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Zwischen Heimweh und Schaffensdrang
Zwischen Heimweh und Schaffensdrang

Zwischen Heimweh und Schaffensdrang

Joseph Diescho gilt als einer der eloquentesten unabhängigen Politologen Afrikas. Dass er, wie die meisten Afrikaner, in einem Dorf aufgewachsen ist, in dessen Umgebung es keine Teerstraßen und Supermärkte gab, in dem die Kinder barfuß liefen und Ziegen hüteten - das sieht man dem gebildeten Namibier mit der weltmännischen Art heute nicht an. Er habe Glück gehabt - und göttlichen Segen, glaubt der 51-jährige Professor und Inhaber zweier Doktortitel.

Wenn Professor Dr. Joseph Diescho das Podium betritt, dann krempelt er sich immer zuerst mit Bedacht die Ärmel auf. Es sieht aus, als wolle er aufräumen. Es vergehen ein paar Sekunden in andächtiger Stille, das Auditorium schaut ihm beim Ärmelaufkrempeln zu, dann beginnt er zu sprechen. Mit sanfter Stimme, konzentriert, und wenn er ein Papier dabei hat, dann schaut er nicht drauf, kein einziges Mal während seiner Stehgreifrede.

Wenn der gebürtige Namibier zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen nach Windhoek reist, dann sind die Säle immer brechend voll. Neulich erst hat er auf Einladung der UNAM Socratic Society im Auditorium der Windhoeker Universitätsbibliothek zum Thema "A National Identity in Namibia" gesprochen. Die Organisation Forum for the Future lädt ihn regelmäßig zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen ein. Diescho spricht über die parlamentarische Zukunftsvision für das unabhängige Namibia im Jahr 2030, und darüber, wie weit das Land noch von der Realisation seiner politischen Ziele entfernt ist. Diescho spricht über die Krise in der politischen Führerschaft Afrikas und in der ganzen Welt. Diescho kritisiert die "politics of the belly", den Nepotismus und die Vetternwirtschaft in Namibia. Er bedauert den Mangel an demokratischem Denken und Handeln, er warnt vor Korruption und einem politischen System, das so viele Afrikastaaten in den Ruin getrieben hat. Er ermutigt jede zivilgesellschaftliche Bemühung um mehr Gerechtigkeit, Entwicklung und Bekämpfung der Armut. Manchmal beginnt er zu predigen. Nicht als Gottesmann, sondern als ein Mann, der an Gleichheit, Demokratie, "good governance" und die Möglichkeit eines lebenswerten Lebens für Alle glaubt.

Ein Politiker, wie man sich ihn wünscht

Es sind keine abgedroschenen Phrasen, wie sie Politiker wiederkäuen. So, wie er spricht, ruhig und besonnen, redegewandt und mit Humor, mit Verständnis für die Schwächen der "Großen", die vielen Versuchungen, denen politische Entscheidungsträger ausgesetzt sind - man muss ihm einfach glauben. Joseph Diescho ist der integere und idealistische Charakter, den man sich für einen Politiker wünscht. Dass er keiner ist, leuchtet ein. Um in die Politik zu gehen, sagt Diescho, das habe er während seines Theologiestudiums in New York erkannt, müsse man - im Dienste der Macht - unehrlich sein; die Fähigkeit haben, andere zerstören zu wollen um nach Oben zu kommen; und sich damit abfinden, dass Gewalt eine Methode der politischen Machtausübung ist. "Ich glaube nicht an diese Werte", so Diescho im Interview mit WAZon, "deshalb würde ich keinen guten Politiker abgeben."

Aber er liebt es, Politik zu analysieren. Er blickt in die Zukunft, und lässt einen erschauern und gleichzeitig hoffen. Er blickt zurück in die Vergangenheit, auf die Tage der Apartheid, und hin und wieder hört man seiner Stimme ein wenig Wut an, aber meistens ist sie versöhnlich, verständig, und sie lässt sein vorwiegend schwarzes Publikum über die schweren Zeiten lachen. Manchmal erzählt er, der mehrfache Romanautor, erzählt Anekdoten aus seiner Kindheit. Von dem Tag etwa, an dem er sein erstes Paar Schuhe bekommen hat. Sie waren gelb und viel zu groß, aber er war der King im Dorf.

Lieber Schule als Ziegen hüten

Diescho wurde am 10. April 1955 in Diyogha, einem kleinen Dorf in der Nähe von Andara in der Kavango-Region geboren. Seine Mutter starb, als er neun Jahre alt war. Während der trauernde Vater "versuchte, sich selbst zu finden" (O-Ton Diescho), war der Neunjährige verantwortlich für seine Schwester und zwei jüngere Brüder. Der Kleinste war gerade mal ein Jahr. "Ich musste meinem Bruder das Essen vorkauen und ihn aus meinem Mund füttern", erzählt Diescho im WAZon-Interview. Es gab keine Milch für den Kleinen, solange nicht, bis eine Tante das Baby zu sich nahm. Gegen den Willen des Vaters marschierte der Junge täglich zur mehrere Kilometer entfernten katholischen Missionsschule in Andara. Oft mussten die Missionare ihm Unterkunft gewähren, denn der Vater hatte "ein Problem damit", dass Joseph die Schule dem Viehhüten vorzog.

