Zehn Jahre nach den „London Riots": Als England in Flammen stand
London (dpa) - Meterhohe Flammen schlagen aus einem Haus im Londoner Stadtteil Tottenham. Bald werden nur noch die ausgebrannten Mauern des mehrstöckigen Eckhauses im viktorianischen Stil übrig sein. Die Szene stammt von den tagelangen Ausschreitungen, die London und andere Städte in England im August 2011 heimsuchen.
Auslöser sind die tödlichen Schüsse von Polizeibeamten auf Mark Duggan. Der 29 Jahre alte Mann aus Tottenham ist in einem Minicab als Fahrgast unterwegs, als eine Sondereinheit für organisiertes Verbrechen den Wagen stoppt. Die genauen Umstände des Vorfalls sind noch immer umstritten. Nach Angaben der Polizei ist Duggan mit einer Waffe unterwegs, die er womöglich einsetzen will. Seine Familie bestreitet das. Tatsache ist, dass eine illegale Waffe nicht weit von dem Ort gefunden wird, an dem Duggan stirbt.
Doch was für die Menschen in Tottenham damals mehr zählt: Ein Mann mit irisch-jamaikanischen Wurzeln wird von Polizisten getötet. Der Labour-Abgeordnete für den Londoner Stadtteil, David Lammy, bringt es in einem „Guardian"-Interview einmal so auf den Punkt: „Um es deutlich zu sagen: Todesfälle in Polizeigewahrsam haben eine Tradition in Tottenham."
Die Wut der Straße entlädt sich nur zwei Tage später, am 6. August, und richtet sich gegen alles, was sich ihr in den Weg stellt. In erster Linie werden Polizisten angegriffen, doch auch Geschäfte werden geplündert und in Brand gesteckt. Die Gewalt breitet sich rasch auf andere Londoner Stadtteile und dann auf weitere Großstädte in ganz England aus. Ganze Straßenblöcke brennen aus. Etwa Hundert Familien verlieren ihr Zuhause.
Eine wichtige Rolle dabei spielen Soziale Medien, über die sich die Randalierer koordinieren. „Wir hatten nicht die richtige IT, um soziale Medien zu durchsuchen. Das haben wir vorher nie gebraucht", sagte einer der damals führenden Polizeibeamten einem Filmteam des „Guardian" im Jahr nach den Ausschreitungen. Dadurch sind die oft mit Kapuzen vermummten Krawallmacher der Polizei oft einen Schritt voraus. Sie spielen Katz und Maus mit den Beamten, die sich oft nur noch zurückziehen können.
Die Ausschreitungen versetzten ganze Stadtviertel in Angst und Schrecken. In Teilen der Stadt bilden sich Bürgerwehren, die beispielsweise vor Sikh-Tempeln oder türkischen Geschäften Wache schieben. „Wenn ich abends ins Bett ging, hatte ich immer einen Hammer griffbereit, weil ich Angst hatte, sie könnten auch in unsere Straße kommen", erzählt der 45-jährige John, der nicht weit von Woolwich lebt, einem der Zentren der Unruhen im Südosten Londons.
Sowohl der damalige Bürgermeister Londons Boris Johnson als auch der damalige Premierminister David Cameron brechen ihre Familienurlaube vorzeitig ab und reisen in die Hauptstadt. Doch Johnsons Versuche, sich als starker Mann zu präsentieren, gehen schief: Bei einem Ortsbesuch in einer der betroffenen Straßen muss er sich sowohl von Anwohnern Vorwürfe anhören, die sich nicht von der Polizei beschützt fühlen, als auch von den Unterstützern der Familie von Mark Duggan. „Es ist Zeit, dass die Leute, die sich an Plünderungen und Gewalt beteiligen, aufhören, soziale oder ökonomische Rechtfertigungen vorzubringen", ruft er in die Menge, doch seine Stimme ist kaum zu hören.
Die Sicht Johnsons, dass es sich vor allem um Kriminelle handelt, die aus einem Moment der Rechtlosigkeit Profit schlagen wollen, verfestigt sich weitgehend in der Darstellung der Medien und der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit. Doch so einfach ist es nicht, findet der Künstler Baff Akoto. Er sieht in den Unruhen eine Fortsetzung von gewaltsamen Aufständen, die weit zurückreichen und ihre Gründe in tiefen sozialen Verwerfungen haben. Er verweist auf die Streiks der Bergarbeiter in den 80er Jahren bis hin zu den Gordon-Riots im 18. Jahrhundert. „Das ist eine sehr britische Sache", sagt Akoto. Ausbrüche wie diese seien ein Anzeichen, dass der gesellschaftliche Vertrag aus dem Gleichgewicht geraten sei.
Zum zehnten Jahrestag der „Riots" hat er eine Ausstellung konzipiert, die sich vor allem mit dem Aspekt der digitalen Kommunikation auseinandersetzt. Er sieht darin den Beginn einer neuen Ära, in der Protest neue Wege findet, sich zu formieren. Es sei kein Zufall, dass im selben Jahr der Arabische Frühling den Nahen Osten erfasste, der mehrere Regierungschefs aus dem Amt fegte, meint Akoto. In dieser Hinsicht sieht er die Unruhen von 2011 auch als Vorläufer heutiger Protest-Bewegungen wie Black Lives Matter und Extinction Rebellion. Die Werke der Ausstellung, die mit dem Smartphone an mehreren Schauplätzen der Unruhen im ganzen Land per QR-Code abrufbar sein werden, sollen dem Betrachter ein Gefühl davon vermitteln, wie die digitale mit der analogen Welt zum ersten Mal verschmolz.
