Wirtschaftsethik als Instrument der Aufklärung
Zu Pfingsten plädierten Kirchenführer in Deutschland für ein neues Denken. Globalisierungsgegner in Berlin protestieren gegen Präsident Bush und "Pax Americana": Rainer Ritter, Windhoeker Wirtschaftsberater, behandelt hier Fragen zur Wirtschaftsethik in einer komplexen Welt.
Tut eine neue Aufklärung Not? Das Nachdenken über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft hatte im Jahre 1989 fasst den Nullpunkt erreicht. Dieser wichtige Wendepunkt der Gesellschaft ließ den letzten Zweifel an der systemischen Überlegenheit des Kapitalismus westlicher Prägung verschwinden, untermauert von einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordung. Der amerikanische Akademiker Francis Fukuyama deklarierte sogar, wir befänden uns am "Ende der Geschichte" und meinte damit, dass es von nun an keine Alternative mehr zur marktförmig integrierten Demokratie westlichen Zuschnitts gäbe. Die Protagonisten, die meinten, das philosophische postmoderne Ende sei eingeläutet, sollten jedoch nicht Recht behalten. Spätestens nach der Weltwirtschaftsflaute, Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Armut und ökologischen Hiobsbotschaften im Anfang des 21. Jahrhunderts sind sich viele Menschen bewusst - "die Geschichte" ist zurückgekehrt. Mit der Rückkehr der Geschichte ist die Tatsache gemeint, dass die liberal-demokratischen Gesellschaften in Europa und Amerika heute von ungleich schwierigeren Selbstverständigungsprozessen stehen, als dies in Zeiten der Systemdualität von Marktwirtschaft und Sozialismus der Fall war. Heute stehen die liberal-demokratischen Gesellschaften vor der Herausforderung, dass sie sich von innen heraus legitimieren müssen. Leider verstehen das noch wenige Politiker und Wirtschaftler (auch in Namibia) und die Debatte konzentriert sich stets noch auf "mehr" oder "weniger" Markt. Einem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, dass es schon lange nicht mehr ausreicht, einerseits mehr Staat oder andererseits mehr Markt zu postulieren und diese in der wirtschaftspolitischen Debatte gegeneinander auszuspielen. Vernünftige Politiker wissen längst, dass wir in einer funktionierenden Wirtschaftsordung sowohl Marktelemente als auch Staatselemente brauchen.
Die eigentliche Frage ist heute eigentlich eine ganz andere. Der Ökonomismus und der Triumpfzug der Marktwirtschaft beeinflussten heutzutage unsere Vorstellungswelt in der Richtung, dass die Martkwirtschaft als eine "natürliche" Wirtschaftsordung betrachtet wird. Die "unsichtbare Hand" des Marktes wird als ein "Ort der Moral" gesehen. Als logische Konsequenz ergibt sich das praktische Postulat, das Wirken von Märkten werde schon für das Gemeinwohl sorgen. Dass solch ein Denken langfristig nicht der richtige Weg ist, erkennt man daran, dass mehr und mehr Kritiker vor dem Sachzwangdenken der "reinen" ökonomischen Vernunft warnen. Der Wirtschaftsethiker Prof. Ulrich von der Universität St. Gallen (Schweiz) warnt vor der Instrumentalisierung der Politik im ökonomischen Interesse der "internationalen Wettbewerbsfähigkeit" der Privatwirtschaft. Prof. Ulrichs Kernthese ist es, dass wir es weniger mit realen Sachzwängen als mit ideologischen Denkzwängen zu tun haben. Führende Wirtschaftler und Politiker glauben wirklich daran, dass alles langfristig gut wird und sich einpendelt, wenn wir bloß die "unsichtbare Hand des Marktes" ihr segenreiches Werk vollbringen lassen. Diese verkehrte Logik führt auch leider oft dazu, dass ökologische Fragen und Umweltprobleme als eine Verantwortung des Marktes gesehen werde, der ja die Probleme schon "lösen" wird. Wenige Menschen sehen, dass die Errungenschaften der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft hierdurch gefährdet werden und die Frage entsteht, wie die heutige Gesellschaft diese Herausforderung annimmt ohne in Verlegenheit zu geraten, wenn eines Tages die kommende Generation sie zur Rechenschaft zieht.
