Tanz mit den Toten: Fröhliches Leichenfest in Madagaskar
Masiniloharano (dpa) - Die Kapelle unterbricht ihre fröhliche Musik für einen Trommelwirbel. Alle Augen sind nun auf die Familiengruft gerichtet: Das schwere Betontor der Gruft öffnet sich langsam, jetzt ist es Zeit, die Gebeine der Vorfahren herauszuholen. Als die Dorfbewohner die ersten sterblichen Überreste ans Licht bringen, geht ein Freudenschrei durch die Menge. Familienmitglieder legen die in weiße Leichentücher gewickelten Gebeine in Strohmatten. Dann schultern sie diese und tanzen fröhlich um die Gruft herum.
Beim Leichenfest „Famadihana“ (wörtlich: Umdrehen der Knochen) werden die Gebeine der Vorfahren exhumiert, freudig zur Schau gestellt und wieder in neue Leichentücher gewickelt. Für viele Menschen in Madagaskar ist es das wichtigste Ritual der Ahnenverehrung, für Kritiker hingegen ist es ein Zeugnis von Aberglaube und Heidentum.
„Mit der "Famadihana" erweisen wir unseren Ahnen Respekt“, erklärt die 60-Jährige Rasoanomenjanahary, die keinen Vornamen hat. Sie ist für die Organisation der Zeremonie ihrer Familie zuständig. „Die Ahnen wachen über ihre Nachfahren, deswegen bitten wir um ihren Segen und ihren Schutz“, sagt sie. Rund 300 Angehörige und Anwohner haben sich für die „Famadihana“ im Dorf Masiniloharano an der Gruft versammelt. Für die Familien sind Leichenfeste – die normalerweise alle sieben Jahre stattfinden – Pflichttermine.
Masiniloharano liegt in den Hügeln des zentralen Hochlands. Hier gibt es weder Strom noch fließend Wasser. An der Gruft wird inzwischen so freudig zur Musik getanzt und gestampft, dass vom sandigen Boden Staubwolken aufsteigen, die rasch alle Feiernden einhüllen. In der Luft mischt sich der Staub mit dem süßlichen Duft des im Dorf selbst gemachten Rums, genannt „toaka gasy“.
Die Ahnen, genannt „Razana“, werden in Madagaskar wie Heilige verehrt, wie der Historiker Mahery Andrianahaga erklärt. „Sie sind nicht nur Knochen. Sie gelten als Menschen, die immer noch da sind und eine wichtige Rolle spielen.“ Die „Famadihana“ sei nötig, um ihnen Respekt zu zollen. „Der Schutz der Ahnen garantiert den Menschen ein friedliches und erfülltes Leben.“
Das Ritual wird in Madagaskar vor allem von den Ethnien der Betsileo und Merne praktiziert. Obwohl dabei zu Lebzeiten geliebte Angehörige exhumiert werden, wird nicht getrauert. Frohsinn ist beim Wiedersehen mit den Ahnen Pflicht, denn alles andere gilt als schlechtes Omen.
Die Musikanten legen sich wieder ins Zeug. Nach und nach holen die Angehörigen die Gebeine aus der Betongruft. Jedes der weißen Bündel enthält die sterblichen Überreste eines Vorfahren. Die Angehörigen schultern die Bündel und reihen sie hinter der Gruft auf. Was ein bisschen wie die makabere Enthüllung eines Massengrabs wirkt, markiert in Wirklichkeit den Höhepunkt der Zeremonie. Hier werden die Ahnen vorsichtig in neue Nylon-Leichentücher gewickelt.
Im armen Madagaskar stammen viele Menschen von asiatischen Einwanderern ab. Experten gehen davon aus, dass auch die Tradition der „Famadihana“ vor vielen Hundert Jahren von Einwanderern aus dem heutigen Malaysia und Indonesien begonnen wurde, wie der Anthropologe Michael Randriamaniraka erklärt.
Die Vorbereitungen für eine „Famadihana“ beginnen in der Regel schon im Vorjahr. Die Familie verständigt sich auf ein ungefähres Datum und beginnt, für die oftmals kostspielige Feierlichkeit zu sparen. Der genaue Termin kann erst wenige Wochen im Voraus festgelegt werden – und das nur vom Dorfastrologen, dem sogenannten Mpanandro, der auch als Heiler fungiert. „Sonst könnte es ein Unglück geben“, warnt der örtliche Astrologe Jean-Pierre Ralaizandry (75).
Die in Madagaskar dominante katholische Kirche hat sich mit dem Ahnenkult arrangiert, denn die Verehrung von Heiligen hat für sie schon immer eine große Rolle gespielt. Bei Protestanten und Evangelikalen hingegen wird der Brauch abgelehnt, etwa von Pastor Irako Andriamahazosoa Ammi, dem Präsidenten der Jesus-Christus-Kirche in Madagaskar. „Wir sagen den Menschen, dass sie sich entscheiden müssen zwischen ihren Ahnen, die tot sind, und Jesus Christus, der auferstanden ist“, sagt er. Doch viele Gläubige halten trotzdem an der Tradition fest, weil sie den Zorn der Ahnen fürchten.
Einen dunklen Schatten auf die „Famadihana“ wirft die in Madagaskar noch immer nicht ausgerottete Pest. Manche Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mutmaßen, das Ritual spiele eine Rolle bei der Verbreitung des Pest-Bakteriums, denn rund um die Zeremonien komme es immer wieder zu Erkrankungen. Pesttote müssen mit einer Chlorlösung gewaschen und mit Kalk eingerieben werden. Sie dürfen nicht in der Familiengruft beerdigt werden, sondern müssen separat vergraben werden. Doch die Regel wird nicht immer beachtet.
