daher jetzt "zur Kasse" gebeten werden müssen), sondern der steigende Zinssatz bedeutet, dass die Mehrheit der Anleger eigentlich die Anleihen des bestimmten Landes gar nicht mehr haben wollen.

Über Italien weiß man, dass das Land Schulden im Werte von zwei Billionen Euro hat, d.h. Banken und andere Investoren haben italienische Euro-Anleihen im Gesamtwert von diesem Betrag in ihren Tresoren. In Italien ist inzwischen der Zinssatz für die Neuausgabe von Anleihen auf 6,8% gestiegen. Wenn also Italien auf die Schuld von zwei Billionen Euro 6,7% Zinsen zahlen müsste, würde das eine jährliche Zahlungsverpflichtung von rund 150 Mrd. Euro bedeuten. Jeder kann sich ausrechnen, dass das auch von einem Land wie Italien kaum zu stemmen ist. Wenn man sich das als Anleger einmal ausgerechnet hat, kann man nur eine Entscheidung treffen, nämlich möglichst schnell die Italienanleihen zu verkaufen, denn man will ja nicht zu denen gehören, die nach dem griechischen Vorbild von den Politikern aufgefordert werden, auf 50% des eigenen Kapitals freiwillig zu verzichten.

Wenn nun mehr und mehr der obengenannten hunderttausend Anleger, die den Markt ausmachen, zu dieser Entscheidung kommen, entsteht dieser breit gestreute Vertrauensverlust, der dann allerdings nicht nur italienische Staatsanleihen beeinflusst, sondern man wird sich dann auch gleich entscheiden, alle anderen Staatsanleihen, die man im Portfolio hat, lieber zu verkaufen. Wenn diese Entscheidung von der Mehrheit der Leute getroffen wird, die in Euro-Staatsanleihen Geld investiert haben, dann passiert mit den Staatsanleihen so ungefähr dasselbe, was 2008 bei der sogenannten Lehmann-Krise mit den "Subprime Bonds" passierte, die ja auch mal ein AAA-Rating von den Rating Agenturen hatten und dann plötzlich im Laufe der Zeit nichts mehr wert waren und deshalb viele Großbanken in den Bankrott getrieben haben, der aber nur dadurch vermieden werden konnte, dass die Staaten die Banken mit gewaltige Staatshilfen neu finanziert haben. Diese Staatshilfen wird es aber jetzt nicht geben. Das ist das Problem und deshalb ist diese Krise so besonders kritisch zu betrachten. Es könnte höchstens die Europäische Zentralbank einspringen und diese Anleihen kaufen, aber eigentlich darf sie das entsprechend ihrer Verfassung nicht (obwohl sie es teilweise schon getan hat).

In Europa gibt es ein Gesetz, wonach Banken ihre festen Werte immer auf den Marktwert abschreiben müssen. So wie Staatsanleihen im Wert sinken, so müssen die Banken ihre Bestände neu und niedriger bewerten und werden dadurch selbst immer weiter in die Krise getrieben. Am Ende ist es so, dass die ersten, die schnell darauf reagieren und ihre Staatsanleihen verkaufen, noch relativ gut wegkommen können, aber die, die am längsten warten, werden von dem Tsunami am härtesten getroffen.

Der Auslöser dieser Krise ist somit in der Entscheidung zu finden, die von Schäuble, Merkel und anderen Politikern in Brüssel getroffen wurde, wonach Banken und Investoren, die in griechische Staatsanleihen investiert haben, nun freiwillig auf 50% ihrer Investitionen verzichten müssen. Damit ist der Glaube an die Sicherheit von Staatsanleihen zerstört worden und alle Anleger in Staatsanleihen werden für sich beschlossen haben, dass sie nicht noch einmal von den Politikern so über den Tisch gezogen werden wollen.

Der Effekt dieser persönlichen Entscheidung der 100000 Anleger, die den Markt darstellen, wird in den nächsten drei bis vier Monaten mehr und mehr zur Geltung kommen. Es war von den Politikern, die diese Entscheidung getroffen haben, naiv zu glauben, dass so eine Entscheidung nicht tiefgreifende Auswirkung aller Geldanlagen in Anleihen der Euroländer haben würde. Wer lässt sich schon gerne zweimal ins Gesicht schlagen? Man wird sehen, dass die Anleihen der Euroländer immer weniger gerne gekauft werden und wenn sie am Ende keiner haben will, dann hat der Tsunami Europa erreicht und wird viel Verwüstung anrichten, denn immerhin haben europäische Banken, Versicherungen und Finanzinstitute im Augenblick noch zwischen 30% und 60% ihrer gesamten Investitionen in Staatsanleihen.

Die ganze Krise kann aber mit einem Federstrich vermieden werden. Dazu müssten führende Politiker aller Euroländer zusammen kommen und öffentlich bekannt geben, dass sie alle Vertragsänderungen und neue Gesetzgebungen unterschreiben werden, dass die EZB die Staatsanleihen aller Euroländer garantiert, also bereit ist, jede einzelne Staatsanleihe von den Investoren zum ursprünglichen Nominalwert zu kaufen. Wenn solch eine Garantie ausgesprochen wird, dann ist der Investor wieder in derselben Lage, in der er vor der Euroeinführung war, nämlich dass er seine Geldanlage als sicher ansieht und daher wahrscheinlich erst gar nicht auf den Gedanken kommt, diese der Zentralbank zum Kauf anzubieten. Durch solch eine Garantieerklärung würde sofort wieder Sicherheit in das europaweite Finanzsystem einkehren. Das würde auch mit sich bringen, dass sofort die Aktien aller Banken und anderer Finanzinstitute wie Versicherungen usw. sehr schnell steigen würden und man so die Krise in den Griff bekommen würde.

In den letzten Tagen hat die Commerzbank, die zweitgrößte Bank in Deutschland, bekannt gegeben, dass sie keine Staatsanleihen mehr kauft. Was sie nicht gesagt hat, ist, ob sie dann die acht Milliarden Euro Staatsanleihen, die sie in ihrem Portfolio hat, versucht zu verkaufen. Wahrscheinlich. Immerhin haben die meisten europäischen Banken, Versicherungen und Finanzinstitute ihr gesamtes Anlagekapital zu 30% bis 60% in europäische Staatsanleihen angelegt. Es wurde ebenfalls bekannt, dass der Zinssatz der zehnjährigen Staatsanleihen Italiens auf 7% gestiegen ist.

Die nächsten Monate werden spannend. Man kann die Entwicklung mit Interesse beobachten, insbesondere wenn man selbst seine Staatsanleihen in den Euroländern (so fern man welche hatte) verkauft hat.

Andreas Vaatz, Windhoek

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-25

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