Uganda: Bevölkerungsexplosion wird zum nationalen Notstand
Oft steht der Verkehr dreispurig auf der Kampala Road, gegen die eine deutsche Landstraße wie ein breiter Boulevard wirkt. Die Abgase aus den alten Autos und Lastentaxis lassen die Augen tränen und kratzen im Hals. Reichlich benebelt erreicht der Besucher über zwei Stunden nach dem Eintreffen seine Unterkunft im Herzen von Kampala.
Mit einem Bevölkerungsanstieg von rund 3,5 Prozent gehört Uganda, das Winston Churchill einst „die Perle Afrikas“ nannte, zu jenen Staaten der Welt, deren Bevölkerung besonders rasant wächst. Nur im Sahelstaat Mali wächst die Zahl der Menschen mit vier Prozent noch etwas schneller.
Während die Gesellschaften im Westen immer mehr altern, brechen sie in weiten Teilen von Afrika unter der Last der vielen Kinder allmählich zusammen. Jeder zweite Ugander ist heute jünger als 15 Jahre. Wenn die Zahl der Menschen weiter so schnell zunimmt, werden aus den heute rund 36 Millionen Ugandern nach staatlichen Projektionen bis 2025 etwa 55 Millionen - und sie werden sich bis 2050 sogar auf über 110 Millionen mehr als verdreifachen, in wenig mehr als einer einzigen Generation! „78 Prozent der Ugander sind heute unter 30“, sagt Monica Amoding, die im ugandischen Parlament eine Art Lobbyistin der Jugend ist. In der Altersgruppe zwischen 18 und 30 seien dabei 83 Prozent arbeits- und mittellos. „Es ist völlig unklar, was uns über 50 Jahre nach der Unabhängigkeit unter diesen Umständen für eine Zukunft erwartet“, resümiert die Parlamentariern erstaunlich offen.
Es sind Menschen wie jene in Uganda, die ihrer Heimat verzweifelt den Rücken kehren und auf der Suche nach einem besseren Leben nach Norden fliehen. Unter enormen Strapazen und finanziellen Opfern ziehen sie oft wochenlang durch die Sahara, um mit Hilfe skrupelloser Schlepper über das Mittelmeer in das vermeintlich gelobte Europa zu gelangen. In den letzten zwei Wochen waren dabei vor der italienischen Insel Lampedusa, dem südlichsten Vorposten Europas im Mittelmeer, gleich zwei Flüchtlingsboote gekentert, wobei rund 400 Menschen starben. Seitdem tobt in Europa eine emotional aufgeladene Debatte über die Schuld der Asylpolitik an den Toten und das weitere Vorgehen der Europäischen Union (EU). Die tieferen Gründe für die Wanderbewegung bleiben dabei jedoch zu großen Teilen ausgespart.
In Uganda selbst wird die Bevölkerungsexplosion im eigenen Land zwar hin und wieder diskutiert. Viel mehr interessieren dort jedoch andere Themen wie etwa das Missmanagement der Regierung, die Einschüchterung der Opposition oder die lange Amtszeit des Präsidenten. „Wir haben zu viele Debatten und Komitees zur Familienplanung - und viel zu wenig Umsetzung“, klagt auch Sylvia Ssinabulya, die sich im ugandischen Parlament seit Jahren mit Frauenfragen beschäftigt.
Geschehen ist allen Warnungen zum Trotz bislang jedenfalls viel zu wenig. Bezeichnend ist, dass die meisten Gesprächspartner in Zusammenhang mit der Bevölkerungszunahme gerne beschönigend von „Herausforderungen“ sprechen, obwohl offensichtlich ist, dass es sich dabei längst um einen nationalen Notstand handelt.
