Thüringer Wahl-Eklat wird für GroKo zur Zerreißprobe
Erfurt/Berlin (dpa) - Die überraschende Wahl eines FDP-Politikers zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Hilfe von AfD und CDU hat die große Koalition in Berlin in eine neue Krise gestürzt. Die SPD machte der CDU heftige Vorwürfe und verlangte ein Machtwort von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die CDU-Vorsitzende ging mit der eigenen Fraktion im Thüringer Landtag hart ins Gericht und empfahl eine Neuwahl. Die CDU-Abgeordneten hätten ausdrücklich gegen den Willen der Bundespartei gehandelt, indem sie mit der AfD dem FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich ins Amt halfen. Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke), der mit SPD und Grünen eine Minderheitsregierung bilden wollte, hatte im dritten Wahlgang mit einer Stimme verloren.
Union und SPD im Bund verständigten sich am Mittwochabend auf ein rasches Krisentreffen, um die Konsequenzen zu beraten. „Auf unsere Initiative hin haben wir uns auf einen Koalitionsausschuss am Samstag verständigt“, sagte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. Co-Chefin Saskia Esken hatte kritisiert, die Wahl sei ein abgekartetes Spiel gewesen und müsse korrigiert werden.
Zuvor hatte das Parlament in Erfurt für eine historische Zäsur gesorgt: Erstmals kam ein Ministerpräsident mit entscheidender Hilfe der AfD ins Amt. Die CDU hätte das Ergebnis mit Enthaltungen aus den eigenen Reihen verhindern können, stimmte aber ebenfalls für Kemmerich.
Von einer Neuwahl wollte der FDP-Mann am Abend nichts wissen. Im ARD-„Brennpunkt“ sagte er am Abend auf die Frage, ob er bereits gescheitert sei, bevor er überhaupt gestartet ist: „Nein. Die Arbeit beginnt erst und die Demokraten sollten auch wissen, dass Neuwahlen keine Option sind.“ Kemmerich will trotz Absagen von SPD und Grünen mit diesen Parteien über eine Zusammenarbeit sprechen - ebenso mit der CDU.
Weil keine Partei mit der AfD von Fraktionschef Björn Höcke koalieren will, bleibt in Thüringen nur die Option einer Minderheitsregierung. Die Thüringer FDP hatte den Einzug ins Parlament selbst nur denkbar knapp geschafft und die Fünf-Prozent-Hürde um nur 73 Stimmen übersprungen.
Das CDU-Bundespräsidium plädierte nach den Worten von Kramp-Karrenbauer in einer Schaltkonferenz „einstimmig“ für eine Neuwahl. „Das Präsidium der CDU ist einstimmig meiner Linie gefolgt: Keine CDU-Minister in einem "Kabinett Kemmerich", keine Zusammenarbeit mit der AfD. Am besten sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen erneut die Wahl haben“, twitterte sie.
Dennoch sieht sich die Parteichefin Angriffen ausgesetzt, die eigene Partei nicht im Griff zu haben. Die Thüringer CDU-Fraktion sprach sich sogleich gegen Neuwahlen aus. „Wir sehen unsere Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden.“ Ein Sprecher erklärte, Fraktionschef Mike Mohring habe in der Schaltkonferenz der Neuwahl-Forderung widersprochen. Die von Kramp-Karrenbauer „behauptete Einstimmigkeit“ sei „nicht korrekt“.
Für den Beschluss von Neuwahlen wäre in Thüringen eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. Dafür bräuchte die CDU auch die Stimmen von SPD, Linken sowie Grünen oder FDP. Rein rechnerisch gäbe es auch eine Mehrheit für CDU, AfD und Linken, was aber unwahrscheinlich ist.
Die Entscheidung zwischen Kemmerich und Ramelow am Mittag fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater bekam im dritten Wahlgang keine Stimme - auch nicht aus der AfD-Fraktion von Björn Höcke, dem Gründer des rechtsnationalen „Flügels“ der AfD, der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wird.
Kramp-Karrenbauer sagte an Kemmerichs Adresse: „Es ist jetzt auch an dem gewählten Ministerpräsidenten, für sich die Entscheidung zu treffen, ob er ein Ministerpräsident von Höckes Gnaden bleiben will oder nicht.“ SPD-Vize Klara Geywitz griff die CDU-Chefin an. Das Ergebnis zeige, wie wenig Einfluss sie auf ihren Landesverband habe, sagte sie der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft.
Mohring wies jede Verantwortung für das Wahlergebnis von sich: Seine Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den „Kandidaten der Mitte“ gewählt. „Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien.“
Nach dem überraschenden Wahlausgang schaffte es die FDP zunächst nicht, eine neue Regierung zu präsentieren. Die eigentlich für Mittwoch angekündigte Ernennung der Minister wurde verschoben. Während Mohring Kemmerich eine Zusammenarbeit anbot, erklärten SPD, Grüne und Linke bereits, nicht mit der FDP regieren zu wollen. Die AfD dagegen zeigte sich offen, Gesetzesvorhaben der Kemmerich-Regierung zuzustimmen.
In der FDP entbrannte eine hitzige Diskussion, auch Parteichef Christian Lindner geriet unter Druck. Deutschlandweit protestierten Tausende Menschen gegen Kemmerichs Wahl. Sie kamen in mehreren Thüringer Städten und unter anderem auch in Hamburg, Köln, Leipzig, Düsseldorf und München zusammen.
Der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Alexander Graf Lambsdorff, schlug den Rücktritt Kemmerichs und eine rasche Neuwahl vor. Der rheinland-pfälzische FDP-Chef Volker Wissing twitterte: „Einen Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD kann und darf es nicht geben. Wenn demokratische Kräfte die Zusammenarbeit ablehnen, braucht Thüringen Neuwahlen.“ Parteivize Wolfgang Kubicki hingegen feierte das Votum als Erfolg.
Parteichef Lindner erklärte: „Die FDP verhandelt und kooperiert nicht mit der AfD.“ An CDU, SPD und Grüne appellierte Lindner, das Gesprächsangebot Kemmerichs anzunehmen. Sollten sich diese „fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig“.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte Kemmerich zum umgehenden Rücktritt auf. Tue er das nicht, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. Linken-Chef Bernd Riexinger sprach von einem „Tabubruch“ und plädierte ebenfalls für Neuwahlen.
Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg. (Foto: dpa)
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Allgemeine Zeitung
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