Die eigentliche Frage unserer Generation - also heute - ist nämlich, welche Rolle oder Gewicht wir einer funktionierenden, produktiven Wirtschaft in der Gesellschaft geben. Zugespitzt ist es die Frage nach dem Verhältnis von wirtschaftlicher Effizienz auf der einen Seite, sowie ethisch-politischer Gerechtigkeit und die Bewahrung der Lebensgrundlagen, der Ressourcen und der Ökosysteme für ein Leben in Würde der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen und der Natur auf der anderen Seite. Wir wissen, dass wirtschaftliches Denken allein immer nur auf Effizienz ausgerichtet ist und dass neue Impulse heute nicht aus diesem Wirtschaftsdenken kommen werden.
Ethische Logik der Fairness
Die wirtschaftspolitische Herausforderung, der wir auf der ganzen Welt gegenüberstehen, ist also die Frage, wie man Wirtschaft und Ethik verbindet, ohne als "Spinner" dargestellt zu werden. Vor allem anderen steht daher heute unsere geistige Kraft und unser politische Wille, den Primat der politischen Ethik vor der Logik des Marktes unter veränderten Bedingungen neu zu bedenken. Dies bedeutet, wir müssen nach umfassenden ordnungspolitischen Leitbildern suchen, die auf die Lebensdienlichkeit des gesellschaftlichen Wirtschaftens ausgerichtet sind. Solch ein neues Denken bedeutet nicht ein besonderes Intelligenztraining, sondern wir sollten uns bildlich vorstellen, dass die heutige Debatte auf einer horizontalen Ebene geführt wird, mit der Logik des Marktes an einem Pol angesiedelt und der Konfliktpol der ethischen Logik des fairen und gerechten Zusammenlebens auf der andren Seite. Beide Seiten versuchen ihre Argumente auszubauen. Neues Denken bedeutet, das Verhältnis der beiden Pole um neuzig Grad in die Vertikale zu drehen und von einem anderen Bild auszugehen: Es kommt doch darauf an, dass die Freiräume privaten Wirtschaftens und Nutzenstrebens in die ethisch-politischen Grundsätze einer gerechten Gesellschaft eingebunden sind.
Diese Ansicht mag etwas weltfremd klingen, aber seit einem Jahrzehnt hat das Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen die praxisnahe integrative Wirtschaftsethik unter der Leitung von Prof. Ulrich entwickelt. Dies ist zur Zeit der einzige systematische Ansatz, der in dieser Weise die Frage nach den normativen Voraussetzungen eines unverkürzten Begriffs vom vernünftigen Wirtschaften aus dem Blickwinkel der Lebenswelt ins Zentrum stellt und nach den umfassenden normativen Grundlagen einer lebensdienlichen Marktwirtschaft im Rahmen einer wohlgeordneten freien Gesellschaft sucht. Der integrative Ansatz unterscheidet, nach philosopisch-ethischen Klärung des moral point of view, drei systematische Grundaufgaben wirtschaftsethischer Reflexion:
(a) die Kritik der vermeintlich "wertfreien" ökonomischen Sachlogik und ihrer normativen Überhöhung zum Ökonomismus
(b) die Klärung der ethischen Gesichtspunkte einer lebensdienlichen Ökonomie, und
(c) die Bestimmung der "Orte" der Moral des Wirtschaftens in einer wohlgeordneten Gesellschaft freier Bürger.
Dem Leser wird die Erklärung des ersten Punktes erspart und Ulrichs integrative Wirtschaftethik wird an Hand des Gesichtspunkts einer lebensdienlichen Ökonomie erklärt. Wirtschaften heißt "Werte schaffen" und dann ergibt sich natürlich die Frage: "Welche Werte und für wen?" Der "Wert" des Wirtschaftens ist unzertrennlich mit den beiden Bezugspunkten des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens verbunden und somit ergeben sich die zwei Elementarfragen einer lebensdienlichen Ökonomie. Die Sinnfrage: Welche Werte sollen wirtschaftend geschaffen werden? Die Legitimationsfrage: Für wen sind Werte zu schaffen?
