Vertrieben von geliebter Erde (Teil 15)
Doch das Traurigste steht ihnen noch bevor. In den letzten drei Tagen vor der Abfahrt versuchen Alfons und Stephan verzweifelt, alles zu verkaufen, was sie nicht mitnehmen können. Pro Person sind nur 200 Kilogramm Gepäck erlaubt. Und das in einer Zeit, die alles andere als günstig ist für einen Verkauf: Großes Angebot, niedrige Nachfrage. Landesweit werden Tausende Deutsche ausgewiesen, die ihr Hab und Gut zu Geld machen wollen. Doch Geld ist knapp, da viele Menschen verschuldet sind. Hinzu kommen im Falle der Schanderls der ungeheure Zeitdruck und die abgeschiedene Lage. Alfons und Stephan schildern den Ausverkauf zweieinhalb Monate später in einem Brief: „Wir verschleuderten dann unser Vieh zu den billigsten Preisen, ebenso unser ganzes Farminventar, um wenigstens einige Notpfennige zu haben. Bei der Abgelegenheit unserer Farm war es unmöglich, Vieh bei Nachbarn in dieser kurzen Zeit unterzustellen (zudem hatte Farmer Reck in Klipness, unser nächster deutscher Nachbar – 110 km – ebenso seinen Ausweisungsbefehl erhalten). Zurücklassen war sicher gleichbedeutend mit verloren. So war man eben gezwungen, für niederste Preise alles wegzugeben.“
Es gibt auch einige Zeitgenossen, die sich auf Kosten der Ausgewiesenen bereichern wollen. So protestiert der deutsche Regierungskommissar Kastl, der die Übergabe der Kolonie an die Südafrikanische Union organisiert, bereits Mitte April 1919: „Ich habe wegen des Treibens gewissenloser Spekulanten, die unter Ausnutzung der Notlage der Verkäufer Möbel und andere bewegliche Habe an sich zu bringen suchen, bei der Okkupationsregierung Vorstellungen erhoben.“ Kastl wird offenbar auch auf den Fall der Brüder Schanderl aufmerksam. Leo Waibel berichtet ihm eine Woche später auf Anfrage: „Peinlich berührte mich eine weitere Erzählung von ihm (Alfons, d. Verf.), die er in Kleinkaras und auf der Farm oft wiederholte. (...). Dem Offizier aus Kanus gefiel die Farm Karious, die Brunnen, die schönen Gärten, das Vieh und das Veld sehr gut. Er äußerte Herrn Schanderl gegenüber die Absicht, die Farm zu kaufen. Auf die Gegenfrage, was er ihm für das Vieh zahlen wolle, erwiderte der Offizier: ‚Zwei Pfund für das Beest (Rind, d. Verf.)‘. Von allen Bewohnern von Kleinkaras, auch von den englischen Untertanen, wurde dieses Angebot mit Entrüstung aufgenommen.“
Zwei Pfund, nach dem Wechselkurs von 33 Mark das Pfund also knapp 67 Mark, sind in der Tat ein Spottpreis. Rinder werden zu jener Zeit für 350 bis 450 Mark gehandelt. Alfons und Stephan erhalten schließlich 3 Pfund 15 Shilling das Rind, also 125 Mark. Schafe bringen normalerweise um die 40 Mark; sie bekommen im Schnitt 15 Mark. Ein Reitpferd kann schon mal 700 Mark kosten; sie müssen ihre 12 Pferde am Ende verschenken – genauso wie die 6 Esel, die Ochsenwagen, das Zaumzeug, das Werkzeug und die Möbel. Die traurige Bilanz: „Herr Alphons Schanderl sagte mir kurz vor seiner Abreise in Keetmanshoop, nachdem er alle Geschäfte erledigt hatte, dass er durch den überstürzten Verkauf von Vieh, Wagen, Haushaltungsgegenständen etwa 20.000 Mark Hartgeld verloren habe“, schreibt Leo Waibel an Regierungskommissar Kastl. Es gibt Umrechnungsformeln, denen zufolge eine Mark damals einem heutigen Wert von ungefähr zehn Mark oder fünf Euro entspricht. Demnach liegt der Verlust der Brüder bei rund 100.000 Euro.
Schlimmer ist allerdings, dass sie ihre Farm und Südwestafrika verlassen müssen. Denn auch wenn Alfons rechtlich weiterhin Eigentümer des Landes bleibt, ist nun das eingetreten, was die beiden im Jahre 1908 befürchtet hatten, als das Deutsche Gouvernement in Windhoek ihnen Karios lediglich verpachten wollte: Dass sie all ihre Kraft und ihre besten Jahre in den Aufbau der Farm investieren, und dann, als sie endlich – nach mehreren Rückschlägen – an das Ernten der Erträge denken können, von ihrem Land verjagt werden. Stephan ist 34, Alfons 41 Jahre alt. Beide stehen wieder vor dem Nichts, fühlen sich betrogen um 11 oder sogar 15 Jahre ihres Lebens.