Dies liegt auch daran, dass der seit 27 Jahre herrschende Präsident Yoweri Museveni bislang klare Worte vermissen lässt. Nachdem der frühere Guerillaführer stets betont hatte, es sei gut, viele Kinder zu haben, weil die Nation dadurch wachse und stark werde, hat er sich, vielleicht wegen der von einigen Beobachtern gemalten Horrorszenarien, zuletzt mit derartigen Äußerungen zurückgehalten. Ein aktiver Akteur ist er sicherlich nicht.
Auch andere Politiker behaupten, genau wie viele westliche Unternehmensberater, dass eine Zunahme der Bevölkerung nützlich sei, weil mehr Menschen einen größeren Markt wie in China oder Indien schaffen würden. Von dem dadurch angehäuften sozialen Zündstoff sprechen sie hingegen kaum. Doch wie stark ist ein Markt armer Menschen ohne echte Kaufkraft? Selbst Ugandas früherer Finanzminister Aston Kajara hat längst eingeräumt, dass das jährliche Wirtschaftswachstum schon für längere Zeit um mehr als zehn Prozent steigen müsste, damit das Land nach vorne kommt.
Tatsächlich dürfte das Wachstum auch dieses Jahr mit etwa 4% wieder einmal kaum halb so groß sein und dadurch allenfalls den Bevölkerungszuwachs kompensieren. An einen Abbau der tiefen Armut ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Monica Amoding bleibt ebenfalls skeptisch. „Wie können die vielen Analphabeten und Armen Kaufkraft entwickeln?“, fragt sie. „Ich glaube nicht an das Argument mit den vielen tollen Konsumenten.“
Sie ist nicht einzige. Auch Harriet Egessa verlässt manchmal der Mut, wenn sie an die Zukunft ihres Landes denkt. Seit einigen Jahren arbeitet die resolute Krankenschwester mit der gelockten Perücke im Tororo-Distrikt im Südosten von Uganda und bemüht sich dort, den aus den Fugen geratenen Bevölkerungszuwachs zu stoppen. Eben hat eine Gruppe Laienschauspieler vor rund 150 Studenten des Lehrercolleges von Torono ein Theaterstück aufgeführt, das junge Menschen spielerisch mit Fragen der Familienplanung und Aids-Aufklärung konfrontiert. Viele der jungen Zuschauer haben sich prächtig amüsiert. Doch die erhofften Erfolge bei der Geburtenkontrolle wollen sich dennoch nicht so recht einstellen. Dies liegt auch daran, dass durch den Einsatz westlicher Medizin zwar die Kindersterblichkeit sinkt, aber die Geburtenraten gleichbleibend hoch geblieben sind. „Noch immer kriegen sehr viele Frauen in Uganda im Schnitt sieben Kinder“, seufzt Egessa. Immerhin steigen die Nachfrage nach Aufklärung und der Wunsch nach weniger Kindern. „Doch unter Kontrolle haben wir die Lage nicht“, sagt sie.
Noch immer werde auch jedes vierte Mädchen Mutter, ehe es überhaupt volljährig ist, erzählt die Krankenschwester. Die meisten hätten mit 20 oft schon ein zweites oder sogar drittes Kind. Für Egessa spielen dabei vor allem kulturelle Gründe eine zentrale Rolle „Frauen, die in Uganda viele Kinder gebären, werden im Dorf respektiert. Und wenn man alt ist, hat man Kinder, die nach einem sehen.“
In der Tat garantieren helfende Kinderhände in einem Umfeld ohne jedes soziales Netz nicht nur billige Arbeitskraft, sondern auch eine Art Lebensversicherung. Im Gegensatz dazu werden Frauen, die nicht gebären, oft verlassen. Wenn eine Frau Verhütungsmittel nutzt, argwöhnen viele Männer, dass sie fremdgehen wolle. Auch zählen oft nur Jungen als „wahre“ Kinder, sagt Mona Herbert, Länderprojektleiter der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW). Kein Wunder, dass sich viele Mädchen schon wegen des hohen gesellschaftlichen Drucks für eine große Familie entscheiden. Um daran etwas zu verändern, müssten die Machtstrukturen zwischen Mann und Frau in Uganda grundsätzlich verändert werden. Doch davon ist das Land noch weit entfernt.
