Vera Kürsten - Ein Leben wie ein Roman
Ungewöhnliche Biografien sind faszinierend, so wie jene von Vera Kürsten, der ersten Tischlerin Sachsens. Vera wurde am 26. Oktober 1902 im norwegischen Christiania, dem heutigen Oslo, unehelich geboren. Am Tag ihrer Taufe adoptierten sie der Leipziger Buchdruckereibesitzer Paul Kürsten und dessen norwegische Ehefrau Henriette. Die kleine Vera wuchs wohlbehütet auf, ihr fehlte es an nichts. Abwechselnd wohnte sie in Leipzig und in Rathen an der Elbe, wo ihr Vater das Mühlengrundstück gekauft hatte. Das große Mühlrad wurde extra für Vera mit zwei hölzernen Figuren von Bär und Kasper verziert. Sie bekam ein großes Puppenhaus und lebte in Rathen wie eine kleine Prinzessin. Doch mit der schweren Zeit des Ersten Weltkriegs kam auch das Ende der Rathener Sägemühle. Das Mühlengut musste sich jetzt von der Landwirtschaft und von "Fremdenzimmern", also durch Touristen ernähren. In dieser Zeit reifte Veras ungewöhnlichste Entscheidung: sie will Tischler lernen.
Der Vater, inzwischen Hofrat und Königlich Norwegischer Konsul, fiel aus allen Wolken. Die Mutter, ebenfalls Tochter eines Konsuls im norwegischen Bergen, sah es gelassen. Sie hatte schon längst erkannt, dass man ein Kind wohl adoptieren, nicht aber dessen Charakter bestimmen kann. Allen Widerständen zum Trotz begann Vera am 1. April 1921 ihre Lehre zur Tischlerin. Lehrherr war Tischlermeister Otto Krämer in Pirna-Copitz. Vera war eine gelehrige Schülerin und so wurde sie schon vorzeitig zur Gesellenprüfung zugelassen. Am 9. April 1923 fanden die Prüfungen vor der Tischlerinnung im Gasthof "Goldener Stern" in Pirna statt. Anwesend waren nicht nur die Pirnaer Tischlermeister mit ihrem Obermeister Lehmann, sondern auch Veras Eltern.
Erfolgreiche Prüfung
Vera musste eine Kredenz aus Kiefernholz herstellen und mehrere Fragen beantworten. Sie bestand die Prüfung mit Bravour und wurde nach nur zwei Lehrjahren "Als erster weiblicher Tischlergeselle in Sachsen losgesprochen". Noch am selben Abend überreichte der nun begeisterte Vater Paul Kürsten eine "Vera-Kürsten-Stiftung" in Höhe von 100000 Mark an die Pirnaer Tischlerinnung. Der "Pirnaer Anzeiger" vermeldete, dass "... aus deren Zinsen alljährlich dem besten männlichen oder weiblichen Prüfling eine Prämie zuteil werden soll". Lange hielt sich die Stiftung allerdings nicht, da auch sie ein Opfer der beginnenden Inflation wurde. Als Vera 1926 ernsthaft erkrankte, musste sie in Bad Elster behandelt werden. Dort traf sie ihre erste große Liebe, die sich die Eltern aber verbaten. Über Name und Stand des jungen Mannes wurde nie etwas erzählt. Vera konnte lautstark reden, aber auch schweigen. Die Entfernung nach Bad Elster bewog sie, ein weiteres Ziel anzusteuern. Sie wollte doch so gern ein Auto fahren, was für eine Frau damals noch sehr ausgefallen war. Am 28. Mai 1927 bestand Vera in Dresden die Fahrschulprüfung und war fortan nicht mehr ohne Auto zu sehen.
Leben in Afrika
Durch die katastrophale Wirtschaft der Weimarer Republik und Veras noch immer angeschlagene Gesundheit traf sie einen weiteren schwerwiegenden Entschluss. Im Januar 1928 verließ sie Rathen und wanderte über Hamburg in die ehemalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, aus. Ein erstes Foto von ihr wurde in der "Photo-Centrale" von Ottmar Späth in Windhoek aufgenommen. 1930 kaufte sie die Farm "Tolene" im Bezirk Okahandja von Jacob Rodgers. Dort besaß sie 6600 Hektar Land und rund 400 Stück Großvieh. Sie baute sich ein eigenes Haus, vom Entwurf bis zur Fertigstellung. In dem Farmer Werner Hoffmann fand sie eine neue Liebe. Den älteren Südwestern wird Hoffmann sicher eher unter seinem Spitznamen "Rasputin" bekannt sein.