Heute ist Joseph Diescho Doktor der Philosophie und Literatur. Er war der jüngste Empfänger dieses Doktortitels in der Geschichte der University of Fort Hare in Südafrika im Jahr 1987. Er studierte Afrikanische Politikwissenschaften an der Hamburger Universität. Bei weiteren Studien an der Columbia University in New York erwarb er zwei Magister sowie einen Doktortitel für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen. Er studierte auf Lehramt am Teachers College der Columbia University und Theologie am Union Theological Seminary, New York. Heute ist er als Seminarleiter für Strategisches Management und afrikanische Führungskräfte international gefragt. Er hielt Professuren inne, beriet Minister und Manager, schrieb Reden für Nelson Mandela und Südafrikas Präsidenten Thabo Mbeki.

Eine Karriere, die an den amerikanischen Traum erinnert: Vom Tellerwäscher zum Millionär. Ihm sei selbst nicht ganz klar, wie das alles zustande kam, sagt Diescho. "Ich glaube, ich hatte großes Glück. Ich kann nicht behaupten, dass ich härter gearbeitet habe, als andere Kinder, die talentierter waren." Es seien "unzählige Segnungen von Oben und das Wohlwollen der Ahnen" gewesen, die ihn dahin gebracht hätten, wo er heute ist. Und Lehrer, insbesondere weiße Lehrer, die an ihn geglaubt hätten. Ludwig von Lühlsdorf, römisch-katholischer Priester in Andara, und die Ärztin Dr. Maria Fisch hätten die "erste Saat der Neugierde zum Lernen" in ihm gesät, sagt Diescho. Frau Dr. Fisch war es, die ihn einst auf eine Fahrt aus Andara heraus mitnahm, ihm ein Einkaufszentrum und geteerte Straßen zeigte. Das nahm ihm die Furcht davor, fortzugehen und sich mehr Wissen anzueignen, erinnert sich Diescho heute.

Er hatte sich geschworen, seine Wohltäter nicht zu enttäuschen. Und das war gewissermaßen eine Entschädigung dafür, dass er die unausgesprochene Vereinbarung an der Missionsschule von Andara nicht einhielt: später einmal das Priesteramt zu übernehmen. Sein Interesse an dieser Aufgabe habe er verloren, so Diescho, als ihm die vielen Widersprüche der Kirche bewusst wurden.

Träume von einem verlorenen Paradies

Nach der Grundschulausbildung in Andara legte Diescho auf der Rundu Secondary School sein Matrik ab. Ein Stipendium ermöglichte ihm das Jura- und Politikstudium an der Universität von Fort Hare, damals der einzigen Hochschuleinrichtung für Nicht-Weiße in Südafrika. Hier engagierte er sich aktiv in der Studentenpolitik - zu jener Zeit wurde der Grundstein für die heutige Studentenorganisation NANSO gelegt -, wofür er im damaligen Apartheidsstaat inhaftiert wurde. Später, als Studentenführer der African Students Organisation an der Columbia University, fungierte er als Berater für die Vereinten Nationen, als die UN-Resolution 435 zur Unabhängigkeitwerdung Namibias verfasst wurde. Er war in den Vereinigten Staaten einer der präsentesten Vertreter wirtschaftlicher Sanktionen gegen das Apartheids-Südafrika. Zur Zeit ist er in Südafrika als unabhängiger Berater für Eskoms Entwicklungsprojekt für afrikanische Führungskräfte tätig.

Wie muss es sich anfühlen für diesen weitgereisten und vielbeschäftigten Mann, wenn er seinen Geburtsort besucht, das kleine Dorf in der Kavango-Region, in dem die Kinder immer noch barfuß den Ziegen nachlaufen? "Jeder Besuch im Dorf lässt intensive Erinnerungen aufleben", sagt er. "Meine Brüder können überhaupt nicht verstehen, weshalb ich immer meine Kindheitsfreunde besuchen möchte und sie mit Geschenken überschütte. Meine Freunde von früher sind meine Bibliothek, mein Museum, mein Archiv der Geschichte, die ich niemals vergessen möchte."

Joseph Diescho hat eine Vision: Eines Tages möchte er zurückkehren, und in seinem Heimatort ein Entwicklungszentrum errichten. Seine Besuche in Diyogha, sagt er, sind nie vollkommen, wenn er nicht nach diesem und jenem Lehrer oder Freund gefragt hat, und sein Grab besucht. "Ich gehe dort hin um die Augen zu schließen und sie zu sehen, so wie ihre Augen unter dem Sand geschlossen sind, und mich dennoch sehen können. Dann will ich weglaufen, so schnell wie möglich, weil es nicht zu ertragen ist. Ich will zurückkehren zu meinen überlebenden Freunden und wieder lachen. Ich will sie alle mitnehmen zu dem Platz, zu meinem Haus, in dem ich jetzt lebe, und ich will einfach weiter mit ihnen lachen und albern sein und den Frieden feiern, den wir einst hatten, und der nun nicht mehr ist."

Kommentar

Allgemeine Zeitung 2024-11-21

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