Wo einst der Fuß des Kriegers trat, wächst heut der schönste Kopfsalat (Teil 18)
Ist die Ortschaft noch so klein, es gibt immer irgendwo einen, der zwischen Gut und Böse nicht unterscheiden kann. Dann wird einer gebraucht, der zwischen Gut und Böse unterscheiden muss. Abgesehen von den militärischen Aktionen der Schutztruppe tragen sich in der Kolonie und besonders in Swakopmund immer mehr Kriminalfälle zu. Das „südlichste Seebad Deutschlands“ braucht unbedingt ein Gericht.
1904 werden die Gebrüder Adolf und Heinrich Bause mit dem Bau eines Staatshauses beauftragt. Auf der Düne oberhalb der Mole, gleich hinter dem Leuchtturm, entsteht es. Westlich des Gebäudes wacht der Reichsadler über dem kaiserlichen Bezirksgericht, östlich wacht er über dem kaiserlichen Bezirksamt. Zum Staatshaus soll auch eine Turmuhr gehören. „Eine öffentliche Uhr kann für einen geregelten militärischen Dienst nicht entbehrt werden“, steht 1905 als Begründung im Antragsformular. Beabsichtigt ist, die Uhr am Ost-Turm des Neubaus anzubringen. Die Firma Arthur Koppel bestellt sie bei Hörz in Ulm für 1104 Mark. Ein Jahr später trifft der teure, langersehnte Zeitanzeiger aus Deutschland endlich in Swakopmund ein. Ein paar Wochen tickt die Uhr richtig, dann sind die Zeiger festgerostet. Für einen pünktlichen Arbeitsbeginn müssen die Beamten sowie Richter Dr. Fuchs und seine Nachfolger Kühnast, Sperling und Schmidt wieder in ihre Westentaschen nach der Taschenuhr greifen.
Noch hat Swakopmund nicht viele Einwohner, dafür aber der jeweilige Amtsrichter eine Menge zu tun. Über Arbeitsmangel können sie sich nicht beklagen, eher um zu wenige Stunden, um den Aktenberg zu bewältigen. Es geht um Hochverrat, Mord, Siegelbruch, Beschimpfung, Störung des Gottesdienstes, Entführung von Minderjährigen zum Zwecke der Eheschließung, Hehlerei und Glücksspiel und weitere Vergehen wie Bettelei, Arbeitsscheu und sogar Tierquälerei.
„Um der immer mehr überhand nehmenden Unsicherheit zu begegnen, sind kürzlich Nachtpatrouillen eingerichtet worden. Sie haben auch sofort Gelegenheit gehabt, den Beweis ihrer Notwendigkeit und Nützlichkeit zu führen“, berichtet die Zeitung 1905. In der Nacht vom 23. zum 24. November stößt die Patrouille in der Nähe des Krankenhauses auf drei Männer, die im Begriff sind, eine Kiste wegzuschleppen. Wie im wilden Westen kommt es zur Schießerei auf offener Straße. Einen der Täter, ein entflohener Häftling aus Windhuk, erwischt es. Die beiden anderen können entkommen.
Die Gesetzeshüter melden zudem, „vier Weiße wegen Diebstahl, einer wegen Hehlerei und einer wegen Falschmünzerei in Gewahrsam“. In regelmäßigen Abständen druckt die Zeitung den Polizeibericht ab. Binnen 14 Tagen tragen sich zwei Diebstähle, eine Beleidigung, eine Leichenschändung, ein Lizenzvergehen, zwei Fälle von Schiffsdesertion und zwei Fälle von Körperverletzung zu.
Je mehr sich die verschiedenen Delikte häufen, desto lauter wird der Wunsch nach härteren Strafmaßnahmen. Am 28. Februar 1914 veröffentlicht die Zeitung den Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch: „Jugendliche, welche in der Anfangszeit wegen mangelnder Erkenntnis der Strafbarkeit freigesprochen und der Familie oder einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen wurden, sollen künftig außerdem noch für drei Jahre, jedoch nicht länger als bis zu ihrer Volljährigkeit, unter Schutzaufsicht gestellt werden können“, wird unter anderem erwähnt. Oder: „Die Einfuhr von unverarbeitetem Hanf und Hanfsaat (Dagga, Cannabis), der Anbau und der Vertrieb desselben sowie das Rauchen von Hanf ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten, allein oder in Verbindung miteinander, bestraft.“
Selbst bei Indiskretionsdelikten droht eine Geldstrafe oder sechs Monate Haft. Dafür soll der Grundsatz „Unkenntnis des Gesetzes schützt vor Strafe nicht“ in Zukunft bedeutend milder geurteilt werden. Wenn der Täter also im „Glauben gehandelt hat“, die Tat sei erlaubt, weil er sich über das Gesetz und seine Anwendbarkeit irrt, kann eine Strafminderung auf das Mindestmaß der Strafe eintreten. Liegt sogar ein entschuldbarer Irrtum über das Strafrecht vor, kann der Richter nach freiem Ermessen und unter besonderen Umständen gänzlich von einer Strafe absehen.
