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Taliban erobern Gasni – „Ring um Kabul zieht sich zu“
Taliban erobern Gasni – „Ring um Kabul zieht sich zu“

Taliban erobern Gasni – „Ring um Kabul zieht sich zu“

WAZon-Redakteur
Kabul (dpa) - Die Taliban kommen immer näher an die afghanische Hauptstadt Kabul heran. Am Donnerstag fiel die nur 150 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Gasni im Südosten des Landes an sie. Das bestätigten drei Provinzräte der Deutschen Presse-Agentur. Die militanten Islamisten brachten damit die zehnte von 34 Provinzhauptstädten in weniger als einer Woche unter ihre Kontrolle. Auch in den Großstädten Herat und Kandahar verbreiten sie Panik.
„Die Taliban sind überall in der Stadt“, sagt der Chef des Provinzrates von Gasni, Nasir Ahmad Fakiri am Telefon erschöpft und enttäuscht. Kurz vor Mitternacht hatten die Islamisten ihren jüngsten Sturmversuch auf Gasni gestartet. Kurz nach Sonnenaufgang hatten sie zwei Polizeibezirke erobert. Und noch vor zehn Uhr galt die Stadt als an sie gefallen. Der Gouverneur und der Polizeichef saßen in zwei gepanzerten Autos in Richtung Kabul - die sie begleitenden Sicherheitskräfte waren entwaffnet.
Gasni hat etwa 180 000 Einwohner und liegt an der wichtigen Ringstraße, die die größten Städte des Landes verbindet. Aufgrund ihrer Nähe zu Kabul hatten die Taliban bereits öfter versucht, diese einzunehmen. Seit etwa Mitte Juli hielten sie bereits zwei Polizeibezirke der Stadt. Im Sommer 2018 hatten mehr als 1000 Taliban-Kämpfer bei einem Großangriff auf die Stadt mehr als 100 Polizisten und Soldaten und rund 20 Zivilisten getötet.
Der Provinzrat Fakiri und sein Kollege machten dem Gouverneur Vorwürfe. Er habe ein geheimes Abkommen mit den Taliban geschlossen und so die Stadt praktisch an die Islamisten ausgeliefert. Noch bevor der Gouverneur in Kabul ankam, klickten die Handschellen. Das Innenministerium erklärte, man habe ihn in der Provinz Wardak festgenommen. Wieso genau, sagte man nicht.
Mit der Stadt Gasni sind in weniger als einer Woche zehn der 34 Provinzhauptstädte an die Islamisten gefallen. Der überwiegende Teil davon liegt im Norden des Landes. Gasni liegt von all den gefallenen Städten Kabul am nächsten.
„Der Ring um Kabul zieht sich weiter zu“, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Die Taliban hätten nun zwei Optionen: „direkter Angriff oder abwarten, bis die Regierung in Kabul kollabiert“, sagt Ruttig weiter.
Nach Abwarten sah es am Donnerstagabend (Ortszeit) nicht aus. Provinzräte berichteten von zunehmenden Gefechten in der Großstadt Herat im Westen des Landes. Die Taliban seien aus dem Osten in die Stadt vorgedrungen und bis zu 200 Meter an den Gouverneurssitz gelangt. Die Milizen von Ismail Chan seien im Westen der Stadt damit beschäftigt, einen Angriff der Islamisten abzuwehren.
Üblicherweise würden die Taliban für Kurzangriffe in die Stadt eindringen und sich dann sofort wieder zurückziehen. „Mit ihren sporadischen Feuerangriffen erzeugen sie Schrecken unter den Bürgern der Stadt“, sagte ein Sprecher des Gouverneurs von Herat in einer Sprachnachricht auf Whatsapp. Sie kämen in die Stadt, würden Selfies machen, diese in sozialen Medien teilen und so tun, als gehöre die Stadt schon ihnen. „Sie haben ihre eigene Art psychologischer Kriegsführung. Zehn bis 15 Motorräder bringen die Stadt an den Rand des Zusammenbruchs.“
In der wichtigen Stadt Kandahar eroberten sie das Gefängnis. Lokalen Medienberichten zufolge hatte die Regierung wichtige Taliban-Gefangene bereits zuvor woanders hin überstellt. Auch hier verstärkten sie am Donnerstagabend (Ortszeit) ihre Angriffe.
Die US-Botschaft schrieb am Donnerstag auf Twitter, sie höre von zusätzlichen Exekutionen von Soldaten, die sich ergeben hatten. Das sei „zutiefst beunruhigend“ und könnte Kriegsverbrechen darstellen. Sie verurteilte zudem die rechtswidrige Festnahme mehrerer Mitglieder der afghanischen Regierung durch die Taliban, darunter sowohl zivile Führer als auch Offiziere der afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte.
Angesichts der Lage, sagt Afghanistan-Experte Ruttig weiter, könne man nur hoffen, dass noch der Ausweg zu Verhandlungen gefunden werde, um weitere Opfer und Zerstörungen zu vermeiden. Aus dem Golfemirat Katar, wo sich gerade eine Delegation der afghanischen Regierung mit Vertretern unter anderem der USA, China und Pakistan treffen, gab es erneut keine Details, die Hoffnung machen könnten. Aus Diplomatenkreisen verlauten mittlerweile Zweifel, dass das politische Team der Taliban noch viel zu melden hat. Vielmehr schlage nun die Zeit der Kommandeure.
Außenminister Heiko Maas (SPD) warnte die Taliban davor, ein Kalifat in dem umkämpften Land zu errichten. Dann werde es „keinen Cent“ an deutscher Entwicklungshilfe mehr geben, die derzeit bei rund 430 Millionen Euro pro Jahr liege, sagte Maas am Donnerstag im ZDF-„Morgenmagazin“. „Das wissen auch die Taliban.“ Er rechne damit, dass sich die Islamisten an der Regierung in Afghanistan beteiligen und sie dominieren wollen. Es sei dann entscheidend, wie die künftige Verfassung des Landes aussehen werde und welche Rechte es für die Menschen geben werde.
Das Auswärtige Amt forderte am Donnerstag deutsche Bürger zur zügigen Ausreise aus Afghanistan auf. Derzeit sei noch „eine hohe zweistellige Zahl“ Deutscher im Land. Maas kündigte an, dass derzeit „ein bis zwei Charterflüge“ organisiert würden, um noch vor Ende des Monats „eine größere Anzahl von Menschen“ aus Afghanistan auszufliegen. Dabei dürfte es vor allem auch um ehemalige afghanischen Ortskräfte gehen, die für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt oder andere Bundesministerien in Afghanistan tätig waren. Seit Wochen gibt es Kritik daran, dass die Rückführung zu langsam erfolge.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich im Deutschlandfunk sehr besorgt über den Vormarsch der Taliban. Sie machten „sehr schnell sehr große Raumgewinne“, sagte die CDU-Politikerin. „Deswegen sind das auch sehr, sehr bittere Bilder, gerade mit Blick auch auf unseren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren.“ Die letzten Bundeswehrsoldaten haben das Land bereits Ende Juni verlassen.

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-22

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