Neuer Präsidentenpalast
Die Antwort auf die Sinnfrage des Wirtschaftens ergibt sich letzlich aus dem kulturellen Lebensentwurf, mit dem wir uns identifizieren oder den wir für gut befinden. Dies bedeutet, die Grundbedürfnisse aller Mitglieder einer Volkswirtschaft zu erkennen und die Menschen zu emanzipieren. Man kann als Bürger (Mitglied eines republikanischen Bürgerethos) nur sinnvoll agieren, wenn man dazu befähigt ist. Im Falle Namibias würde dies bedeuten, dass alle Bürger befähigt werden (Bildung und Kultur) durch die Bereitstellung von Grundfähigkeiten und dazu auch dual der Ressourcenzugang (Kreditzugang, einfache Unternehmungsgründung, etc.) durch staatliche Rahmenbedingungen gefördert werden muss. Die Wirtschaftspolitik ist nur ethisch, wenn alle Bürger in die Lage versetzt werden, sich sowohl hinreichend leistungs- und kommunikationsfähige Subjekte in den volkswirtschaftlichen Produktions- und Konsumtionsprozess zu integrieren als auch sich aus den existenziellen Zwängen und Abhängigkeiten des Marktes hinreichend zu emanzipieren. In der Praxis umgesetzt würde dies bedeuten, dass Namibia es sich nicht leisten kann (ethisch gesehen), einen neuen Präsidentenpalast zu bauen, wenn nicht genügend Grundschulen, Lehrer und Lehrbücher vorhanden sind - was leider der Fall ist. Wirtschaften ist also nur sinnvoll, wenn die Lebensgrundlagen für alle Mitglieder einer Gesellschaft vorhanden sind. Ein gutes Leben und Kulturfreiheit würde auch bedeuten, dass man nicht "unsinnig" ist mit der Veränderung von Straßennamen (siehe Swakopmund).
Die Legimitationsfrage spricht die Berechtigung von Grundrechten an. Dies bedeutet nicht nur Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, sondern auch ein Leben in realer Freiheit und Selbstachtung führen zu können. Prüfstein einer legitimen Marktwirtschaft ist zum Beispiel, wie man mit "Verlierern" umgeht. Folgende Fragen müssten z.B. geklärt werden: Besteht eine Arbeitslosenunterstützung, gibt es Mindestlöhne, ist die Altersrente akzeptabel, kann man bei staatlichen Instanzen Arbeit bekommen ohne Mitglied der regierenden Partei zu sein? Eine ethische, lebensdienliche Entwicklung würde im Falle Namibias also bedeuten, dass Staatsausgaben primär die Grundfähigkeiten und Grundrechte aller Bürger fördern sollten, bevor man Millionen für z. B. Air Namibia ausgibt. Die Wirtschaftspolitik sollte sich an dem Leitbild der Sinnfrage und der Legimitationsfrage orientieren. Dies bedeutet auch dass Politiker und Führungskräfte in der Privatwirtschaft öffentlich sich mit der Sinn- und Legimitationsfrage auseinandersetzen und als Leitbilder dienen. Nur so kann ein Gemeinwohl sich entwickeln.
Orte der Moral
Der letzte Baustein einer Wirtschaftsethik besteht darin, die "Orte" der Moral und Verantwortungsübernahme für eine lebensdienliche Wirtschaft zu klären. Wirtschaftsethische Postulate bleiben utopisch, wenn man nicht die "Orte" der Moral bestimmt.
1. Der erste "Ort" der Moral ist die Wirtschaftsbürgerethik. Die wiederum setzt sich aus drei Ebenen zusammen, nämlich:
" Die republikanische Bürgertugend innerhalb einer liberalen Gesellschaft. Dies bedeutet die Förderung des Gemeinwohls oder vielmehr der "öffentliche Vernunftgebrauch" (Kant) im Rahmen einer republikanischen Öffentlichkeit. Im übertragenen Sinne für Namibia würde es bedeuten, dass weniger Menschen nur "meckern", sich dafür aber für das Gemeinwohl einer Wertgemeinschaft einsetzen.
" Die zweite Ebene besteht aus der deliberativen Politik im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit als Ort der wirtschaftsbürgerlichen Mitverantwortung. Die Politik im Sinne des Gesprächs, wie schon Kant es damals als individuelle Emanzipation des einzelnen Menschen beschrieben hat: " ... der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen". Dies bedeutet Meinungsfreiheit, Pressefreitheit und Rechenschaftspflicht aller staatlichen Handlungen und Entscheidungen. In Namibia würde das auch bedeuten, dass mehr Menschen sich an der deliberativen Politik beteiligen (speziell die Weißen) und dass Kritiker nicht immer als "Systemgegner" angefeindet werden.
" Die letzte Ebene ist die wirtschafsbürgerliche Selbstbindung im Berufs- und Privatleben. Damit meint Ulrich den Verzicht auf Eigennutzmaximierung, die Bekämpfung von Korruption, Zivilcourage, Berufsethik, kritischer Konsum (Kauf von Bioprodukten), private Kapitalanlagen in Ethikfonds und die Kunst des Genug-haben-könnens zu entwickeln.