Da sich Hoffmann aber bald seiner späteren Ehefrau Lotte Steeb zuwandte, blieb auch diese Liebe unerfüllt. Vera war fünf Jahre älter als Hoffmann, Lotte dagegen war sieben Jahre jünger. Vera unterstützte die Familie Hoffmann jedoch trotzdem ein Leben lang und tauschte mit ihr sogar die Nachbarfarm "Bozana". Im Jahre 1935 fuhr Vera letztmalig in das sächsische Rathen. Ihren dortigen Besitz sollte sie nie wieder sehen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden die deutschen Männer in Südwestafrika verhaftet und in Südafrika interniert.
Vera betreute nun neben ihrer Farm auch die Farm der Familie Hoffmann. Rührend kümmerte sie sich um die Kinder der Hoffmanns und schnitzte ihnen Holztiere und einen ganzen Bauernhof als Spielzeug. Als Henriette Kürsten 1954 starb, fuhr Vera nach Norwegen, um den Haushalt ihrer Adoptivmutter aufzulösen. Ende der 50er Jahre verlor sie durch finanzielle Probleme Werner Hoffmanns und anschließende Versteigerung ihren ganzen Besitz. Auch Pachtbeträge, die aus ihrem Besitz in Ostdeutschland (DDR) an "Frl. Vera Kürsten in Südwestafrika" auf dubiose Konten eingezahlt wurden, kamen nie bei ihr an. Daher baute sie sich in der Siedlung "Wlotzkas Baken" nördlich von Swakopmund ein neues kleines Holzhäuschen. Trotz vieler Besuche von Bekannten wurde es recht still um "Tante Vera". Ihr einziger Begleiter war immer ein treuer Hund.
Als am Neujahrstag 1972 in Swakopmund die traditionelle Hundeschau stattfand, beteiligte sich Vera mit ihrem geliebten Boxer "Felix" und gewann mit ihm den "Albrecht-Kauert-Pokal". Nach langer schwerer Krankheit starb Vera Kürsten am 10. Mai 1973 in Swakopmund. Ein Leben wie ein Roman hatte sich vollendet.
Im Juli 2006 folgte ich nach einem Aufruf in der Allgemeinen Zeitung Veras Spuren quer durch Namibia. Dr. Werner Hillebrecht vom Nationalarchiv in Windhoek ließ mich Einblick in die Farmakten nehmen. Dr. Jürgen Hoffmann, ein Enkel Werner Hoffmanns, nahm mich mit in Veras Reich nach Wlotzkas Baken. Für viele interessante Gespräche möchte ich Maja Rust in Windhoek, Inge Grebien in Walfischbucht, Lisa Pesch in Omaruru und Heini Binding auf Kataneno stellvertretend für viele andere danken. Übrigens liegen Oslo, Rathen und Swakopmund fast auf einer geografischen Länge, aber rund 10000 Kilometer voneinander entfernt.
Andreas Fels
Der Vater, inzwischen Hofrat und Königlich Norwegischer Konsul, fiel aus allen Wolken. Die Mutter, ebenfalls Tochter eines Konsuls im norwegischen Bergen, sah es gelassen. Sie hatte schon längst erkannt, dass man ein Kind wohl adoptieren, nicht aber dessen Charakter bestimmen kann. Allen Widerständen zum Trotz begann Vera am 1. April 1921 ihre Lehre zur Tischlerin. Lehrherr war Tischlermeister Otto Krämer in Pirna-Copitz. Vera war eine gelehrige Schülerin und so wurde sie schon vorzeitig zur Gesellenprüfung zugelassen. Am 9. April 1923 fanden die Prüfungen vor der Tischlerinnung im Gasthof "Goldener Stern" in Pirna statt. Anwesend waren nicht nur die Pirnaer Tischlermeister mit ihrem Obermeister Lehmann, sondern auch Veras Eltern.