Ebenfalls im Strafgesetz-Entwurf finden sich zahlreiche Bestimmungen in Bezug auf Personen, welche infolge Trunkenheit strafbare Handlungen begangen haben. So unter anderem: „Die Strafminderung, die bei verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters eintritt, fällt dann fort, wenn die Bewusstseinsstörung und damit die mangelnde Zurechnungsfähigkeit auf selbst verschuldete Trunkenheit zurückzuführen ist.“
Wer also „abgefüllt“ wird, kommt besser dabei weg? Das klingt ja so, als müsse er lediglich dem Gericht beweisen, er habe an jenem Tag im Glauben gehandelt, „auf einem Bein könne man nicht stehen, ein weiterer Schnaps sei wohl noch erlaubt.“
Ein zeitlich beschränktes Wirtshausverbot ist vorgesehen für solche, die strafbare Handlungen in selbstverschuldeter Trunkenheit begehen oder „im Zustande der Trunkenheit Neigung zu Ausschreitungen gezeigt (z. B. Baumfrevel getrieben) haben.“ Baumfrevel? Tamariskensträucher schmücken damals die Stadt; viel mehr wächst hier noch nicht, doch das neue Strafgesetzbuch gilt für ganz Deutschland und demnach auch für seine Kolonien. Was wär es ein Segen für die Natur, würde man diejenigen heutzutage ahnden, die Namibias Landschaft mit „einfach wild drauflos sägen“ zerstören.
Wird Trunkenheit bei Personen festgestellt, können diese durch Gerichtsbeschluss in einer Trinkerheilanstalt untergebracht werden. Auch so etwas besitzt die kleine Küstenstadt nicht, aber in ihrer prachtvollen Vollzugsanstalt sind alle Straftäter willkommene Gäste. Eigentlich sollen Verurteilte – nach einer Verordnung des Reichskanzlers vom 17. Juni 1912 – längere Haftstrafen im Heimatland, genauer genommen in Preußen, antreten. Bei Zuchthausstrafen steht die Anstalt Lüneburg, bei Gefängnisstrafen Hannover oder Neumünster zur Auswahl. Leben Verurteilte allerdings „in festen Erwerbsverhältnissen in einer Kolonie“, dürfen sie „zur Vermeidung von Härten“ in der Nähe des Wohnsitzes hinter Gittern Buße tun, heißt es.
Nach der Kapitulation der Deutschen im Jahr 1915 wird alles wieder über den Haufen geworfen. Es zählt das Gesetz der Besatzungsmacht. Jetzt geht es auch dem ehrlichen Swakopmunder an den Kragen. Geplünderte Häuser, Internierung, Ausweisung, Bürokratie. Es dauert Jahre, bis sich die Stadt davon erholt.
Heute ist das alte Bezirksgericht die Sommerresidenz des Präsidenten.
1904 werden die Gebrüder Adolf und Heinrich Bause mit dem Bau eines Staatshauses beauftragt. Auf der Düne oberhalb der Mole, gleich hinter dem Leuchtturm, entsteht es. Westlich des Gebäudes wacht der Reichsadler über dem kaiserlichen Bezirksgericht, östlich wacht er über dem kaiserlichen Bezirksamt. Zum Staatshaus soll auch eine Turmuhr gehören. „Eine öffentliche Uhr kann für einen geregelten militärischen Dienst nicht entbehrt werden“, steht 1905 als Begründung im Antragsformular. Beabsichtigt ist, die Uhr am Ost-Turm des Neubaus anzubringen. Die Firma Arthur Koppel bestellt sie bei Hörz in Ulm für 1104 Mark. Ein Jahr später trifft der teure, langersehnte Zeitanzeiger aus Deutschland endlich in Swakopmund ein. Ein paar Wochen tickt die Uhr richtig, dann sind die Zeiger festgerostet. Für einen pünktlichen Arbeitsbeginn müssen die Beamten sowie Richter Dr. Fuchs und seine Nachfolger Kühnast, Sperling und Schmidt wieder in ihre Westentaschen nach der Taschenuhr greifen.
Noch hat Swakopmund nicht viele Einwohner, dafür aber der jeweilige Amtsrichter eine Menge zu tun. Über Arbeitsmangel können sie sich nicht beklagen, eher um zu wenige Stunden, um den Aktenberg zu bewältigen. Es geht um Hochverrat, Mord, Siegelbruch, Beschimpfung, Störung des Gottesdienstes, Entführung von Minderjährigen zum Zwecke der Eheschließung, Hehlerei und Glücksspiel und weitere Vergehen wie Bettelei, Arbeitsscheu und sogar Tierquälerei.
„Um der immer mehr überhand nehmenden Unsicherheit zu begegnen, sind kürzlich Nachtpatrouillen eingerichtet worden. Sie haben auch sofort Gelegenheit gehabt, den Beweis ihrer Notwendigkeit und Nützlichkeit zu führen“, berichtet die Zeitung 1905. In der Nacht vom 23. zum 24. November stößt die Patrouille in der Nähe des Krankenhauses auf drei Männer, die im Begriff sind, eine Kiste wegzuschleppen. Wie im wilden Westen kommt es zur Schießerei auf offener Straße. Einen der Täter, ein entflohener Häftling aus Windhuk, erwischt es. Die beiden anderen können entkommen.