2. Der zweite "Ort" der Moral ist die Ordnungsethik. Eine normative Orientierung einer Ordnungsethik besteht darin, den Primat der Politik vor der Logik des Marktes zu beanspruchen. Ordnungspolitische Reform kann auf nationaler, regionaler und supranationaler Ebene stattfinden. Wichtig ist, dass Unternehmer und ihre Verbände (Handelskammern) eine Mitverantwortung tragen. Auf nationaler Ebene würde es in der Praxis bedeuten, dass man zum Beispiel auf Wettbewerbspolitik (Kartellamt) achtet, auf Verbraucherschutz, ökologische Normen, Eigentumsrechte und Kinderschutz. Auf regionaler Ebene (Sadc) wäre es das ordnungspolitische Moralverhalten z. B. die Einhaltung von Menschenrechten, Demokratie und Pressefreitheit aller Migliedstaaten. Länder (z. B. Simbabwe), die sich nicht an die ordungspolitischen Normen halten, sollte man ausschließen und nicht bejubeln, wenn ein Despot wiedergewählt wird. Eine Reform der Ordnungspolitik auf supranationaler Ebene wäre ein größeres Solidaritätsbewusstsein der Geberländer (speziell der USA), Einhaltung von Klimaschutzprotokollen, eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO) und letztens eine "Zivilisierung" der globalen Finanzmärkte.
3. Nach der Wirtschaftsbürgerethik und der Ordnungsethik sieht Ulrich die Unternehmensethik (business ethics) als dritten "Ort" der Moral. Es wäre falsch, den Staat als Löser aller Probleme zu suchen. Verantwortungsträger und Unternehmer sollten ihr grundlegendes Unternehmenverständnis hinterfragen. Zur Zeit verfolgen die meisten Unternehmer Gewinnmaximierung und "shareholder value". Ist das noch eine gute Unternehmensführung in einer modernen Gesellschaft? Zum Beispiel die Kapitalgeber erwarten höhere Profite und sie meinen das moralische Recht zu besitzen, höhere Profite mit Massenentlassungen zu erwirtschaften (z. B. Kursverluste deutscher Aktien hatten zur Folge, dass Firmen durch Entlassungen von Tausenden von Menschen darauf reagieren, siehe Deutsche Telekom und Deutsche Bank). Niemand stellt sich die Frage, dass wenn jemand jahrelang für ein Unternehmen gearbeitet hat, ob der Arbeitnehmer auch das moralische Recht in einer unternehmerischen Krise hat, anständig behandelt zu werden. Es ist also heuzutage scheinbar ethisch akzeptabel, eine Umverteilung des Kapitals von den Arbeitnehmern zu den Kapitalgebern mit Applaus und höherem Aktienwert zu belohnen. Dieses Beispiel zeigt doch, dass Unternehmer in neuen Denkmustern zur Vernunft kommen müssen, wenn sie sich der Mitverantwortung stellen wollen. Das heißt, die Bereitschaft, das unternehmerische Erfolgsstreben prinzipiell in autonomer Selbstbindung unter die Prämisse der Legitimität und Verantwortlichkeit des eigenen Tuns gegenüber allen Betroffenen (Mitarbeiter, Kunden, Eigentümer und Öffentlichkeit) zu stellen. Des öfteren kann man bei namibischen Unternehmen beobachten, dass Menschen als Kostenfaktor gesehen werden und es fehlt einfach an Zwischenmenschlichkeit. Zweitens, Unternehmer fordern oft eine blinde Loyalität anstatt Mitarbeiter zu ermutigen und zu berechtigen eine kritische Loyalität zu offenbaren.
Der Leser mag sich fragen, ob ein wirtschaftsethischer Ansatz für Afrika zeitgemäß ist? Sollte die Initiative nicht von Europa oder den USA kommen? Als Einwohner dieses Kontinents kann man aus jahrelanger Erfahrung wohl behaupten, dass es wäre falsch ist, die Ursachen der wirtschaftlichen Miseren nur im Kolonialismus, in Trockenheiten oder den korrupten Eliten zu suchen. Ist die Hauptursache der Armut und Stagnation nicht die verlorene Würde über Jahrzehnte, und der Glaube, eine liberale Wirtschaftspolitik könne den homo economicus in der afrikanischen Kultur erwecken? Der soziale Zerfall unserer Gesellschaft fordert den Menschen zu einem vernünftigen Denken. Solch eine neue Orientierung im Denken und die Suche nach der Würde eines jeglichen Menchen (selbst jene, die keinen Beitrag zur Wirtschaft leisten) sollte doch die Aufgabe der Wirtschaftspolitik sein - auch in Namibia. Damals hatte schon Immanuel Kant folgendes geschrieben: "Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." Ist es nicht Zeit für mehr Ethik und Würde in Namibia und für die Welt allgemein?