Dabei könnte mit einer intensiven, von Regierung und Geberländern nachdrücklich geförderten Familienplanung viel bewirkt werden. So wäre zum Beispiel das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die die extreme Armut bis 2015 halbieren sollen, in Bereichen wie Bildung und Gesundheitsvorsorge um ein mehrfaches billiger, wenn man das Bevölkerungswachstum mit mehr Nachdruck angehen würde. „Während die hohen Geburtenraten bei fast allen Entwicklungsprogrammen vernachlässigt wurden, sind jahrelang massive Ressourcen ohne größeren Erfolg in die Bekämpfung der Aids-Epidemie geflossen“, klagt Elly Mugumya, Chef der International Planned Parenthood Association.
Eine merkwürdige Allianz aus Vatikan, amerikanischen Evangelisten und Muslimen hat ihrerseits dafür gesorgt, dass die Familienplanung zu einem Tabu der Entwicklungspolitik geworden ist. Aber auch Chinas Zwangsmodell der Ein-Kind-Politik hat dazu beigetragen, dass Initiativen zur Familienplanung im Westen bis vor kurzem als moralisch fragwürdig galten - mit verheerenden Folgen für die betroffenen Länder.
Viel dürfte nach Ansicht von Experten wie Mugumya davon abhängen, ob sich diese Berührungsangst überwinden lässt und neben den Regierungen in Afrika auch die internationale Gemeinschaft das verlorene Interesse an Bevölkerungsfragen zurückgewinnt. Lampedusa könnte dabei zu einer Art Weckruf in letzter Minute werden.
Wolfgang Drechsler, Kapstadt
Eine kleine Organisation
Obwohl sich viele Frauen in Afrika weniger Kinder wünschen, gibt es nur wenige Organisationen, die sie dabei unterstützen. Zu ihnen zählt die 1991 gegründete Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) mit Sitz in Hannover. Das Ziel ihrer Arbeit besteht darin, Menschen in Afrika einen besseren Zugang zu vor allem sexueller Aufklärung und damit verbunden zur Familienplanung zu ermöglichen. Die DSW lehnt dabei eine Zwangspolitik wie die Ein-Kind-Politik in China ausdrücklich ab.
Der Schwerpunkt der Projekte liegt traditionell auf Ostafrika, wo die Organisation über Länderbüros in Äthiopien, Kenia, Tansania und Uganda verfügt. Neben Kliniken unterstützt die DSW auch Jugend- und Ausbildungszentren, in denen junge Menschen über eine verantwortungsvolle Familienplanung informiert werden oder sich weiterbilden können, etwa wie sie Computer nutzen können. Auch an Aufklärungsprojekten, in denen es darum geht, wie eine Ansteckung mit dem HI-Virus, das Aids auslöst, vermieden werden kann, ist die Stiftung beteiligt.
Daneben wendet sich die Stiftung als Lobby auch an afrikanische Parlamentarier. Dabei geht es ihr vor allem darum, Frauen und junge Menschen rechtlich besser zu stellen. Denn die meisten afrikanischen Gesellschaften sind extrem männerdominiert und die Jugend hat kaum etwas zu sagen. Eine Voraussetzung dafür, dass sich Paare für Familienplanung entscheiden, ist eine Besserstellung der Frauen in den Beziehungen.
Das wirksamste Mittel gegen eine hohe Geburtenrate ist übrigens eine bessere Bildung vor allem der Frauen. Das ermöglicht ihnen, sich mehr Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Kinder gesund großziehen können. Es ermöglicht ihnen aber auch, erfolgreicher am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Wirtschaftlich erfolgreiche und gebildete Frauen haben weniger Kinder - das spüren die alternden Gesellschaften in Europa deutlich.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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