Hinter der Gruft in Masiniloharano sind die Gebeine nun neu verpackt. Kurz vor Sonnenuntergang verstummt die Kapelle, die zweitägige Feier löst sich auf. Es werden noch Selfies mit den Gebeinen gemacht, dann heißt es Abschied nehmen – zumindest bis zur nächsten „Famadihana“.
Von Jürgen Bätz, dpa
Beim Leichenfest „Famadihana“ (wörtlich: Umdrehen der Knochen) werden die Gebeine der Vorfahren exhumiert, freudig zur Schau gestellt und wieder in neue Leichentücher gewickelt. Für viele Menschen in Madagaskar ist es das wichtigste Ritual der Ahnenverehrung, für Kritiker hingegen ist es ein Zeugnis von Aberglaube und Heidentum.
„Mit der "Famadihana" erweisen wir unseren Ahnen Respekt“, erklärt die 60-Jährige Rasoanomenjanahary, die keinen Vornamen hat. Sie ist für die Organisation der Zeremonie ihrer Familie zuständig. „Die Ahnen wachen über ihre Nachfahren, deswegen bitten wir um ihren Segen und ihren Schutz“, sagt sie. Rund 300 Angehörige und Anwohner haben sich für die „Famadihana“ im Dorf Masiniloharano an der Gruft versammelt. Für die Familien sind Leichenfeste – die normalerweise alle sieben Jahre stattfinden – Pflichttermine.
Masiniloharano liegt in den Hügeln des zentralen Hochlands. Hier gibt es weder Strom noch fließend Wasser. An der Gruft wird inzwischen so freudig zur Musik getanzt und gestampft, dass vom sandigen Boden Staubwolken aufsteigen, die rasch alle Feiernden einhüllen. In der Luft mischt sich der Staub mit dem süßlichen Duft des im Dorf selbst gemachten Rums, genannt „toaka gasy“.
Die Ahnen, genannt „Razana“, werden in Madagaskar wie Heilige verehrt, wie der Historiker Mahery Andrianahaga erklärt. „Sie sind nicht nur Knochen. Sie gelten als Menschen, die immer noch da sind und eine wichtige Rolle spielen.“ Die „Famadihana“ sei nötig, um ihnen Respekt zu zollen. „Der Schutz der Ahnen garantiert den Menschen ein friedliches und erfülltes Leben.“
Das Ritual wird in Madagaskar vor allem von den Ethnien der Betsileo und Merne praktiziert. Obwohl dabei zu Lebzeiten geliebte Angehörige exhumiert werden, wird nicht getrauert. Frohsinn ist beim Wiedersehen mit den Ahnen Pflicht, denn alles andere gilt als schlechtes Omen.
Die Musikanten legen sich wieder ins Zeug. Nach und nach holen die Angehörigen die Gebeine aus der Betongruft. Jedes der weißen Bündel enthält die sterblichen Überreste eines Vorfahren. Die Angehörigen schultern die Bündel und reihen sie hinter der Gruft auf. Was ein bisschen wie die makabere Enthüllung eines Massengrabs wirkt, markiert in Wirklichkeit den Höhepunkt der Zeremonie. Hier werden die Ahnen vorsichtig in neue Nylon-Leichentücher gewickelt.
Im armen Madagaskar stammen viele Menschen von asiatischen Einwanderern ab. Experten gehen davon aus, dass auch die Tradition der „Famadihana“ vor vielen Hundert Jahren von Einwanderern aus dem heutigen Malaysia und Indonesien begonnen wurde, wie der Anthropologe Michael Randriamaniraka erklärt.
Die Vorbereitungen für eine „Famadihana“ beginnen in der Regel schon im Vorjahr. Die Familie verständigt sich auf ein ungefähres Datum und beginnt, für die oftmals kostspielige Feierlichkeit zu sparen. Der genaue Termin kann erst wenige Wochen im Voraus festgelegt werden – und das nur vom Dorfastrologen, dem sogenannten Mpanandro, der auch als Heiler fungiert. „Sonst könnte es ein Unglück geben“, warnt der örtliche Astrologe Jean-Pierre Ralaizandry (75).
Die in Madagaskar dominante katholische Kirche hat sich mit dem Ahnenkult arrangiert, denn die Verehrung von Heiligen hat für sie schon immer eine große Rolle gespielt. Bei Protestanten und Evangelikalen hingegen wird der Brauch abgelehnt, etwa von Pastor Irako Andriamahazosoa Ammi, dem Präsidenten der Jesus-Christus-Kirche in Madagaskar. „Wir sagen den Menschen, dass sie sich entscheiden müssen zwischen ihren Ahnen, die tot sind, und Jesus Christus, der auferstanden ist“, sagt er. Doch viele Gläubige halten trotzdem an der Tradition fest, weil sie den Zorn der Ahnen fürchten.
Einen dunklen Schatten auf die „Famadihana“ wirft die in Madagaskar noch immer nicht ausgerottete Pest. Manche Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mutmaßen, das Ritual spiele eine Rolle bei der Verbreitung des Pest-Bakteriums, denn rund um die Zeremonien komme es immer wieder zu Erkrankungen. Pesttote müssen mit einer Chlorlösung gewaschen und mit Kalk eingerieben werden. Sie dürfen nicht in der Familiengruft beerdigt werden, sondern müssen separat vergraben werden. Doch die Regel wird nicht immer beachtet.
Hinter der Gruft in Masiniloharano sind die Gebeine nun neu verpackt. Kurz vor Sonnenuntergang verstummt die Kapelle, die zweitägige Feier löst sich auf. Es werden noch Selfies mit den Gebeinen gemacht, dann heißt es Abschied nehmen – zumindest bis zur nächsten „Famadihana“.
Von Jürgen Bätz, dpa
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