Tut eine neue Aufklärung Not? Das Nachdenken über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft hatte im Jahre 1989 fasst den Nullpunkt erreicht. Dieser wichtige Wendepunkt der Gesellschaft ließ den letzten Zweifel an der systemischen Überlegenheit des Kapitalismus westlicher Prägung verschwinden, untermauert von einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordung. Der amerikanische Akademiker Francis Fukuyama deklarierte sogar, wir befänden uns am "Ende der Geschichte" und meinte damit, dass es von nun an keine Alternative mehr zur marktförmig integrierten Demokratie westlichen Zuschnitts gäbe. Die Protagonisten, die meinten, das philosophische postmoderne Ende sei eingeläutet, sollten jedoch nicht Recht behalten. Spätestens nach der Weltwirtschaftsflaute, Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Armut und ökologischen Hiobsbotschaften im Anfang des 21. Jahrhunderts sind sich viele Menschen bewusst - "die Geschichte" ist zurückgekehrt. Mit der Rückkehr der Geschichte ist die Tatsache gemeint, dass die liberal-demokratischen Gesellschaften in Europa und Amerika heute von ungleich schwierigeren Selbstverständigungsprozessen stehen, als dies in Zeiten der Systemdualität von Marktwirtschaft und Sozialismus der Fall war. Heute stehen die liberal-demokratischen Gesellschaften vor der Herausforderung, dass sie sich von innen heraus legitimieren müssen. Leider verstehen das noch wenige Politiker und Wirtschaftler (auch in Namibia) und die Debatte konzentriert sich stets noch auf "mehr" oder "weniger" Markt. Einem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, dass es schon lange nicht mehr ausreicht, einerseits mehr Staat oder andererseits mehr Markt zu postulieren und diese in der wirtschaftspolitischen Debatte gegeneinander auszuspielen. Vernünftige Politiker wissen längst, dass wir in einer funktionierenden Wirtschaftsordung sowohl Marktelemente als auch Staatselemente brauchen.
Die eigentliche Frage ist heute eigentlich eine ganz andere. Der Ökonomismus und der Triumpfzug der Marktwirtschaft beeinflussten heutzutage unsere Vorstellungswelt in der Richtung, dass die Martkwirtschaft als eine "natürliche" Wirtschaftsordung betrachtet wird. Die "unsichtbare Hand" des Marktes wird als ein "Ort der Moral" gesehen. Als logische Konsequenz ergibt sich das praktische Postulat, das Wirken von Märkten werde schon für das Gemeinwohl sorgen. Dass solch ein Denken langfristig nicht der richtige Weg ist, erkennt man daran, dass mehr und mehr Kritiker vor dem Sachzwangdenken der "reinen" ökonomischen Vernunft warnen. Der Wirtschaftsethiker Prof. Ulrich von der Universität St. Gallen (Schweiz) warnt vor der Instrumentalisierung der Politik im ökonomischen Interesse der "internationalen Wettbewerbsfähigkeit" der Privatwirtschaft. Prof. Ulrichs Kernthese ist es, dass wir es weniger mit realen Sachzwängen als mit ideologischen Denkzwängen zu tun haben. Führende Wirtschaftler und Politiker glauben wirklich daran, dass alles langfristig gut wird und sich einpendelt, wenn wir bloß die "unsichtbare Hand des Marktes" ihr segenreiches Werk vollbringen lassen. Diese verkehrte Logik führt auch leider oft dazu, dass ökologische Fragen und Umweltprobleme als eine Verantwortung des Marktes gesehen werde, der ja die Probleme schon "lösen" wird. Wenige Menschen sehen, dass die Errungenschaften der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft hierdurch gefährdet werden und die Frage entsteht, wie die heutige Gesellschaft diese Herausforderung annimmt ohne in Verlegenheit zu geraten, wenn eines Tages die kommende Generation sie zur Rechenschaft zieht.
Die eigentliche Frage unserer Generation - also heute - ist nämlich, welche Rolle oder Gewicht wir einer funktionierenden, produktiven Wirtschaft in der Gesellschaft geben. Zugespitzt ist es die Frage nach dem Verhältnis von wirtschaftlicher Effizienz auf der einen Seite, sowie ethisch-politischer Gerechtigkeit und die Bewahrung der Lebensgrundlagen, der Ressourcen und der Ökosysteme für ein Leben in Würde der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen und der Natur auf der anderen Seite. Wir wissen, dass wirtschaftliches Denken allein immer nur auf Effizienz ausgerichtet ist und dass neue Impulse heute nicht aus diesem Wirtschaftsdenken kommen werden.