Erfolgreiche Prüfung
Vera musste eine Kredenz aus Kiefernholz herstellen und mehrere Fragen beantworten. Sie bestand die Prüfung mit Bravour und wurde nach nur zwei Lehrjahren "Als erster weiblicher Tischlergeselle in Sachsen losgesprochen". Noch am selben Abend überreichte der nun begeisterte Vater Paul Kürsten eine "Vera-Kürsten-Stiftung" in Höhe von 100000 Mark an die Pirnaer Tischlerinnung. Der "Pirnaer Anzeiger" vermeldete, dass "... aus deren Zinsen alljährlich dem besten männlichen oder weiblichen Prüfling eine Prämie zuteil werden soll". Lange hielt sich die Stiftung allerdings nicht, da auch sie ein Opfer der beginnenden Inflation wurde. Als Vera 1926 ernsthaft erkrankte, musste sie in Bad Elster behandelt werden. Dort traf sie ihre erste große Liebe, die sich die Eltern aber verbaten. Über Name und Stand des jungen Mannes wurde nie etwas erzählt. Vera konnte lautstark reden, aber auch schweigen. Die Entfernung nach Bad Elster bewog sie, ein weiteres Ziel anzusteuern. Sie wollte doch so gern ein Auto fahren, was für eine Frau damals noch sehr ausgefallen war. Am 28. Mai 1927 bestand Vera in Dresden die Fahrschulprüfung und war fortan nicht mehr ohne Auto zu sehen.
Leben in Afrika
Durch die katastrophale Wirtschaft der Weimarer Republik und Veras noch immer angeschlagene Gesundheit traf sie einen weiteren schwerwiegenden Entschluss. Im Januar 1928 verließ sie Rathen und wanderte über Hamburg in die ehemalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, aus. Ein erstes Foto von ihr wurde in der "Photo-Centrale" von Ottmar Späth in Windhoek aufgenommen. 1930 kaufte sie die Farm "Tolene" im Bezirk Okahandja von Jacob Rodgers. Dort besaß sie 6600 Hektar Land und rund 400 Stück Großvieh. Sie baute sich ein eigenes Haus, vom Entwurf bis zur Fertigstellung. In dem Farmer Werner Hoffmann fand sie eine neue Liebe. Den älteren Südwestern wird Hoffmann sicher eher unter seinem Spitznamen "Rasputin" bekannt sein.
Da sich Hoffmann aber bald seiner späteren Ehefrau Lotte Steeb zuwandte, blieb auch diese Liebe unerfüllt. Vera war fünf Jahre älter als Hoffmann, Lotte dagegen war sieben Jahre jünger. Vera unterstützte die Familie Hoffmann jedoch trotzdem ein Leben lang und tauschte mit ihr sogar die Nachbarfarm "Bozana". Im Jahre 1935 fuhr Vera letztmalig in das sächsische Rathen. Ihren dortigen Besitz sollte sie nie wieder sehen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden die deutschen Männer in Südwestafrika verhaftet und in Südafrika interniert.
Vera betreute nun neben ihrer Farm auch die Farm der Familie Hoffmann. Rührend kümmerte sie sich um die Kinder der Hoffmanns und schnitzte ihnen Holztiere und einen ganzen Bauernhof als Spielzeug. Als Henriette Kürsten 1954 starb, fuhr Vera nach Norwegen, um den Haushalt ihrer Adoptivmutter aufzulösen. Ende der 50er Jahre verlor sie durch finanzielle Probleme Werner Hoffmanns und anschließende Versteigerung ihren ganzen Besitz. Auch Pachtbeträge, die aus ihrem Besitz in Ostdeutschland (DDR) an "Frl. Vera Kürsten in Südwestafrika" auf dubiose Konten eingezahlt wurden, kamen nie bei ihr an. Daher baute sie sich in der Siedlung "Wlotzkas Baken" nördlich von Swakopmund ein neues kleines Holzhäuschen. Trotz vieler Besuche von Bekannten wurde es recht still um "Tante Vera". Ihr einziger Begleiter war immer ein treuer Hund.
Als am Neujahrstag 1972 in Swakopmund die traditionelle Hundeschau stattfand, beteiligte sich Vera mit ihrem geliebten Boxer "Felix" und gewann mit ihm den "Albrecht-Kauert-Pokal". Nach langer schwerer Krankheit starb Vera Kürsten am 10. Mai 1973 in Swakopmund. Ein Leben wie ein Roman hatte sich vollendet.
Im Juli 2006 folgte ich nach einem Aufruf in der Allgemeinen Zeitung Veras Spuren quer durch Namibia. Dr. Werner Hillebrecht vom Nationalarchiv in Windhoek ließ mich Einblick in die Farmakten nehmen. Dr. Jürgen Hoffmann, ein Enkel Werner Hoffmanns, nahm mich mit in Veras Reich nach Wlotzkas Baken. Für viele interessante Gespräche möchte ich Maja Rust in Windhoek, Inge Grebien in Walfischbucht, Lisa Pesch in Omaruru und Heini Binding auf Kataneno stellvertretend für viele andere danken. Übrigens liegen Oslo, Rathen und Swakopmund fast auf einer geografischen Länge, aber rund 10000 Kilometer voneinander entfernt.
Andreas Fels
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Allgemeine Zeitung
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