Ob es seiner Meinung nach wieder zu Ausschreitungen wie im Jahr 2011 kommen wird? Das werde die Geschichte lehren, sagt Akoto. Die grundsätzlichen sozialen Verwerfungen im Land jedenfalls seien seitdem nicht behoben worden.
Auslöser sind die tödlichen Schüsse von Polizeibeamten auf Mark Duggan. Der 29 Jahre alte Mann aus Tottenham ist in einem Minicab als Fahrgast unterwegs, als eine Sondereinheit für organisiertes Verbrechen den Wagen stoppt. Die genauen Umstände des Vorfalls sind noch immer umstritten. Nach Angaben der Polizei ist Duggan mit einer Waffe unterwegs, die er womöglich einsetzen will. Seine Familie bestreitet das. Tatsache ist, dass eine illegale Waffe nicht weit von dem Ort gefunden wird, an dem Duggan stirbt.
Doch was für die Menschen in Tottenham damals mehr zählt: Ein Mann mit irisch-jamaikanischen Wurzeln wird von Polizisten getötet. Der Labour-Abgeordnete für den Londoner Stadtteil, David Lammy, bringt es in einem „Guardian"-Interview einmal so auf den Punkt: „Um es deutlich zu sagen: Todesfälle in Polizeigewahrsam haben eine Tradition in Tottenham."
Die Wut der Straße entlädt sich nur zwei Tage später, am 6. August, und richtet sich gegen alles, was sich ihr in den Weg stellt. In erster Linie werden Polizisten angegriffen, doch auch Geschäfte werden geplündert und in Brand gesteckt. Die Gewalt breitet sich rasch auf andere Londoner Stadtteile und dann auf weitere Großstädte in ganz England aus. Ganze Straßenblöcke brennen aus. Etwa Hundert Familien verlieren ihr Zuhause.
Eine wichtige Rolle dabei spielen Soziale Medien, über die sich die Randalierer koordinieren. „Wir hatten nicht die richtige IT, um soziale Medien zu durchsuchen. Das haben wir vorher nie gebraucht", sagte einer der damals führenden Polizeibeamten einem Filmteam des „Guardian" im Jahr nach den Ausschreitungen. Dadurch sind die oft mit Kapuzen vermummten Krawallmacher der Polizei oft einen Schritt voraus. Sie spielen Katz und Maus mit den Beamten, die sich oft nur noch zurückziehen können.
Die Ausschreitungen versetzten ganze Stadtviertel in Angst und Schrecken. In Teilen der Stadt bilden sich Bürgerwehren, die beispielsweise vor Sikh-Tempeln oder türkischen Geschäften Wache schieben. „Wenn ich abends ins Bett ging, hatte ich immer einen Hammer griffbereit, weil ich Angst hatte, sie könnten auch in unsere Straße kommen", erzählt der 45-jährige John, der nicht weit von Woolwich lebt, einem der Zentren der Unruhen im Südosten Londons.
Sowohl der damalige Bürgermeister Londons Boris Johnson als auch der damalige Premierminister David Cameron brechen ihre Familienurlaube vorzeitig ab und reisen in die Hauptstadt. Doch Johnsons Versuche, sich als starker Mann zu präsentieren, gehen schief: Bei einem Ortsbesuch in einer der betroffenen Straßen muss er sich sowohl von Anwohnern Vorwürfe anhören, die sich nicht von der Polizei beschützt fühlen, als auch von den Unterstützern der Familie von Mark Duggan. „Es ist Zeit, dass die Leute, die sich an Plünderungen und Gewalt beteiligen, aufhören, soziale oder ökonomische Rechtfertigungen vorzubringen", ruft er in die Menge, doch seine Stimme ist kaum zu hören.
Die Sicht Johnsons, dass es sich vor allem um Kriminelle handelt, die aus einem Moment der Rechtlosigkeit Profit schlagen wollen, verfestigt sich weitgehend in der Darstellung der Medien und der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit. Doch so einfach ist es nicht, findet der Künstler Baff Akoto. Er sieht in den Unruhen eine Fortsetzung von gewaltsamen Aufständen, die weit zurückreichen und ihre Gründe in tiefen sozialen Verwerfungen haben. Er verweist auf die Streiks der Bergarbeiter in den 80er Jahren bis hin zu den Gordon-Riots im 18. Jahrhundert. „Das ist eine sehr britische Sache", sagt Akoto. Ausbrüche wie diese seien ein Anzeichen, dass der gesellschaftliche Vertrag aus dem Gleichgewicht geraten sei.
Zum zehnten Jahrestag der „Riots" hat er eine Ausstellung konzipiert, die sich vor allem mit dem Aspekt der digitalen Kommunikation auseinandersetzt. Er sieht darin den Beginn einer neuen Ära, in der Protest neue Wege findet, sich zu formieren. Es sei kein Zufall, dass im selben Jahr der Arabische Frühling den Nahen Osten erfasste, der mehrere Regierungschefs aus dem Amt fegte, meint Akoto. In dieser Hinsicht sieht er die Unruhen von 2011 auch als Vorläufer heutiger Protest-Bewegungen wie Black Lives Matter und Extinction Rebellion. Die Werke der Ausstellung, die mit dem Smartphone an mehreren Schauplätzen der Unruhen im ganzen Land per QR-Code abrufbar sein werden, sollen dem Betrachter ein Gefühl davon vermitteln, wie die digitale mit der analogen Welt zum ersten Mal verschmolz.
Ob es seiner Meinung nach wieder zu Ausschreitungen wie im Jahr 2011 kommen wird? Das werde die Geschichte lehren, sagt Akoto. Die grundsätzlichen sozialen Verwerfungen im Land jedenfalls seien seitdem nicht behoben worden.
Kommentar
Allgemeine Zeitung
Zu diesem Artikel wurden keine Kommentare hinterlassen