Ethische Logik der Fairness
Die wirtschaftspolitische Herausforderung, der wir auf der ganzen Welt gegenüberstehen, ist also die Frage, wie man Wirtschaft und Ethik verbindet, ohne als "Spinner" dargestellt zu werden. Vor allem anderen steht daher heute unsere geistige Kraft und unser politische Wille, den Primat der politischen Ethik vor der Logik des Marktes unter veränderten Bedingungen neu zu bedenken. Dies bedeutet, wir müssen nach umfassenden ordnungspolitischen Leitbildern suchen, die auf die Lebensdienlichkeit des gesellschaftlichen Wirtschaftens ausgerichtet sind. Solch ein neues Denken bedeutet nicht ein besonderes Intelligenztraining, sondern wir sollten uns bildlich vorstellen, dass die heutige Debatte auf einer horizontalen Ebene geführt wird, mit der Logik des Marktes an einem Pol angesiedelt und der Konfliktpol der ethischen Logik des fairen und gerechten Zusammenlebens auf der andren Seite. Beide Seiten versuchen ihre Argumente auszubauen. Neues Denken bedeutet, das Verhältnis der beiden Pole um neuzig Grad in die Vertikale zu drehen und von einem anderen Bild auszugehen: Es kommt doch darauf an, dass die Freiräume privaten Wirtschaftens und Nutzenstrebens in die ethisch-politischen Grundsätze einer gerechten Gesellschaft eingebunden sind.
Diese Ansicht mag etwas weltfremd klingen, aber seit einem Jahrzehnt hat das Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen die praxisnahe integrative Wirtschaftsethik unter der Leitung von Prof. Ulrich entwickelt. Dies ist zur Zeit der einzige systematische Ansatz, der in dieser Weise die Frage nach den normativen Voraussetzungen eines unverkürzten Begriffs vom vernünftigen Wirtschaften aus dem Blickwinkel der Lebenswelt ins Zentrum stellt und nach den umfassenden normativen Grundlagen einer lebensdienlichen Marktwirtschaft im Rahmen einer wohlgeordneten freien Gesellschaft sucht. Der integrative Ansatz unterscheidet, nach philosopisch-ethischen Klärung des moral point of view, drei systematische Grundaufgaben wirtschaftsethischer Reflexion:
(a) die Kritik der vermeintlich "wertfreien" ökonomischen Sachlogik und ihrer normativen Überhöhung zum Ökonomismus
(b) die Klärung der ethischen Gesichtspunkte einer lebensdienlichen Ökonomie, und
(c) die Bestimmung der "Orte" der Moral des Wirtschaftens in einer wohlgeordneten Gesellschaft freier Bürger.
Dem Leser wird die Erklärung des ersten Punktes erspart und Ulrichs integrative Wirtschaftethik wird an Hand des Gesichtspunkts einer lebensdienlichen Ökonomie erklärt. Wirtschaften heißt "Werte schaffen" und dann ergibt sich natürlich die Frage: "Welche Werte und für wen?" Der "Wert" des Wirtschaftens ist unzertrennlich mit den beiden Bezugspunkten des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens verbunden und somit ergeben sich die zwei Elementarfragen einer lebensdienlichen Ökonomie. Die Sinnfrage: Welche Werte sollen wirtschaftend geschaffen werden? Die Legitimationsfrage: Für wen sind Werte zu schaffen?
Neuer Präsidentenpalast
Die Antwort auf die Sinnfrage des Wirtschaftens ergibt sich letzlich aus dem kulturellen Lebensentwurf, mit dem wir uns identifizieren oder den wir für gut befinden. Dies bedeutet, die Grundbedürfnisse aller Mitglieder einer Volkswirtschaft zu erkennen und die Menschen zu emanzipieren. Man kann als Bürger (Mitglied eines republikanischen Bürgerethos) nur sinnvoll agieren, wenn man dazu befähigt ist. Im Falle Namibias würde dies bedeuten, dass alle Bürger befähigt werden (Bildung und Kultur) durch die Bereitstellung von Grundfähigkeiten und dazu auch dual der Ressourcenzugang (Kreditzugang, einfache Unternehmungsgründung, etc.) durch staatliche Rahmenbedingungen gefördert werden muss. Die Wirtschaftspolitik ist nur ethisch, wenn alle Bürger in die Lage versetzt werden, sich sowohl hinreichend leistungs- und kommunikationsfähige Subjekte in den volkswirtschaftlichen Produktions- und Konsumtionsprozess zu integrieren als auch sich aus den existenziellen Zwängen und Abhängigkeiten des Marktes hinreichend zu emanzipieren. In der Praxis umgesetzt würde dies bedeuten, dass Namibia es sich nicht leisten kann (ethisch gesehen), einen neuen Präsidentenpalast zu bauen, wenn nicht genügend Grundschulen, Lehrer und Lehrbücher vorhanden sind - was leider der Fall ist. Wirtschaften ist also nur sinnvoll, wenn die Lebensgrundlagen für alle Mitglieder einer Gesellschaft vorhanden sind. Ein gutes Leben und Kulturfreiheit würde auch bedeuten, dass man nicht "unsinnig" ist mit der Veränderung von Straßennamen (siehe Swakopmund).