Die Gesetzeshüter melden zudem, „vier Weiße wegen Diebstahl, einer wegen Hehlerei und einer wegen Falschmünzerei in Gewahrsam“. In regelmäßigen Abständen druckt die Zeitung den Polizeibericht ab. Binnen 14 Tagen tragen sich zwei Diebstähle, eine Beleidigung, eine Leichenschändung, ein Lizenzvergehen, zwei Fälle von Schiffsdesertion und zwei Fälle von Körperverletzung zu.
Je mehr sich die verschiedenen Delikte häufen, desto lauter wird der Wunsch nach härteren Strafmaßnahmen. Am 28. Februar 1914 veröffentlicht die Zeitung den Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch: „Jugendliche, welche in der Anfangszeit wegen mangelnder Erkenntnis der Strafbarkeit freigesprochen und der Familie oder einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen wurden, sollen künftig außerdem noch für drei Jahre, jedoch nicht länger als bis zu ihrer Volljährigkeit, unter Schutzaufsicht gestellt werden können“, wird unter anderem erwähnt. Oder: „Die Einfuhr von unverarbeitetem Hanf und Hanfsaat (Dagga, Cannabis), der Anbau und der Vertrieb desselben sowie das Rauchen von Hanf ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten, allein oder in Verbindung miteinander, bestraft.“
Selbst bei Indiskretionsdelikten droht eine Geldstrafe oder sechs Monate Haft. Dafür soll der Grundsatz „Unkenntnis des Gesetzes schützt vor Strafe nicht“ in Zukunft bedeutend milder geurteilt werden. Wenn der Täter also im „Glauben gehandelt hat“, die Tat sei erlaubt, weil er sich über das Gesetz und seine Anwendbarkeit irrt, kann eine Strafminderung auf das Mindestmaß der Strafe eintreten. Liegt sogar ein entschuldbarer Irrtum über das Strafrecht vor, kann der Richter nach freiem Ermessen und unter besonderen Umständen gänzlich von einer Strafe absehen.
Ebenfalls im Strafgesetz-Entwurf finden sich zahlreiche Bestimmungen in Bezug auf Personen, welche infolge Trunkenheit strafbare Handlungen begangen haben. So unter anderem: „Die Strafminderung, die bei verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters eintritt, fällt dann fort, wenn die Bewusstseinsstörung und damit die mangelnde Zurechnungsfähigkeit auf selbst verschuldete Trunkenheit zurückzuführen ist.“
Wer also „abgefüllt“ wird, kommt besser dabei weg? Das klingt ja so, als müsse er lediglich dem Gericht beweisen, er habe an jenem Tag im Glauben gehandelt, „auf einem Bein könne man nicht stehen, ein weiterer Schnaps sei wohl noch erlaubt.“
Ein zeitlich beschränktes Wirtshausverbot ist vorgesehen für solche, die strafbare Handlungen in selbstverschuldeter Trunkenheit begehen oder „im Zustande der Trunkenheit Neigung zu Ausschreitungen gezeigt (z. B. Baumfrevel getrieben) haben.“ Baumfrevel? Tamariskensträucher schmücken damals die Stadt; viel mehr wächst hier noch nicht, doch das neue Strafgesetzbuch gilt für ganz Deutschland und demnach auch für seine Kolonien. Was wär es ein Segen für die Natur, würde man diejenigen heutzutage ahnden, die Namibias Landschaft mit „einfach wild drauflos sägen“ zerstören.
Wird Trunkenheit bei Personen festgestellt, können diese durch Gerichtsbeschluss in einer Trinkerheilanstalt untergebracht werden. Auch so etwas besitzt die kleine Küstenstadt nicht, aber in ihrer prachtvollen Vollzugsanstalt sind alle Straftäter willkommene Gäste. Eigentlich sollen Verurteilte – nach einer Verordnung des Reichskanzlers vom 17. Juni 1912 – längere Haftstrafen im Heimatland, genauer genommen in Preußen, antreten. Bei Zuchthausstrafen steht die Anstalt Lüneburg, bei Gefängnisstrafen Hannover oder Neumünster zur Auswahl. Leben Verurteilte allerdings „in festen Erwerbsverhältnissen in einer Kolonie“, dürfen sie „zur Vermeidung von Härten“ in der Nähe des Wohnsitzes hinter Gittern Buße tun, heißt es.
Nach der Kapitulation der Deutschen im Jahr 1915 wird alles wieder über den Haufen geworfen. Es zählt das Gesetz der Besatzungsmacht. Jetzt geht es auch dem ehrlichen Swakopmunder an den Kragen. Geplünderte Häuser, Internierung, Ausweisung, Bürokratie. Es dauert Jahre, bis sich die Stadt davon erholt.
Heute ist das alte Bezirksgericht die Sommerresidenz des Präsidenten.
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Allgemeine Zeitung
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