Und was würde sie in Deutschland erwarten? Nach der Kapitulation der Militärführung und der Flucht des Kaisers ins Exil herrschen dort Unruhen und Unsicherheit: Spartakus-Aufstand in Berlin, Räte-Republik in Bayern... im März 1919 marschieren Reichstruppen in München ein, Unruhen werden auch aus dem Ruhrgebiet, aus Bremen und Sachsen gemeldet... Politisch ist Deutschland instabil, wirtschaftlich – so zeichnet sich schon ab – würde es unter den Reparationszahlungen an die Siegermächte leiden. Keine guten Voraussetzungen also für einen Neubeginn zweier Rückkehrer. Die Nacht ist kalt. Und die Sterne funkeln am Firmament, so wie in jeder Nacht, seit sie hier leben...
Samstag, 31. Mai. Nach einer schlaflosen Nacht sehen die beiden Brüder zum letzten Mal über ihrer Farm die Sonne aufgehen. Alles war bereit, alles war gepackt. Ein letzter Gang durch das Haus, ein letzter Blick hier und da, ein fortwährendes Abschiednehmen – mit der Frage, für wie lang oder gar für immer? Und dann müssen sie aufbrechen: Sie haben mit den Ochsenwagen noch fast 20 Kilometer vor sich, bis zur Bahnstation Klein Karas. Zwar fährt der Zug erst am Sonntag, frühmorgens um vier Uhr, aber die Ochsen schaffen nicht mehr als zwei Kilometer pro Stunde, so dass sie rund zehn Stunden für die Strecke rechnen müssen. Dr. Waibel schildert die Abreise: „Am Samstag, den 31. Mai, kamen wir mit einem ganzen Treck von verkauftem Vieh und drei Ochsenwagen voll Möbeln und sonstigen Sachen in Kleinkaras an der Bahn an. In der Nacht fuhr ich mit den beiden Schanderl nach Keetmanshoop und die letzteren nachmittags weiter nach Lüderitzbucht zum Dampfer.“ Nur gut, dass sie zu zweit sind und sich gegenseitig trösten und Mut zusprechen können. Dennoch blicken die Brüder immer wieder schweigend aus dem Zug – diese Strecke hatten sie nach ihrer Ankunft in Südwestafrika in entgegengesetzter Richtung zurückgelegt: Stephan vor elf Jahren per Ochsenwagen, Alfons vor fast 15 Jahren zu Pferd und zu Fuß. Doch wie verschieden waren die Gefühle – damals die Eroberung eines neuen Landes, der Beginn eines neuen Lebens – und heute die Kapitulation vor einem übermächtigen, unsichtbaren und unnachgiebigen Gegner, die Vertreibung aus einem selbst geschaffenen Paradies. Elisabeth fasst es später in die Worte: „Es wäre wohl zu schön gewesen, wenn so eine zweite Schanderl Heimat in Afrika entstanden wäre.“
Montag, 2. Juni 1919. In Lüderitz treffen Alfons und Stephan ihren älteren Bruder Hans, der seit 1918 auf den Diamantenfeldern bei Lüderitz als Aufseher arbeitet und nicht ausgewiesen wird – offenbar, weil sein Arbeitgeber für ihn bürgt. Das mag auch der Grund sein, warum er die Farm seiner Brüder nicht übernehmen kann. Viel Zeit bleibt den dreien nicht. Denn der britische Dampfer Intaba, der bereits emsig beladen wird, soll noch am selben Tag in See stechen. 168 weitere Ausgewiesene aus dem Süden des Landes gehen an Bord, mit den 215 Deutschen aus Kapstadt und den 101 Deutschen, die in Walvis Bay zusteigen werden, sind es insgesamt 486 Menschen, die über Plymouth und Rotterdam zurück nach Deutschland gebracht werden sollen.
Bedrückt nehmen Alfons und Stephan von Johann Abschied, steigen in die Barkasse und lassen sich zum Dampfer übersetzen. Die Mannschaft lichtet den Anker und mit trauervollem Tuten fährt das Schiff ab. Schon bald können sie die still dastehende Gestalt ihres Bruders am Anleger nicht mehr erkennen. Mit zusammen gekniffenem Mund sehen sie hilflos zu, wie das Land ihrer Träume entschwindet. Doch als sie sich anschauen und sich die Tränen aus dem Augenwinkel wischen, wird ihr Blick kämpferisch. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit und Ausdauer, mit der sie dem kargen Land auf Karios Leben abgetrotzt haben, werden sie von Deutschland aus ihre Ausweisung anfechten und ihre Rückkehr durchsetzen...
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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