Die Legimitationsfrage spricht die Berechtigung von Grundrechten an. Dies bedeutet nicht nur Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, sondern auch ein Leben in realer Freiheit und Selbstachtung führen zu können. Prüfstein einer legitimen Marktwirtschaft ist zum Beispiel, wie man mit "Verlierern" umgeht. Folgende Fragen müssten z.B. geklärt werden: Besteht eine Arbeitslosenunterstützung, gibt es Mindestlöhne, ist die Altersrente akzeptabel, kann man bei staatlichen Instanzen Arbeit bekommen ohne Mitglied der regierenden Partei zu sein? Eine ethische, lebensdienliche Entwicklung würde im Falle Namibias also bedeuten, dass Staatsausgaben primär die Grundfähigkeiten und Grundrechte aller Bürger fördern sollten, bevor man Millionen für z. B. Air Namibia ausgibt. Die Wirtschaftspolitik sollte sich an dem Leitbild der Sinnfrage und der Legimitationsfrage orientieren. Dies bedeutet auch dass Politiker und Führungskräfte in der Privatwirtschaft öffentlich sich mit der Sinn- und Legimitationsfrage auseinandersetzen und als Leitbilder dienen. Nur so kann ein Gemeinwohl sich entwickeln.
Orte der Moral
Der letzte Baustein einer Wirtschaftsethik besteht darin, die "Orte" der Moral und Verantwortungsübernahme für eine lebensdienliche Wirtschaft zu klären. Wirtschaftsethische Postulate bleiben utopisch, wenn man nicht die "Orte" der Moral bestimmt.
1. Der erste "Ort" der Moral ist die Wirtschaftsbürgerethik. Die wiederum setzt sich aus drei Ebenen zusammen, nämlich:
" Die republikanische Bürgertugend innerhalb einer liberalen Gesellschaft. Dies bedeutet die Förderung des Gemeinwohls oder vielmehr der "öffentliche Vernunftgebrauch" (Kant) im Rahmen einer republikanischen Öffentlichkeit. Im übertragenen Sinne für Namibia würde es bedeuten, dass weniger Menschen nur "meckern", sich dafür aber für das Gemeinwohl einer Wertgemeinschaft einsetzen.
" Die zweite Ebene besteht aus der deliberativen Politik im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit als Ort der wirtschaftsbürgerlichen Mitverantwortung. Die Politik im Sinne des Gesprächs, wie schon Kant es damals als individuelle Emanzipation des einzelnen Menschen beschrieben hat: " ... der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen". Dies bedeutet Meinungsfreiheit, Pressefreitheit und Rechenschaftspflicht aller staatlichen Handlungen und Entscheidungen. In Namibia würde das auch bedeuten, dass mehr Menschen sich an der deliberativen Politik beteiligen (speziell die Weißen) und dass Kritiker nicht immer als "Systemgegner" angefeindet werden.
" Die letzte Ebene ist die wirtschafsbürgerliche Selbstbindung im Berufs- und Privatleben. Damit meint Ulrich den Verzicht auf Eigennutzmaximierung, die Bekämpfung von Korruption, Zivilcourage, Berufsethik, kritischer Konsum (Kauf von Bioprodukten), private Kapitalanlagen in Ethikfonds und die Kunst des Genug-haben-könnens zu entwickeln.
2. Der zweite "Ort" der Moral ist die Ordnungsethik. Eine normative Orientierung einer Ordnungsethik besteht darin, den Primat der Politik vor der Logik des Marktes zu beanspruchen. Ordnungspolitische Reform kann auf nationaler, regionaler und supranationaler Ebene stattfinden. Wichtig ist, dass Unternehmer und ihre Verbände (Handelskammern) eine Mitverantwortung tragen. Auf nationaler Ebene würde es in der Praxis bedeuten, dass man zum Beispiel auf Wettbewerbspolitik (Kartellamt) achtet, auf Verbraucherschutz, ökologische Normen, Eigentumsrechte und Kinderschutz. Auf regionaler Ebene (Sadc) wäre es das ordnungspolitische Moralverhalten z. B. die Einhaltung von Menschenrechten, Demokratie und Pressefreitheit aller Migliedstaaten. Länder (z. B. Simbabwe), die sich nicht an die ordungspolitischen Normen halten, sollte man ausschließen und nicht bejubeln, wenn ein Despot wiedergewählt wird. Eine Reform der Ordnungspolitik auf supranationaler Ebene wäre ein größeres Solidaritätsbewusstsein der Geberländer (speziell der USA), Einhaltung von Klimaschutzprotokollen, eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO) und letztens eine "Zivilisierung" der globalen Finanzmärkte.
3. Nach der Wirtschaftsbürgerethik und der Ordnungsethik sieht Ulrich die Unternehmensethik (business ethics) als dritten "Ort" der Moral. Es wäre falsch, den Staat als Löser aller Probleme zu suchen. Verantwortungsträger und Unternehmer sollten ihr grundlegendes Unternehmenverständnis hinterfragen. Zur Zeit verfolgen die meisten Unternehmer Gewinnmaximierung und "shareholder value". Ist das noch eine gute Unternehmensführung in einer modernen Gesellschaft? Zum Beispiel die Kapitalgeber erwarten höhere Profite und sie meinen das moralische Recht zu besitzen, höhere Profite mit Massenentlassungen zu erwirtschaften (z. B. Kursverluste deutscher Aktien hatten zur Folge, dass Firmen durch Entlassungen von Tausenden von Menschen darauf reagieren, siehe Deutsche Telekom und Deutsche Bank). Niemand stellt sich die Frage, dass wenn jemand jahrelang für ein Unternehmen gearbeitet hat, ob der Arbeitnehmer auch das moralische Recht in einer unternehmerischen Krise hat, anständig behandelt zu werden. Es ist also heuzutage scheinbar ethisch akzeptabel, eine Umverteilung des Kapitals von den Arbeitnehmern zu den Kapitalgebern mit Applaus und höherem Aktienwert zu belohnen. Dieses Beispiel zeigt doch, dass Unternehmer in neuen Denkmustern zur Vernunft kommen müssen, wenn sie sich der Mitverantwortung stellen wollen. Das heißt, die Bereitschaft, das unternehmerische Erfolgsstreben prinzipiell in autonomer Selbstbindung unter die Prämisse der Legitimität und Verantwortlichkeit des eigenen Tuns gegenüber allen Betroffenen (Mitarbeiter, Kunden, Eigentümer und Öffentlichkeit) zu stellen. Des öfteren kann man bei namibischen Unternehmen beobachten, dass Menschen als Kostenfaktor gesehen werden und es fehlt einfach an Zwischenmenschlichkeit. Zweitens, Unternehmer fordern oft eine blinde Loyalität anstatt Mitarbeiter zu ermutigen und zu berechtigen eine kritische Loyalität zu offenbaren.
Der Leser mag sich fragen, ob ein wirtschaftsethischer Ansatz für Afrika zeitgemäß ist? Sollte die Initiative nicht von Europa oder den USA kommen? Als Einwohner dieses Kontinents kann man aus jahrelanger Erfahrung wohl behaupten, dass es wäre falsch ist, die Ursachen der wirtschaftlichen Miseren nur im Kolonialismus, in Trockenheiten oder den korrupten Eliten zu suchen. Ist die Hauptursache der Armut und Stagnation nicht die verlorene Würde über Jahrzehnte, und der Glaube, eine liberale Wirtschaftspolitik könne den homo economicus in der afrikanischen Kultur erwecken? Der soziale Zerfall unserer Gesellschaft fordert den Menschen zu einem vernünftigen Denken. Solch eine neue Orientierung im Denken und die Suche nach der Würde eines jeglichen Menchen (selbst jene, die keinen Beitrag zur Wirtschaft leisten) sollte doch die Aufgabe der Wirtschaftspolitik sein - auch in Namibia. Damals hatte schon Immanuel Kant folgendes geschrieben: "Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." Ist es nicht Zeit für mehr Ethik und Würde in Namibia und für die Welt allgemein?
Kommentar
Allgemeine Zeitung
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